Beiträge von Lucius Claudius Cethegus

    Mit einem lauten Platschen wird das Floss zu Wasser gelassen. Schlamm wirbelt auf. Abgerissene Schlingpflanzen treiben davon. Umschwirrt von sirrenden Wolken von Moskitos beladen die Männer, die wenigen die Cethegus noch geblieben sind, das Gefährt. Zuletzt betritt Cethegus die schwankenden Planken. Grobe Seile und Lianen halten sie zusammen. Noch immer ist Cethegus entsetzlich schwach, wie ausgehöhlt vom Fieber. Bei jedem Schritt stützt er sich schwer auf Lycidas, krallt sich an dessen Schulter fest.

    Die Männer halten lange Bambusstangen in den Händen, sind bereit das Floss vom Ufer abzustossen. Sie erwarten Cethegus' Befehl. Er wendet sich gen Süden. Richtet sich zu voller Grösse auf und starrt aus entzündeten Augen auf den Fluss, dessen Wasser ihm unermüdlich entgegenströmt, sieht verschwommen die Wälder und Sümpfe, aus denen in dichten Schwaden der Dampf aufsteigt, die blauen Bergkämme in der Ferne, sieht den Horizont, der lockt, der hinter sich Cethegus' Ziel verbirgt. Das dunkle Land hat ihn geschlagen. Es zwingt ihn zur Umkehr. - Dieses Mal.
    Es schmerzt Cethegus, es schmerzt ihn so sehr, wie sein grosses, sein erhabenes und eines Nachfahren von Kaisern wahrlich würdiges Vorhaben, an all diesen banalen Kleinigkeiten scheitert... Am Regen. Am Fieber. An der Feigheit seiner Handlanger, deren bescheidene Geister nichts von wahrer Grösse wissen, die allesamt viel zu beschränkt sind um zu erkennen welche Ehre es ist, sich für Cethegus' Ruhm aufopfern zu dürfen.


    "Ich komme wieder."


    Ungerührt vernimmt es das unendliche Land. Nur eine kleine Welle klatscht spöttisch gegen die Planken. Cethegus wendet sich ab. Er sinkt auf eine Kiste, und knurrt den erwarteten Befehl.


    "Ablegen. Wir kehren um."


    Die Stangen werden ins Wasser getaucht, das Floss in die Mitte des Stroms gestakt. Und schon ergreift es die Strömung mit starken Händen, und treibt die Eindringlinge geschwind flussabwärts, zurück in die Richtung aus der sie gekommen sind.

    Draussen, vor dem Zelt, in dem verkommenen Lager inmitten endloser Sümpfe, wegloser Wälder und menschenmordender Wildnis, verharren die letzten Männer der Karawane. In Moder und dampfender Feuchtigkeit, knöcheltief im Schlamm. Der klägliche Rest dieser einst so stolzen Expedition, die wenigen, die noch nicht weggelaufen oder weggestorben sind. Ein paar Träger die zu schwach sind um sich auf den Rückweg zu machen, und zwei Aufseher, die zu viel Angst vor den Wäldern haben - einer mit grindiger Haut, wie ein Aussätziger, der andere fahl und entkräftet von der Ruhr. Gereizt, mit stierem Blick hocken sie unter einem Dach aus Schilf und vertreiben sich die Zeit mit manischem Würfelspiel, laut fluchend und schimpfend.
    Auch Lycidas spielt mit. Stumm natürlich. Der kleine Sklave hat das Zelt mit dem dahinsiechenden, delirierenden Claudier verlassen. Wenn der Tod kommt, um den Herrn zu holen - was zweifelsohne bald geschehen wird - will der junge Lyder nicht im Weg sein, nicht von ihm gestreift werden.
    Der vierte in der Runde ist Nyati, der büffelstarke Libyer. Er wartet darauf, dass der verrückte Mzungu stirbt, dann wird er all sein Gold nehmen, damit nach Meroë gehen und ein gemachter Mann sein.
    Regentropfen klatschen auf das Schilfdach. Die Würfel klappern. Nyati hat eine Glückssträhne, der Grindige schuldet ihm mittlerweile schon auf Lebenszeit seinen Lohn. Auf einem Stück Rinde vermerken sie die Spielschulden ganz genau.


    Ein Geräusch aus Richtung des Zeltes lässt die Männer aufsehen. Die lederne Plane des Zelteinganges schwankt, schabt leise gegen einen Pfosten, wird dann beiseite geschoben. Schnell schlägt Lycidas das Schutzzeichen gegen den Hauch des Todes. Und tatsächlich sieht Cethegus, der nun im dunklen Dreieck des Zelteinganges erscheint, wie der wandelnde Tod aus. Die Haut ist kalkig, mit einem Stich ins Gelbe, sie spannt über den hohlen Wangen. Ausgezehrt ist die ganze Gestalt. In den Augen, tief in den dunklen Höhlen liegend, brennt ein Feuer, nicht länger vom Fieber, kalte claudische Wut ist es die die Flammen nährt.


    "Pack!" krächzt Cethegus mit brüchiger Stimme, als er ins Freie tritt. "Ihr Bastarde räudiger Strassenhunde! Niederes Gesindel! Da sitzt ihr und würfelt während ich mit dem Tod ringe! Pflichtvergessenes Gewürm! Euch allen werde ich das Fleisch von den Knochen peitschen lassen und euch den Krokodilen zum Fraße vorwerfen..."


    Die Würfel entgleiten der Hand, die sie schüttelte, rollen unbeachtet in den Schlamm, als die Männer aufspringen. Erschrocken starren sie auf den Claudier. Erschrocken weniger von dessen, doch eher leeren, Drohungen, als von dessen Wiederaufleben nach dem Wechselfieber. Er muss wohl mit den Daimonen der Unterwelt im Bunde stehen. Ohne zu säumen wirft Lycidas sich seinem Herrn zu Füssen, setzt dessen Fuss auf seinen Nacken. Cethegus hält sich mit entfleischter Hand am Eingangspfosten des Zeltes fest, und sieht sich um. Nach rechts, nach links. Sein Blick umfasst das verlassene Lager. Wut wandelt sich in Bestürzung.


