Beiträge von Runhild

    "Lebt wohl, Söhne Wolfriks.", ging Runhild über die Lippen, als die Gruppe ihre Lichtung verließ, und sie wunderte sich sofort darüber, warum bei Loki sie das gesagt hatte. Bisher war ihre Abneigung gegenüber ihre eigene Sippe makellos gewesen, aber in letzter Konsequenz doch zu sehr gewollt, wie sie feststellen musste. Sie begriff, dass sie die Kontrolle verloren hatte. Sie hatte tatsächlich nicht den geringsten Schimmer, was ihrer Sippe bevorstand, und das ging ihr nicht aus dem Kopf.


    Just in dem Moment, als das letzte Pferde die Lichtung verlassen hatte, verstummten die Vögel, der Wind verebbte, und kaum ein Ton war zu hören. Sie war da...




    "Du machst es dir auch selbst schwer, alte Frau.", erklang die glockenhelle, aber eiskalte Stimme des Mädchens hinter ihr, und Runhild erschrak ein ums andere Mal, als sie sich umwandte. Das Mädchen lächelte, bittersüß, höchstgefährlich.


    "Sie widersetzen sich dem Willen der Götter, in dem sie sich weigern unterzugehen.", beharrte Runhild auf ihrem Standpunkt, obwohl sie wusste, dass dies lächerlich war. Vor allem ihr gegenüber, und das wusste sie.


    "Man könnte meinen, du wüsstest besser was die Götter mit deiner Sippe vorhaben, als jene selbst.", der Schalk blitzte in den Augen des Mädchens, und Runhild fröstelte.


    "Aber... es wurde nicht zuende gebracht."


    "Was wurde nicht zuende gebracht?"


    "Das Ende!"


    "Es gibt kein Ende, das weißt du selbst... und jener Tag wird noch weit sein, an dem alles neu entsteht."


    "Und wenn es so ist", seufzte Runhild müde, und ließ sich ins Gras sinken, "Was geschieht dann mit ihnen?"


    "Sie gehen ihren Weg... auch wenn er verschlungen sein mag, sie gehen ihn. Viele straucheln, andere stehen standhaft. Das müsstest du doch am besten wissen... denkst du wirklich, die Götter geben sich mit weniger als ihrem vollen Willen zufrieden?"


    "Wodan hat es...", entsann sich Runhild einer alten Geschichte, die so alt war, dass selbst ihre Lehrer nichtmehr wussten wann diese entstanden war, "...er hatte sich geirrt."


    "Achja?", nun blitzten die Augen des Mädchens in Zorn, "Das ist das, was ihr Menschen daraus macht. Das hat nichts mit dem Willen der Götter zu tun, oder tatsächlich damit, dass sie irrten."


    "Nungut, aber wohin führt er sie jetzt? Ich meine... ist er wirklich derjenige, den ihr schicken wolltet?"


    "Den wir schicken wollten?", das Mädchen blickte auf einmal ehrlich interessiert, und verunsicherte die alte Frau damit nurnoch mehr.


    "Ja, den ihr schicken wolltet um die neue Zeitenwende einzuläuten.", Runhild kam sich bei dieser Frage enorm kindisch vor, aber das hatte sie halt die ganze Zeit gedacht, und dabei nicht begreifen wollen, warum gerade ihre Sippe diese Taten vollbringen sollte.


    "Alte Frau, jetzt, nach all deiner Zeit, enttäuschst du mich. Habe ich je mit einem Wort erwähnt, dass er derjenige sein würde?"


    "Ja... bei deinem vorletzten Besuch, du meintest, er würde kommen. Und beim nächsten Mal brachtest du ihn... du wolltest meinen Leuten Hoffnung schenken, meintest du!"


    "Richtig.", schwenkte das Mädchen in unkindlich belehrenden Ton, "Und wen meinte ich mit deinen Leuten?"


    "Aber... die STÄMME!!!", protestierte die alte Frau, die sich auf einmal sehr, sehr müde fühlte.


    "Frau, wenn du wirklich nicht begriffen hast, worum es ging, ist wirklich deine Zeit gekommen."