    "Wo ist der Rest? Die Männer, die Vorräte..."


    Die verbliebenen schweigen. Bis Nyati, mit schwerem Akzent, Antwort gibt.


    "Fort, Bwana Claudius. Manche sind den Fluss hinuntergegangen, und manche sind zu den Ahnen gegangen. Manches haben sie mit sich getragen, und manches ist verdorben, und manches hat der Fluss genommen."


    Cethegus' Gesicht verzieht sich, wird zu einer geifernden Fratze der Wut. Meuterei! Verrat! Lycidas zu seinen Füssen ist zwar kein schuldiges aber dafür ein naheliegendes Opfer - Cethegus tritt ihn, wieder und wieder. Allerdings ganz kraftlos, es schmerzt den Sklaven kaum. Und gegen Demütigungen ist der Junge mehr als abgehärtet. Er lässt es gleichmütig über sich ergehen, erhebt sich dann wieder und stützt seinen Herrn, der nach diesem Zornesausbruch schon wieder der Ohnmacht nahe scheint.


    "Ein Floss..."


    Cethegus' Stimme ist ein raues Flüstern. Sein Kopf pendelt hin und her, dann heftet sein Blick sich auf das dicke Röhricht, beinstarke Bambusstämme die am Rande des Lagers wuchern, fast meint man, ihnen beim Wachsen zusehen zu können.


    "Wir brauchen ein Floss..."


    Mit einem Mal hebt er den Kopf und zugleich die Stimme, brüllt die noch immer reglosen Männer an, wettert und grollt wie eines der Gewitter, die hier so plötzlich aufziehen und sich sturzartig entladen.


    "Worauf wartet ihr noch?! Nehmt Äxte und Seile, kappt die Stämme und baut ein Floss aus ihnen! Sputet euch ihr faulen Säcke, oder ich reisse euch Abschaum, euch allen, eigenhändig die Eier ab und verfüttere sie an die Krokodile!"


    Da kommt Bewegung in die Szene. Gewohnt zu gehorchen, machen die Männer sich an die Arbeit, murren nur leise. Auf die Schulter seines kleinen Lieblings gestützt, schleppt Cethegus sich unter das Schilfdach. Dorthin lässt er sich Kissen bringen, dort lässt er sich eine heisse Brühe reichen, und von dort aus sieht er den anderen beim Arbeiten zu.

    Die alten Ägypter lehrten einst in ihren Tempeln,
    dass der Nil keine Quelle besitzt.
    Schon an seinem Ursprungsort, so sagten sie,
    sei dieser Strom so breit und mächtig
    wie andere Gewässer erst an ihrer Mündung.
    Fern im Mittagsland entspringe er
    einem tiefen Abgrund zwischen den Bergspitzen,
    wo Hapis der Segenspendende,
    der Sohn von Sonne und Wolken,
    vom Himmel niedersteigt.
    -'Ich, Aras, habe erlebt'



    Endloses, glitzerndes Blau erstreckt sich vor Cethegus, köstlich klare Fluten, in die er begierig hinein watet. Feiner Sand unter den Füssen, mild umschmeichelt das Wasser seine Beine. Und tiefer geht er, immer tiefer, lässt die Wasser Schmutz und Krankheit, Last und Makel von sich spülen. Fein kräuselt sich die Oberfläche, die Wellen malen ein Muster von vielerlei Bedeutung, über ihnen flimmert und flirrt es so hell. Eine Gestalt erkennt Cethegus, vage, umsponnen von Licht erwartet sie ihn in der Mitte des Sees. Der Lockruf, der süsse Sang der ihn all die Zeit geführt und gefesselt hat, ihm die Sinne raubte, ihn betörte und umgarnte - von ihr geht er aus.
    Ganz taucht Cethegus ein, in die Wasser, fühlt Linderung, Befreiung, als er auf sie zu schwimmt. Quell des Lebens, zu ihr strebt er, nur zu ihr.
    Glasklar sind die Fluten die ihn tragen, um ihn und unter ihm funkelt es wie von Juwelen, als Fische vorüberziehen, mit geschweiften Flossen und seltsamen Formen, ein jeder in den prächtigsten und leuchtendsten Farben. Schöpfungen eines übermütigen Gottes oder Ausgeburten des Wahns. Jedes Detail kann Cethegus erkennen, jede einzelne feingezeichnete Schuppe, jeden Schwung der durchscheinenden Flossen. Oder sind es Flügel? Cethegus weiss um jede Welle, jede Regung des warmen Gewässers, die schroffen Felsen am Ufer und die Muscheln auf dem Grunde, die im Fleisch ihrer halbgeöffneten Schalen schimmernde Perlen bergen.
    Nun endlich hat Cethegus die Mitte des Sees erreicht. Wendet das Gesicht ihr zu, der Hüterin aller Geheimnisse, doch er kann sie nicht sehen. Zu sehr blendet ihn das Gespinst von Licht. Sie erkennen will Cethegus, sie begreifen, Unsterblichkeit trinken! Er blinzelt, beschirmt die Augen mit der Linken. Streckt dann die Rechte aus, voller Gier. Ergreift den Schleier und reisst ihn mit einem Ruck zur Seite.

    Klebriger Schweiss tränkt das Laken, das um Cethegus fieberglühenden Körper geschlungen ist. Er wälzt sich hin und her, auf seiner Lagerstatt. Das Wechselfieber wütet in ihm, wie ein Raubtier schlägt es seine Klauen in hinein, wühlt in seinen Eingeweiden. Schwüle Hitze herrscht im Zelt, und der Regen, der ewige Regen platscht auf das Dach, unterspült die Pfosten, weicht den Boden auf.
    Der junge Lycidas hockt auf einem Schemel neben seinem Herren. Er gibt ihm zu trinken und Arznei. Er legt ihm kaltgetränkte Tücher auf wenn das Fieber auflodert, und stopft Decken um ihn wenn ihn der Schüttelfrost packt. Lycidas hofft, dass sein Herr überlebt. Zwar würde er ihm den Tod gönnen, und das von Herzen, doch natürlich will er nicht alleine bleiben mit den Trägern und Wächtern. Hier, so tief in diesem fremden tödlichen Land. Ohne Schutz.
    Das Lager ist am Rande eines Sumpfgebietes errichtet, das sich gen Süden erstreckt, endlos und unwegsam. Ein trügerisches Mosaik von Tümpeln, Seen, Morast, verpestete Fieberdünste. Wie soll man da noch den Lauf des Flusses verfolgen? Seit Cethegus krank ist - und ebenso die meisten seiner bewaffneten Begleiter - sind immer mehr der Träger verschwunden. Keine offene Meuterei hat es gegeben, sie sind einfach nach und nach verschwunden, haben den verrückten Mzungu zurückgelassen. Viel Ausrüstung und Proviant haben sie mitgenommmen.


    Cethegus bäumt sich auf. Sein Gesicht ist schmal geworden, rote Flecken zeichnen sich auf der bleichen Haut ab. Tief umschattet liegen die Augen in den Höhlen, das Haar klebt ihm an der nassen Stirn. Nicht einen Bissen kann er mehr bei sich behalten. Sein Bauch schmerzt, ist hart geschwollen an den Flanken. Sein Urin war gestern schwarz verfärbt. Cethegus findet den Gedanken sterben zu müssen sehr befremdlich!
    Die Quellen rufen ihn noch immer. Lockend schlingen sie ihre Bande um ihn. Wispern von Unsterblichkeit. Er starrt zum Ausgang des Zeltes. Verschwommen nur erkennt er einen fahlen Streifen von Tageslicht. Sein Blick irrt umher, findet Ruhe auf den Zügen Lycidas'. Klassische Schönheit. Kaum entstellt, mehr geadelt durch die Entbehrungen der Reise. Cethegus' Augen trinken den Anblick. Ein Stück Ausgewogenheit, lichte Harmonie, ein Bollwerk gegen das wuchernde, wimmelnde, kriechende Chaos dass diesen Kontinent erfüllt. Das ihn in die Knie zwingen will. Zwingen wird... Ein Claudier gibt nicht auf. Doch Cethegus' Kräfte schwinden. Sie sickern aus ihm heraus wie aus einem lecken Gefäss. Das Land, die Finsternis. Es wird ihn nicht mehr fortlassen.
    Mühsam formuliert er die Worte, mit brüchiger, krächzender Stimme die ihm selbst hässlich in den Ohren klingt. Aber noch immer lodert darin, ungebrochen, die Gewissheit seiner Grösse.


    "Hol etwas zu schreiben. Briefe. Ich muss Briefe schreiben. Du kehrst zurück, Lycidas. Mit den Briefen. Nyati soll Dich begleiten, und ... wer ist denn überhaupt noch da?.... Meine Karten und die Sammlung, bring sie zum Museion. Die Welt soll erfahren was dieses dunkle Land in seinem Innersten verbirgt. Welche Wunder. Welche Schätze und Scheusslichkeiten. Welches Unbegreifliche... Und sie sollen wissen wie Lucius Claudius Cethegus mit dem schwarzen Kontinent gerungen hat, um ihm seine Geheimnisse zu entreissen!"


    Lycidas neigt untertänig den Kopf und gehorcht. Cethegus diktiert ihm die Worte des Briefes.


    "Schreib. An Galeo Claudius Myrtilus. Einen letzten Gruss Dir mein Vater. Ich ringe mit dem Tod. Aus dem tiefsten Libyen, von jenseits des Reiches von Meroe, sende ich Dir diese Zeilen. Ausgezogen bin ich die Quellen des Nils zu finden, habe Katarakt um Katarakt überwunden, und gefunden habe ich ein Land von ungezügelter Wildheit und von Barbarei, absoluter Barbarei in den Steppen und Wäldern und den Herzen der wilden Menschen... Es weiss seine Geheimnisse zu wahren, und es rächt sich nun an mir, seinem Entdecker.
    Wisse dass Dein Sohn vor keiner Entbehrung und keiner Herausforderung je zurückschreckte. Du hast mich nach Achaia verbannt, mir damit unsägliches Unrecht getan. Und nicht nur mir. Es heisst im Angesicht des Todes überkäme einen die Milde, doch mein Zorn ist noch ebenso glühend wie an dem Tage da Du gewaltsam auseinanderrissest was zusammengehört. Ich habe aufgehört an die Götter zu glauben. Diese Kindereien sind eine Beleidigung für jeden gebildeten und vernünftig denkenden Mann. Göttliches vermag ich nur in meiner Seele zu finden. Du jedoch hast sie zerrissen, wolltest Animus und Anima zu einem fahlen Schattendasein verurteilen, in aschenem Exil, fern jeder Freude, fern ihrer Bestimmung. Was Dich zu diesem Verbrechen verleitete, darüber habe ich oft nachgesonnen. Tyrannische Ignoranz. Oder nur ein kleinliches Bestreben die Form zu wahren, koste es auch das Glück - das einzige und wahre - Deiner Kinder.... -
    Lycidas. Schreib ihm ausserdem von der Reise, meinen Entdeckungen, den Namen die ich den Bergen und Strömen verliehen habe..."


    Cethegus lehnt sich zurück, ausser Atem, erschöpft von dem Zorn der, der Fieberglut gleich, wieder in ihm aufbrandet. Er hasst seinen Vater. Inbrünstig. Dessen ist er sich sicher. Und doch... er wünschte, Myrtilus würde ihn verstehen, ihm vergeben, und vor allem verstehen warum er nicht anders kann!


    "Ich will nicht, ich muss wollen!"


    Ihn schwindelt. Der Mund ist trocken, die Zunge pelzig, sie will nicht mehr gehorchen. Lycidas streut Sand auf die Zeilen. Mit Grazie reicht er Cethegus dann einen juwelenbesetzten Becher, kein Wein ist darin, der ist längst ausgegangen, nur Wasser mit sumpfigem Geschmack. Der Becher ist viel zu schwer. Cethegus Hände zittern, er verschüttet Wasser über sich. Lycidas hilft ihm, setzt ihm den Becher an die Lippen, lässt ihn den ausgedörrten Mund benetzen.