    "Wie meinst du das?", blickte Runhild das blonde Mädchen verwirrt an.


    "Mit deinen Leuten meinte ich nicht weniger als die Nachkommen deines Vaters. Den Menschen, der kommen wird um die Zeitenwende einzuläuten, den wirst du nichtmehr erleben."


    "Ah...", jetzt ging Runhild ein Licht auf, und bittere Enttäuschung machte sich in ihr breit, sollte sie wirklich nur als Instrument für ihre Familie missbraucht worden sein?


    "Nun schau nicht so drein... ich weiß was du denkst... du hast in deinem Leben genug getan, was nichts mit den deinen zu tun hatte. Wir waren der Meinung, bevor du gehst, solltest du noch etwas hinterlassen, dass in deiner Sippe fortbesteht."


    "Und deshalb schickt ihr mir diesen Jungen?", so wichtig konnte ihre Sippe nicht sein, dass SIE Einfluss auf ihre Geschicke nahmen.


    "Haben wir das? Ich entsinne mich an einen jungen Mann, der von seinem Vater hergeschickt wurde. Wenn man es genau nimmt, hatte ich nicht das geringste damit zu tun...", nun lachte das Mädchen, und dieses Lachen ließ Runhilds Hände noch kälter werden.


    "Du lügst... warum lügst du mich jetzt an?"


    "Weil ich es kann. Es ist besser für dich, nicht zu erfassen, was die Asen bewegt. Zumindest nicht, was dein eigen Fleisch und Blut angeht. Aber du kannst mir vertrauen... der Junge wäre selbst hergekommen. Auch ohne meine Hilfe...", das Mädchen ging einen Schritt auf die alte Frau zu, und streichelte ihr sanft über die Wange. Die Finger waren warm, ließen Runhild jedoch schaudern.


    "Jetzt... sag es mir... warum Alrik. Was habt ihr damit zu tun?"


    "Nichts. Nichts was nicht sowieso in Gang gekommen wäre. Manchmal begnügt man sich einfach damit, dem ohnehin kommenden einen einfachen Schubs zu geben. Außerdem haben wir uns schon lange nichtmehr um die deinen gekümmert.. es wurde Zeit. Ach, was rede ich... Zeit. Bist du bereit zu gehen?"


    "....", Runhild stockte. Sie würde gehen? Jetzt? Aber natürlich... jetzt verstand sie. Und auf einmal war sie froh, dass sie wenigstens ein paar Worte zum Abschied an die ihren gerichtet hatte, einfach, damit etwas blieb, "Ja, das bin ich."


    "Dann komm...", lachte das Mädchen, und nahm die alte Frau an die Hand.


    In diesem Moment erlosch der Geist von Runhild, Wolfriks Tochter, und mit ihm das Bild des Mädchens. Die Lichtung stand in trauter Einsamkeit dort, das Gras noch von einer dünnen Schickt Eis und Schnee bedeckt, die Hütte verlassen, einsam, tot. Inmitten der Lichtung, wenige Schritte vor dem Haus, lag der Körper einer alten Frau, mit halbgeschlossenen Augen, und einem seligen Lächeln auf den Lippen.

    Beinahe hätte Runhild gelacht, als der Junge seine Familie ins Spiel brachte. Die Sippe Wolfriks war doch eh nur ein Spielball der launischen Götter, gefangen zwischem ewig schwankender Hoffnung und Angst. Für Runhilds Verständnis von einem gottgefälligen Leben einfach nur lachhaft. Auch diese Faszination für das römische Reich, das den Stämmen schon so viel Leid gebracht hat, widerte sie nurnoch an, und sie war froh, wenn sie diesen Jungspund endlich los war. Vielleicht würde er es tatsächlich schaffen, und sein Erbe behaupten. Aber vielleicht würde er es auch nur dazu bringen, dass seine Familie endlich das Schicksal einging, was die Chatten vor Jahren begonnen hatten.


    Sie entließ den jungen Mann mit einem müden Nicken, und sorgte dann dafür, dass die Gemeinschaft, die schon lange schlief, wieder aufwachte, damit sie ihre Reise fortsetzen konnten, und sie endlich in Ruhe ließen.