    "Schreib. Animula mea.....Callista....."


    Langsam trübt es sich vor Cethegus' Augen. Driftet immer weiter fort. Lycidas neigt sein Ohr zu seinem Herren, versucht aus dessen Murmeln die Worte herauszuhören. Formen verschwimmen, die Zeltbahnen wabern, Farben schweben langsam durch den Raum. Tropfen lösen sich, Cethegus Umgebung verblasst, verflüchtigt sich, wird fortgeschwemmt vom Regen wie Farben von einem nassen Fresko. Er erhebt sich - die Schmerzen sind weit fort, nur mehr ein Echo das verklingt - und folgt dem Ruf.


    Da ist er. Der See.
    Er erkennt ihn sogleich. Der alte Abessinier sprach doch von ihm.
    Der Quell des Lebens. Endlich am Ziel!

    Regen... es regnet ohne Unterlass. Den Himmel decken schmutziggraue Schlierenwolken. Die Tropfen trommeln auf das Blattwerk, durchnässen alles, weichen den Boden auf. Knöcheltief waten die Träger durch den Schlamm. Alles ist feucht, bedeckt von Erde, Schimmel, Moder.... Der Geruch der Fäulnis ist allgegenwärtig.
    Inzwischen hat Cethegus sich einen Tragesessel bauen lassen. Die langen Bambusstangen liegen federnd auf den nassen Schultern der Schwarzen, ein Dach aus Palmwedeln geflochten bietet ein wenig Schutz vor dem Regen. Aus rot entzündeten Augen starrt Cethegus auf die vorüberziehende Umgebung. Wald. Wasser. Morast. Schmutz. Wald. Wasser. Schlamm. Endlos immergleich. Es ist als würden sie auf der Stelle treten. Ein Traum hat ihn umfangen, ein Traum der ihn niemals loslassen wird. Er zieht die klamme Decke über sich, krallt die Finger in den feuchten Stoff als ihm ein Fieberschauer durch die Glieder fährt. Wald. Wasser. Schlamm. Alles trieft vor Nässe. Cethegus Zähne schlagen aufeinander. Er presst die Kiefer zusammen. Die Träger waten durch einen Nebenarm, hüfttief im Wasser. Algen winden sich in den trüben Fluten.
    Auf einmal ein Schrei. Einer der Männer stürzt, die Hand auf die Brust gepresst. Ein kleiner, unscheinbarer Pfeil ragt da heraus. Die Ballen, die er auf dem Kopf getragen hat, billiger Stoff um mit den Eingeborenen Tauschhandel zu treiben, rutschen ins Wasser und treiben davon, sanft schaukelnd, während sie sich langsam vollsaugen. Ein leises Sirren, und noch ein Träger geht in die Knie, die Tragestange rutscht herunter, Cethegus' Gefährt bekommt Schlagseite und platscht ins Wasser hinein. Blinzelnd rappelt er sich auf, völlig durchnässt, starrt zum Ufer, der dunklen, schweigenden Wand des Urwaldes. Das Fieber kocht in ihm, kaum tragen in die Beine. Grüntöne, wirr verknotete Lianen, wucherndes Blattwerk starren zurück. Der Regen fällt stetig. Woher kamen die Pfeile? Niemand ist zu sehen. Ist das alles wahr oder träumt Cethegus nur einen wirren Fiebertraum? Er watet, von unsichtbaren Fäden gezogen, auf das Ufer zu.


    "Kommt heraus! Zeigt euch! Ich will euch ins Gesicht sehen!"


    Er brüllt, wie von Sinnen. Fordert das Land heraus. Seine Stimme ist heiser.


    "Zeigt euch!"


    Der Wald schweigt. Nur der Regen fällt stetig, legt einen grauen Schleier über das Geschehen. Einer der Getroffenen stirbt an Ort und Stelle, der andere am Abend. Er krepiert elend. Es war Gift an dem Pfeil.

    Seit Wochen nichts als Wald. Dichtes Pflanzenwerk, Baumriesen durch deren Kronen kein Lichtstrahl dringt, überwuchert von Schlingpflanzen, würgenden Lianen und faulig riechenden Schwämmen. Fingerlange Dornen, gigantische Blätter - alles ist immens. Und feucht, von einem glitschigen Nässefilm überzogen. Ewig tropft das Wasser von den Blättern. Modrig federt der Boden bei jedem Schritt. Durch das Dämmerlicht kämpft die Karawane sich vorwärts. Mit Hackmessern wird der Weg in das Dickicht geschlagen, jeder Schritt muss der Natur abgetrotzt werden.
    Die Parasiten sind eine Qual. Daumendicke Blutegel finden jedes freie Stück Haut. Die Stiche der Mücken schwellen zu roten Beulen. Cethegus fühlt sich fiebrig. Die üblen Miasmen strömen bei jedem Atemzug in ihn ein. Das Land wehrt sich gegen ihn, seinen Entdecker, es will seine Geheimnisse nicht preisgeben.
    Heiss ist die Stirn, leicht der Kopf. Ein feiner Schleier trübt seine Sicht. Doch er tut es ab und marschiert weiter, starrsinnig und unbeirrbar, seinen Männern ein Vorbild.


    Von denen sind einige krank. Fieber und Durchfall entkräften sie. Rote Ausschläge erblühen über Nacht auf schweissiger Haut.
    Den einheimischen Trägern ergeht es besser. Doch seit dem Vorfall an den Wasserfällen hat Unruhe bei ihnen Einzug gehalten. Sie murmeln untereinander. Sie wenden den Blick zur Seite vor Cethegus. Dunkle Hände formen abergläubische Zeichen wenn er naht. Einige sind schon geflohen, des Nachts, haben Proviant und Tauschwaren mitgehen lassen.
    Primitive! Bornierte! Stumpfsinnige Wesen! Einige Ausreisser haben seine Leute wieder eingefangen, und er hat ihnen das Fleisch vom Rücken peitschen lassen. Milde ist Schwäche in den Augen dieser Wilden, da muss er hart durchgreifen


    Den Weg zu finden ist nicht leicht. Sümpfe und Nebenarme erschweren es, den Lauf des grossen Stromes zu verfolgen. An einer Stelle hat der Fluss sich gegabelt. Ebenbürtig waren sich die beiden Flussarme an Grösse und Macht, und lange war Cethegus unschlüssig. Dann hat er sich für den westlicheren entschieden. Klarer schien ihm dort das Wasser, deutlicher zu vernehmen der Ruf der Quellen. Zudem erwartet er schon lange, dass der Nil einen Bogen gen Westen macht. Denn Herodot hat das so beschrieben. Durch das Herz von Libyen windet sich der Strom. In einem grossen Bogen. Um im Atlasgebirge zu entspringen.


    Doch bisher geht es südwärts, immer weiter südwärts. Die Berge sind näher herangerückt. Wenn dies ein Teil des Atlasgebirges ist, dann zieht sich dieses wie ein gewaltiges Rückgrat quer durch Libyen, durch die grosse Wüste und das Reich der Garamanten. Cethegus wird es herausfinden. Die Wüstenstädte der kriegerischen Garamanten zu sehen reizt ihn schon lange.
    Doch vielleicht irrt Herodot. Ebenso Erathosthenes. Dann wird Cethegus sein eigenes Werk diktieren, und der Welt die Wahrheit vor Augen führen. Er wird es ihr widmen, und noch in vielen Generationen werden die Gelehrten seinen Namen ehrfürchtig im Munde führen. Unsterblich wird sein Ruhm sein.
    Schweiss sammelt sich an seinen Schläfen. Die Augen brennen. Er schliesst sie und kühlt seine glühende Stirn an einem Rinnsal, das von haarigen Blättern hinabfliesst. Das Fieber steigt.

    Da! Endlich. Ein gutes Stück flussabwärts durchbricht ein schwarzer Körper die Wasseroberfläche, schleppt sich an Land. Lycidas trägt er mit sich. Den Fluten entrissen klammert der Junge sich zitternd an seinen Retter.
    Cethegus atmet auf. Der Mensch hat das Element bezwungen. So soll es sein. Großzügig übersieht er für diesmal die Hautfarbe, und nickt dem Schwarzen geneigt zu, als er ihm den wohlverdienten Armreif übergibt.


    ~„Wie dein Name?“~


    Die Sprache dieser Leute ist von naivem, farbigem Wohlklang. Cethegus hat Freude an Sprachen, mag er sie für noch so primitiv befinden, und eignet sich auf seinen Reisen stets eifrig einen Grundstock von Worten an.


    ~„ Nyati“~


    Lächelnd betrachtet der Belohnte das Gleißen des Goldes an seinem nassen schwarzen Unterarm. Cethegus nickt. Wie allerliebst. Diesen beherzten Burschen wird er sich merken.
    Lycidas dagegen, durchnässt, verschreckt und bebend, bietet keinen erquicklichen Anblick. Zudem verunziert eine blutige Schramme seine schöne Stirn. Lädierte Perfektion. Der Anblick beleidigt Cethegus Augen. Er wendet sie ab und winkt Neanthes herbei.


    „Kümmere dich um sein Wohlergehen. Kümmere dich gut! Jedoch soll er nicht vor mich treten bevor er wieder präsentabel ist.“


    Bleibt noch das Desaster mit der Dhau. Zerschmettert liegt sie am Fuße der Felsen. Sie werden wohl oder übel zu Fuß weiterziehen müssen.


    „Auf! Nehmt die Kisten. Es geht weiter.“


    Cethegus gibt Zeichen zum Abmarsch. Er ist schon ein paar Schritt weit, als er merkt, dass die Träger ihm nicht folgen. Sie stehen zusammen und reden sich die Köpfe heiß. Der Grauhaarige scheint der Wortführer zu sein.


    „Auf, sagte ich! Was ist los?“


    „Bwana Claudius, die Männer fürchten den Zorn des Geistes der Wasser. Weil er um sein Opfer betrogen wurde. Sie wollen nicht weiter.“


    „Ach ja...?“


    Schneidend ist seine Stimme. Diese Männer sollten besser seinen Zorn fürchten.
    Cethegus‘ kalte graue Augen richten sich auf den Grauhaarigen. Der Geist will ein Opfer? Unvermittelt packt er den Unruhestifter, gibt ihm einen kräftigen Stoß, schleudert ihn von den Klippen in die Tiefe. Es geht sehr schnell. Dem Mann bleibt keine Zeit für einen Schrei, da reißt ihn schon das Wildwasser mit sich. Und diesmal springt keiner schnell genug hinterher.


    „Da hat er seinen Tribut, der Geist! Es geht weiter. Los, haraka haraka !“


    Von lachhaftem Aberglauben kann Cethegus sich doch nicht von seiner Bestimmung abhalten lassen.
    Die Träger starren ungläubig. Die Wächter legen die Hand auf die grausamen Peitschen in ihrem Gürtel. Cethegus geht einfach voraus, festen Schrittes. Ganz ruhig als wäre nichts geschehen. Das Bewusstsein seiner Unangreifbarkeit schützt ihn. Sein Größenwahn umgibt ihn wie ein Nimbus, eine leuchtende Aura der Vermessenheit.
    Und tatsächlich. Sie folgen ihm.

    Beinahe hat die Dhau, gezogen von einer Vielzahl kräftiger Männer, den oberen Rand des Felsensturzes erreicht, als mit einem mal eines der Taue reißt. Die Nässe hat es morsch werden lassen.
    Ein lauter Knall. Erschrockene Rufe. Das Schiff bekommt Schlagseite und gerät ins Rutschen. Wie eine Peitschenschnur saust das Seilende durch die Luft.
    Die Umstehenden springen zurück, auch Cethegus, der gerade von seinem Abstecher zurückgekehrt ist. Doch der junge Lycidas, ermattet von den Strapazen des Aufstieges, weicht nicht rechtzeitig aus. Das Tau erwischt ihn, schleudert ihn zurück, stößt ihn in die Tiefe, zu den Strudeln und Felsnadeln.