    Sie kredenzte noch ein kurzes Frühstück aus trockenem Brot und etwas trockenem Gemüse, und wartete mit eisiger Miene darauf, dass sie wieder aufbrachen. Von ihrer Seite gab es nichtsmehr zu sagen, und das zeigte sie auch mit unverhohlener Offenheit.

    "Herzallerliebst.", äzte Runhild nach diesen Worten, die pathetischer wohl nicht sein konnten, und zum ersten Mal stellte sie sich die Frage, ob dieser junge Wicht wirklich der Mann war, den ihr die Götter angekündigt hatten. Vor allem, als er das Imperium erwähnte. Was sollte das? Hatten sich die Erben Wolfriks nicht schon genug an die Römer und ihr Reich angebiedert, musste das Imperium jetzt schon in einem Sippenschwur mit eingebaut werden?
    Sie zog verächtlich die Nase hoch, und spuckte geräuschvoll aus, nur um ihre Ablehnung des ganzen zu zeigen. Wie konnte man sich nur so beharrlich gegen den eigenen Untergang stemmen?
    Andererseits, wenn die Nornen, und damit die Götter, ihren Spaß daran hatten so makaber mit den Nachkommen ihres Vaters zu spielen, warum sollten sie es nicht?
    Sollten sie sich doch gegenseitig schwören was sie wollten, es würde nichts daran ändern: der alte Stamm war zerschlagen, die Sippe haarscharf am Untergang vorbeigeschrammt, und bei allen Belangen hatte irgendwie das römische Reich zu tun. Sie hielt es nach wie vor für DEN Fehler schlechthin, den ihr Vater, und dessen Vorgänger Boigar, begangen hatten, als sie im römischen Reich für die ihren um Asyl flehten.
    Erst als der Stamm zerschlagen wurde, die meisten Amsivarier tot, oder in Unfreiheit, und ihre Sippe in alle Winde verstreut, da hatten sich die Römer herabgelassen und einigen der Flüchtlinge Asyl gewährt. Bis zu dem Punkt, an dem die Strebsamkeit der Söhne Wolfriks sogar zum Bürgerrecht geführt hatte. Bürgerrecht!
    Runhild hatte Mühe, ihren Abscheu für diese Situation in Zaum zu halten, und wandte sich daher von dem beginnenden, friedlicheren Gespräch ab, erhob sich, trat an den jungen Blonden heran, der der kindischen Natur seiner Mutter zufolge den Namen Phelan bekommen hatte, und forderte ihn wenig herzlich dazu aufforderte, sich ein paar Schritte mit ihm abseits zu setzen.


    "Nun, junger Mann.", begann sie den zweiten Teil ihres Vorhabens, "Die Winde erzählen, du hättest dich den römischen Göttern verschrieben, ohne vorher bei einem Goden unserer Götter gelernt zu haben. Ist das so?"


    Sie wusste die Antwort natürlich schon, und wartete diese eben deshalb nur halbherzig ab, um dem jungen Mann danach einzutrichtern, was sie für richtig erachtete.
    Das, was sie dem Mann eintrichterte, der ihr trotz aller Abneigung gegen ihre eigene Sippe aufgeweckt und wissbegierig erschien, war kurzumrissen alles, was sie grundsätzlich ihren drei Schülern beigebracht hatte. Wie die Götter lebten, welches Wesen sie auszeichnete, und welche Geister und Mächte in der Natur schlummerten. Wie man die Fruchtbarkeit derselben erbat, oder die eigene, und wie man für spirituelle Stabilität in den Gedanken der Menschen sorgte, denn dies war ihrer Meinung nach das wichtigste Werk eines Goden: er führte die Menschen spirituell. Sie hielt nichts von der Vermischung von weltlicher wie religiöser Macht, und hatte daher oft genug darauf verzichtet erstere zu beanspruchen, obwohl sie es ohne Zweifel gekonnt hatte.
    Die geistige Stabilität, der Einklang mit dem Wort und Werk der Götter machten einen Menschen zu einem mächtigeren, als es der windigste Kämpfer je vermocht hätte.
    Sie erzählte dem Jungen noch, als die anderen schon lange eingeschlafen waren, erzählte ihm von Trollen, von Irrwichtern, und der Bannung böser Geister. Sie erzählte ihm von den Riten, die man bei einer Geburt vollbrachte, und jenen, wenn etwas gehörig schief lief. Aber vor allem erklärte sie ihm, WARUM die Dinge geschahen, wie sie geschahen. Warum die Götter sich entschlossen, einen Stamm untergehen zu lassen, und warum sie sich entschlossen, einen bestimmten Mann zur Größe wachsen zu lassen, während ein anderer im Sumpf verhungert. Sie erklärte ihm, warum es wichtig war, den Göttern ihre Namen zu erhalten, wie es ebenso wichtig war, sie nicht in Bilder zu schlagen, entgegen der römischen Art, warum es so wichtig war, ihre Gesichter und Körper unbeschrieben zu lassen, damit die Taten und Werke umso wichtiger galten, und die Menschen sich selbst ein Bild von den Mächten machen konnten, von denen sie begleitet wurden.