    „Nein.“


    Sein Schmuckstück! Sein Goldjunge! Dass das Schiff sich gerade ebenfalls verabschiedet, haltlos über die scharfen Klippen hinunter rutscht, die ihm den Rumpf zerschlitzen, kümmert Cethegus dagegen gerade viel weniger.
    Mit zusammengekniffenen Augen starrt er in das gefrässige Wasser hinab. Ganz kurz taucht in der Gischt ein blonder Haarschopf auf. Sogleich zieht Cethegus einen schweren Goldreif von seinem Handgelenk und hält ihn hoch.


    „Für den der ihn mir wiederbringt!“


    Ein breitschultriger Träger, so schwarz und kompakt als wäre er aus Ebenholz geschnitzt, grinst breit beim Anblick des Goldes und springt ohne Zögern in die tosende Flut. Andere, etwas weniger tollkühn, machen sich rasch an den Abstieg, klettern hinab und versuchen den Jungen vom Ufer aus herauszufischen.
    Gebannt verfolgt Cethegus, wie der Schwarze mit den Fluten ringt. Es ist ein Kampf nach seinem Geschmack. Das Element scheint unbezähmbar in seiner ungestümen Wut. Doch Stück für Stück arbeitet der Schwarze sich zu Lycidas vor. Der Junge zappelt panisch, versinkt, kommt wieder hoch. Da packt ihn der Schwarze mit festem Griff. Die beiden werden abgetrieben, stoßen gegen einen Felsen der dunkel aus dem Wasser ragt. Sind sie untergegangen? Cethegus kann sie nicht mehr sehen.


    Die Träger murmeln unter sich. Ein dürrer Mann mit grauem Kraushaar meint etwas und deutet mit bestimmter Geste auf die Wasserfälle.
    Unruhig geht Cethegus am Rand des Felsens entlang. Fragt dann den Dolmetscher:


    „Was sagt er?“


    „Der Geist des fallendes Wassers fordert hongo. Wegzoll. Tribut. Meint er.“


    „Humbug. Völliger Unfug!“


    Aberglaube. Kindliche Gewissheit, dass die Welt beseelt sei. Davon hält Cethegus nichts. Die Welt ist apeiron, unbegrenzter Urstoff und gestaltende Form. kosmos und logos. Das haben die klugen Griechen schon vor Jahrhunderten erkannt. Da braucht es weder Geister noch Götzen, die launisch sind, gierig, und in ihren Lastern den Menschen gleichen, die so irrig an sie glauben.
    Cethegus zumindest braucht keine. Er ist sich sein eigener Gott. Jedenfalls dann wenn seine Seelen vereint und mit sich eins ist.
    Die Augen mit der Hand beschirmend blickt er hinab ins Wasser. Hält gespannt Ausschau.

    Die Stimmen des Wassers haben sich verändert. Rau und unwirsch gurgeln die Fluten um den Rumpf der Dhau herum. Gischt treibt über die Wasseroberfläche, und spitze Steine ragen hervor. Heftig müssen die Männer sich in die Riemen legen. Von vorne ist ein dumpfes Dröhnen zu vernehmen. Stromschnellen.


    Verärgert über den Führer, der ihn - trotz angeblich hervorragender Ortskenntnisse - nicht warnte, degradiert Cethegus ihn zum Ruderer.
    Solang wie nur möglich lässt er die Dhau durch das unruhige Wasser vorwärtsrudern. Er selbst steht am Bug, spürt die Bewegung des Bootes unter seinen Füßen, das auf und ab des lebendigen Elementes. Unberechenbar und gefährlich. Scharfe Klippen verfehlen den Rumpf um Haaresbreite. Gischt nässt Cethegus‘ Gesicht. Erwartungsvoll sieht er dem Kommenden entgegen. Das sind Augenblicke in denen das Blut schneller durch seine Adern strömt. Köstlicher Kitzel der Sinne. Selten so erfüllend wie im Moment der Gefahr.


    Erst spät lässt er an Land gehen. Mit einigen Männern erkundet er das Gebiet. Mühsam bahnen sie sich den Weg durch den Urwald. Das Tosen wird lauter, schließlich ohrenbetäubend.
    Der Anblick als sie die Katarakte erreichen ist überwältigend. In unzähligen Wasserfällen stürzt der Fluss sich von hohen Felsen in die Tiefe. Die Sonne flirrt auf den schäumenden Wassermassen. Regenbögen tanzen über der Gischt. Cethegus fühlt sich inspiriert.
    Er lässt sich Zeichenutensilien reichen und schickt seine Begleiter aus, einen gangbaren Weg zur Überwindung der Felsen sowie zum Transport der Dhau zu finden. Oder zu schaffen.
    Derweil nimmt er auf einer Wurzel Platz und beginnt das Schauspiel zu skizzieren. Die weichen Bögen, die urtümliche Gewalt, das Toben und Brodeln des Wassers. Erhaben.
    Seine Zeichnung wird schön, doch sie vermag den Eindruck nur ungenügend wiederzugeben. Es ist ein Jammer.


    Bald darauf windet die Karawane sich einen schmalen Felsensims entlang. Die Träger schleppen die Kisten in denen sich seine Ausrüstung befindet, seine Notizen, die Sammlung an Kuriositäten, die Vorräte und die Dinge, die zum Tauschen bestimmt sind.
    Voll Elan schreitet Cethegus voraus. Wenig unter ihm tobt das Wasser. Während seine Leute das Schiff aus Schilf mit langen Seilen über eine schräge Felsfläche hinaufhieven, erklimmt Cethegus einen schroffen Gipfel.
    Von oben blickt er über die Wipfel der Bäume hinweg. Ein Meer von sattem Grün. Nebelfetzen hängen darüber. Der Nil mäandert wie ein glänzendes Band hindurch.
    Er wendet sich gen Süden, folgt dem in der Sonne schimmernden Lauf des Stromes mit dem Blick. Im leichten Dunst lassen sich Berge erahnen, sehr weit in der Ferne.
    Er spürt ein Sehnen, tief in der Brust. Der Lockruf. Unsterblichkeit. Seine Bestimmung harrt seiner. Kein Mensch hat vor ihm den Fuß hierher gesetzt. Zumindest keiner der zählt. Er verleiht diesem majestätischen Katarakt einen Namen: die „Kaiser-Nero-Fälle“. Am Abend wird er ihn auf seiner Karte verzeichnen.