    Die Welt im ganzen, keine zehn Stunden erklärte sie ihm, ließ Wort über Wort auf den jungen Mann niedergehen, und sorgte immer wieder dafür, dass er nicht müde wurde, sondern hörte, was er hören musste, damit die Leute im Westen nicht den Glauben verloren an die Mächte, die ihre Väter vor dem Einfall der Römer angebetet hatten, aber gleichzeitig, wie viel die Religio der Römer doch mit ihrer eigenen gemein hatten, dass die Bilder der Römer nur zu fangen versuchten, was die Germanen absichtlich im ungefähren ließen, und das alles im Endeffekt eins war, nur anders erzählt... und letztendlich, wie er sich selbst erhalten könnte, durch den Glauben zu einem Mann zu wachsen, der den Göttern zur Ehre gereichen würde. Die Familie erwähnte sie mit keinem Wort, dass sie Alrik hier beherbergt hatte, um darauf zu warten, dass er von den seinen geholt wurde, war schon zuviel des Guten.


    Als sie endete, und ihm mit "Ehre die Götter, und dein Leben wird glücklich enden." eine abschließend noch sehr allgemeine Weisheit mit auf den Weg gab, wurde die Sonnenscheibe schon aufs neue geboren, und mit verschmitzten Augen sah die Frau, keinen Deut müde, den Mann an, den sie Phelan nannte, und wartete darauf, dass er begriff.

    Da ging es wieder los. Runhild konnte nicht anders, als zu lachen.


    "Narren.", schalt sie die Streithähne, und riss die Konversation dadurch wieder unmissverständlich an sich, "Und die Menschen gehen kein Stück weiter. Wer bist du, Alrik, Leifs Sohn, dass du den Stämmen ihre Streitereien vorwirfst, und kaum dass du mit deiner Sippe vereint bist, eine solche beginnst, in schamlosester Weise? Ich bin...", sie stockte, als der Nubier sich neben Lando stellte und Kampfbereitschaft signalisierte, "Ruhig an, Südmensch. An diesem Ort stirbt niemand."


    Nicht, ohne dass sie es so wollte, was war klar.


    Sie nahm die Äußerung des jungen Leif zum Anlass, die Situation zu entzerren, und entließ an Landos Stelle, dessen Authorität an diesem Ort eh nur Makulatur war, den Pferdeknecht zur Pflege der Pferde, während sie der Gruppe anwies, sich zu setzen. Sie wies Alrik an, eine Feuerstelle zu bereiten, und ließ die Reisegruppe sich zumindest ansatzweise bequem einrichten.


    "Nun", begann sie das Gespräch wieder, als sich alle, mit immernoch erhitzten Gemütern, aber weniger affektiv, um das langsam knisternde Feuer gesellt hatten, "Lando hat Recht, du kennst die Welt der Römer nicht, und deine Taten in diesen Landen haben dir und deiner Familie zwar Ehre verschafft, aber es wird nicht interessieren, wenn du deiner Sippe das Fortbestehen im Reich sichern willst. Lando hat daher das vollkommene Recht, zu erwarten, dass du dich im Sinne deiner Sippe als würdig beweist, diese zu führen. Das Leben, das du anstrebst, wird in nichts mit dem zu vergleichen sein, was du hier erduldet und durchlitten hast."