    Tiefschwarz ist die Nacht. Samtig dunkel und unergründlich wie die Augen seiner Schwester. Ob es ihr wohl ergeht, in Alexandria?
    Vor seinem Zelt sitzt Cethegus am Feuer, in seinem Scherenstuhl, über den ein weiches Pantherfell gebreitet ist. Er ergänzt die Notizen des Tages und skizziert den Lauf ihrer Fahrt.
    Unablässig rauscht der große Strom, dringt von ferne der Lockruf der Quellen zu ihm. Dann ein lautes Platschen, eine dunkle Spur zwischen dem Teppich breiter Blätter, der das Wasser deckt. Sich kräuselndes Kielwasser. Cethegus sieht auf. Ein treibender Baumstamm oder ein Krokodil?
    Frech sind sie hier in der Gegend. Erst neulich hat eines von ihnen zwei der Sklaven geholt, die Cethegus auf der Reise erstanden hat. Gegen einen Ballen Stoff. Schade, sie waren recht ausgefallene Exemplare, mit ihrem Knochenschmuck in den Wangen.
    Er sammelt exotische Menschen auf dem Weg, ebenso wie interessante Tiere, Pflanzen und Begebenheiten. Der Wächter hat es büssen müssen. Seitdem sind sie aufmerksamer. Cethegus vertieft sich wieder in seine Notizen.


    Wie jeden Abend haben seine Träger sich versammelt, zum Trommeln und zu ihren seltsamen Rundgesängen. Urtümlich und monoton sind ihre Lieder. Anfangs fand er sie ganz reizvoll. Mittlerweile gehen sie ihm auf die Nerven.
    Überhaupt bringt er immer weniger Verständnis auf für diese schwarzen Eingeborenen. Gleichgültig und träge scheinen sie ihn, außer Stande auch nur einen Hauch von Verständnis für die Größe seiner Mission aufzubringen. Oder für seine Größe.
    Er winkt den Führer zu sich, und versucht, ihm etwas über den weiteren Weg zu entlocken. Doch der verliert sich in Vagheiten und Weitschweifigkeiten.
    Was soll man mit solchen Leuten anfangen? Wie gut dass wenigstens auf die Wächter Verlass ist.


    Fremd sind die Geräusche, die des Nachts aus dem Wald dringen. Cethegus reckt den Kopf, fährt sich über den Nacken. Ungeduld und Abneigung gegen die Primitivität seiner Umgebung drohen sein Gemüt zu verdüstern. Doch eines gibt es, was seinen Unmut stets zu klären vermag. Ein Kunstwerk, das ihn den ganzen Weg begleitet hat. Eine erlesene Köstlichkeit von apollinischer Schönheit. Eine Reminiszenz an Vollendung und Zivilisation.


    „Lycidas. Spiel für mich.“




    Der junge Sklave erscheint im Eingang des Zeltes, wo er seinem Herrn das Nachtlager bereitet hat. Mit der Anmut eines Tänzers schreitet er zum Feuer, die Lyra in den Händen. Zu Füßen seines Herren lässt er sich nieder. Gülden schimmert sein Haar, in vollendeter Ergebenheit sehen tiefblaue Augen zu Cethegus auf. Feinste Sommersprosse sind auf die makellosen Züge getupft. Grazil gleiten seine Finger über die Saiten. Zölestische Klänge schweben durch die tropische Nacht.
    Cethegus lehnt sich zurück, genießt Anblick und Spiel seines kleinen Virtuosen, der ihn ein ums andere mal zu verzaubern vermag.
    Schön und stumm ist Lycidas. Cethegus ließ ihm die Stimme rauben, als er ihn erwarb. Nicht die Zunge. Das wäre zu schade. Nur ein kleiner Eingriff an den Stimmlippen.
    Er hasst es nun einmal wenn wahre Schönheit durch geistloses Geplapper entstellt wird. Überhaupt bevorzugt er seine Sklaven stumm. Soviel Sklaven, soviel Feinde. Dass Lycidas Ergebenheit reine Heuchelei ist, und er seinen Herr in Wirklichkeit inbrünstig hasst, weiß Cethegus nicht. Es würde ihn aber nicht überraschen. Und da der Junge es nicht wagt sich aufzulehnen wäre es Cethegus auch gleich.


    „Sublim, mein Lycidas. Sublim.“


    Er greift in eine Schale neben sich, und reicht dem Sklaven zur Belohnung eine süße Traube. Der nimmt sie mit weichen Lippen aus Cethegus Fingern entgegen.
    Die überreizten Sinne des Claudiers sind nach diesem Genuss wiederum besänftigt. Er begibt sich in sein komfortables Zelt, um sich zur Ruhe zu legen. Beflissen streift Lycidas ihm die Stiefel ab, entkleidet ihn. Da gleitet jählings ein sich windender Schemen unter dem Reisebett hervor. Eine große schwarze Schlange.
    Kaltblütig greift Cethegus nach einer schweren Kalebasse und schleudert sie nach dem Tier. Zerschmettert bleibt es auf dem Boden des Zeltes liegen. Häßlich im Tod. Er hätte es besser fangen und seiner Schwester mitbringen sollen. Sie liebt doch alles was giftig ist. Eine Leidenschaft die er noch nie verstand. Und dieses Exemplar sieht giftig aus. Zu spät.
    Lycidas ist schreckensbleich.


    „Hol Neanthes auf dass er das entferne.“


    Der Schöne soll seine zarten Finger nicht mit dem Tod in Berührung bringen. Es geschieht wie befohlen. Ein grober Wächter beseitigt Kadaver und Spuren. Cethegus legt sich schlafen. Es war ein langer Tag. Und der Weg ist noch weit. Stille senkt sich über das Lager.