    Eine Topf voll Suppe, die sie im Hütteninneren vorher schon aufgesetzt hatte, wurde über das Feuer gestellt, so dass sich jeder nehmen konnte, um den eigenen Hunger zu stillen, und die frostigen Gemüter zu erwärmen.


    "Und Lando, auch wenn du die deinen sicher durch die Gestade dieser Zeit führst, steht es dir nicht zu, Alrik sein Erbe zu verwehren. Die Zeiten haben sich geändert, die Römer provozierten dies. Was früher gleichgestellt, bekommt nun einen Führer, und wenn es nur der einer kleinen Familie wie die deine ist. Die anderen Stämme, sie sind noch mittendrin. Du kannst entscheiden, ob deine Familie sich in denselben Streitereien selbst aufreibt, oder ob sie sich geschlossen der Zukunft stellt. Selten ist der Wille der Nornen so vielfältig wie bei den deinen."


    Sie vermied das Wort 'unsere', auch wenn sie gerade einige Großneffen vor sich sitzen hatte. Sie hatte vor langer Zeit mit der Sippe ihres Vaters abgeschlossen, und das würde sich jetzt nicht ändern... das was sie hier tat, war den Rat eines kleinen Mädchens befolgen, mehr nicht. Hoffte sie zumindest.

    "Achja... so war das.", spielte die alte Frau vergesslich, und ließ sich gleich darauf auf einem Baumstumpf neben der Tür zur Hütte nieder, ächzte dabei, wie es alte Frauen nunmal taten, wenn sie sich auf einem Baumstumpf neben der Tür niederließen, und sah danach die Gruppe mit nachdenklichen Augen an.


    "Ich werde sterben.", begann sie unvermittelt zu erklären, "Und mir wurde aufgetragen, vorher meinen Leuten ein kleines Stück Zukunft zu schenken..."


    Diese Offenbahrung ließ sie einige Sekunden sacken, und sie konnte förmlich sehen wie es hinter der Stirn dieser Männer arbeitete. Schließlich, als Lando zu einer Antwort ansetzen wollte, würgte sie ihn mit einer sachten Handbewegung ab, "Ja, du denkst das richtige. Ihr seid die Nachkommen meines Vaters Wolfrik. Und du selbst... gerade zu... du bist Enkel meiner jungen Schwester Reimut... was du nicht wusstest, natürlich. Aber ich weiß es... ist das nicht ergreifend? Eine richtige kleine Sippenzusammenführung...", die letzten Worte trieften nur so vor Gift, denn es war klar, dass sie nichts davon hielt, in welche Richtung sich die Sippe ihres Vaters entwickelt hatte. Wenn es nach ihr ginge, hätten die Chauken der Sippe ihres Vaters keine Chance lassen dürfen, denn wenn es um das Ende eines Stammes ging, machte man keine halben Sachen. Gerade bei so wichtigen Sippen, wie die ihres Vaters. Gesetze waren Gesetze, und man gab sich nicht damit zufrieden diese halbherzig auszuführen. Und nun stand das Ergebnis vor ihr, ein Haufen Männer von stattlicher Gestalt, die darauf aus waren das Schicksal ihrer Sippe wieder gerade zu biegen. Und das auf ihrer Meinung nach unverzeiliche Art: der Kollaboration mit den Römern.


    Was folgte, war eine Stunde lang Erklärung darüber, wie die alten Zeiten aussahen, wie ihr Vater es nicht geschafft hatte, den Stamm, den er Boigars Erben abgenommen hatte, nur um genauso wie diese daran zu scheitern, die Sicherheit seiner Leute sicher zu stellen. Nein, der Stamm, und vor allem die Sippe ihres Vaters hatte es verdient, unterzugehen. Und das sah sie schon als junges Mädchen. Und auch hatte sie sich entschieden, sich nicht dem Anstrengen ihres Vaters hinzugeben, sondern sich dem Willen der Götter verschrieben, und war tagelang durch die Wälder geirrt. Um hier, an diesem Fleck, auf eben jenes Mädchen zu treffen, dass sie nun seit mehr als sechzig Monden immer wieder gesehen hatte. Und ihr war klar, dass sie nicht zu entscheiden hatte, sie wurde zur Kundgeberin von Ratssprüchen degradiert, die nicht ihre eigenen waren, aber sie gab sich dem Willen hin, denn wer tat es nicht?