    „Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes,
    Welcher so weit geirrt...“
    - Homer, Odyssee



    Weit jenseits der Grenzen von Aegyptus, im äußersten Süden des Reiches von Kusch


    Dichte Schwärme von Insekten tanzen über der tiefgrünen Wasserfläche. Massen von Lotos und Wasserhyazinten bedecken die träge strömenden Fluten des Nils. Die Schwüle ist drückend, die Luft feucht wie in einer Waschküche. Mit lauten Surren schwankt eines der geflügelten Biester um Cethegus herum, lässt sich dann auf seinem Arm nieder. Zückt den Stachel, gierig nach seinem Blut. Unwahrscheinlich groß sind hier die Steckmücken, Dolchstiche scheinen ihre Bisse.
    Er erschlägt das Insekt mit der flachen Hand. Es hat sich heute schon gelabt. Ein Blutfleck bleibt zurück auf dem weiten Ärmel seines meroischen Gewandes. Er ist dazu übergegangen ihre Kleidung zu tragen, während seiner Reise durch ihr Gebiet. Sie ist praktischer in diesem Klima.


    Er tut einige Schritt am Ufer entlang und übersieht den Aufbau des Lagers zur Nacht. Angetrieben von seinen Wächtern mit den Nilpferdpeitschen ziehen die einheimischen Ruderer und Lastenträger die Dhau an Land, in der er zur Zeit unterwegs ist. Ein windiges Schiff, erbaut aus gebündeltem Schilfrohr, ohne einen einzigen Nagel. Kaum vertrauenserweckend scheint sie, und hat ihn doch schon unzählige Meilen den Strom hinaufgetragen. Den Nil, Urquell des Lebens. Zu seinen Quellen soll sein Weg ihn führen. Quell des Lebens, Quell der Unsterblichkeit.


    Ein langgehegter Traum. Cethegus wird ihn verwirklichen. Die Quellen finden. Den Ursprung des Seins. Wie lange ist es her, dass er Alexandria verließ? Die Stadt die ihm zur Heimat geworden, die Freunde und Feste, die nahen Jagdgründe, die Abende glückstrunkener Seligkeit an den Gestaden des Mareotisees... Alles was er liebt hat er dort zurückgelassen. Gleichermassen alle Verstrickungen und Schulden.
    Unermüdlich reist er den Strom hinauf. Treibt seine Leute zur Eile, gönnt sich keine Ruhe. Stromaufwärts immer stromaufwärts. Er wird sie finden, die Quellen. Muss sie finden. Im Rauschen des Stromes hört er ihren Ruf.


    Die Sonne verglüht hinter den Wipfeln der Bäume. Als eine undurchdringliche Mauer säumen sie den Flusslauf. Stelen, Dickicht, Luftwurzeln, umrankt von Schlingpflanzen und fleischig duftenden Blüten, Gewucher, wimmelndes feindliches Leben. Dunkelheit breitet sich über das Land. Auf der schrägen Fläche des Ufers werden nun große Feuer entfacht. Der Qualm soll die Insekten fernhalten.


    Weit ist Cethegus schon vorgedrungen. Fünf Katarakte liegen hinter ihm. Zum eintönigen Singsang der Träger ist er über ein Netz staubiger Steppenpfade gezogen, er verlor sich zwischen haushohen Bambuswäldern, überstand Entbehrungen und überlebte die Attacke eines erbosten Flußpferdes. Durch schnelle Flucht. Einen Angriff bizarr bemalter Stammeskrieger hat er dagegen mit seinen Wächtern abgewettert. Die Einheimischen hielten ihn wohl für einen Sklavenhändler.
    In Meroe, der glänzenden Stadt von Gold und Elfenbein, wo man Rom keine Liebe entgegenbringt, gab er sich darum als ein Händler aus Punt aus. Genug dieser Sprache lernte er auf seiner zweiten Reise, als er auszog, die Edelsteine der Herrscherin von Saba zu finden. Leider war ihm damals kein Erfolg beschieden. Die Grabkammer enthielt nur ein paar mürbe Gebeine. Doch in der Stadt der tausend Wunder hielt ihn keiner auf. Er verweilte aber nicht lange in Meroe. Der Ruf der Quellen lockt ihn unablässig.


    Die Zivilisation liegt nun weit hinter ihm. Nur hin und wieder stoßen sie noch auf einen Außenposten des Reiches von Kusch. Das Land ist Wildnis, tiefe Finsternis. Wälder, Nässe und Ungeziefer. Nachts dröhnen fern die Trommeln in den Wäldern. Sein Führer kennt sich nicht mehr aus, sein Dolmetscher versteht nicht die gemurmelten und geschnalzten Sprachen der Stämme. Kannibalen heißt es.
    Oft hat Cethegus davon gehört, wie dieser Kontinent den Geist des Erforschers zermürbt, ihn unmerklich zerrüttet bis er zerbricht. Doch er ist ein Nachfahre der großen Kaiser. Weite und Fremdheit schreckt ihn nicht. Wohl spürt er die schwarzen Zungen der Raserei über seinen Geist hinwegflackern. Doch sie werden ihn nicht aufhalten. Er muss weiter.


    In den Ruinen von Napata traf er einen abessinischen Reisenden, alt und sterbend, der ihm für eine Mahlzeit eine Legende erzählte. Von einem gewaltigen See im Herzen des Landes, inmitten unüberwindlicher Berge und undurchdringlicher Wälder. Paradiesische Schönheit, süßes klares Wasser in dem Fische wie leuchtende Juwelen schwimmen. Den wird er finden. Ihn auf einer Landkarte verzeichnen. Und natürlich wird er ihn nach ihr benennen.
    Cethegus‘ Träger verstehen nicht den Sinn seiner Suche. Sie nennen ihn „Mzungu“.
    Er hält das für eine Respektsbekundung. Sein Dolmetscher wagt nicht ihm zu sagen was es wirklich heißt: „Derjenige der herumirrt. Derjenige, der sich im Kreis dreht.“