    Schließlich, als sie die komplette Geschichte des Stammes vor den Enkeln ihres Vaters ausgebreitet hatte, machte sie eine lange Pause, und sah mit hämisch verzogenem Lächeln, wie sich die Stirne der Männer vor Gedanken kraus legten.


    "Warum also lasse ich euch herrufen? Es gibt da jemanden, den ich euch vorstellen will, damit ihr endlich das bekommt, was ihr euch schon seit Jahrzehnten wieder wünscht. Einigkeit."

    "Ich hab dich schon beim ersten Mal gehört, junger Mann.", erklang die Stimme der Seherin plötzlich hinter der Gruppe. Das hatte nichts mit Zauberei zu tun, oder gar mit Magie, sondern einfach nur damit, dass die Gruppe so fixiert auf die Hütte gewesen war, dass sie die alte Frau garnicht wahrgenommen hatte, die am Waldrand noch feuchtes Holz sammelte.
    Sie war ihnen langsam hinterhergelaufen, und hatte die Angst, die diese Männer ausstrahlten, amüsiert zur Kenntnis genommen.


    "Nun, Lando, Landulfs Sohn, du hast dir Zeit gelassen, die deinen hierher zu führen.", ihre Augen waren spöttisch zusammengezogen, doch sprach keinerlei Feindseligkeit aus ihrer Stimme, "Ich hoffe, ihr habt euch nich gefährlich verletzt? Ihr riecht so stark nach Blut, dass ein Rudel Wölfe euch einen Tag gegen den Wind wittern müsste. Es wundert mich schon, dass ihr es überhaupt hierhin geschafft habt."


    Erst jetzt schien sie die anderen Reisenden zu bemerken, und schätzte jeden von ihnen endlose Sekunden mit leichtem Schmunzeln an. Was waren das doch für Kerle. Römer, die sich als Germanen verkleideten? Oder Germanen, die aussahen wie Römer? Es haftete ihnen an wie ein Stigma, man konnte es förmlich riechen... der Wohlstand, die Wertlosigkeit, der Hochmut.


    "Runter von den Pferden, und lasst euch untersuchen. Nicht dass ihr mir hier jetzt noch wegsterbt, wo ihr doch die lange und beschwerliche Reise gerade eben geschafft habt.", diktierte die alte Frau mit Selbstverständlichkeit die Männer von ihren Pferden. Der erste, den sie sich ansah, war Lando. Sie befahl ihn auf einen in der Hälfte gespaltenen Baumstamm, der als Bank fungierte, zerrte mir ihren erfahrenen Händen den Verband auf, und sah sich die Wunde an.


    "Ach, und wegen sowas wirst du kreidebleich? Junge, du hast schwerere Verletzungen hinter dir. Nicht wahr, Loki?", sie zwinkerte ihm zu, verschwand dann in der Hütte, und kam mit zwei Schüsseln wieder heraus. Die eine enthielt ein feinkörniges etwas, die andere einen grünen Brei, dass sie auf die immernoch recht tiefe Wunde legte, und es dort mit betonter Rücksichtslosigkeit verrieb.


    "So... wer ist der nächste?", stellte Runhild die rhetorische Frage, denn sie diktierte schon den jungen Witjon zu sich, und ließ ihm bei allen tieferen Verwundungen die gleiche Prozedur zu teilwerden, "Witjon, Sohn der Ildrun. Macht es dich stolz, dich den Leuten dienbar zu machen, die die Anhänger unserer Götter schlachten, als sei es Vieh?"


    Und auch der Hüne wurde untersucht, ob es ihm passte oder nicht, und Runhild brauchte Lando nur einen Blick zuwerfen, und es wurde dem Mann befohlen, und natürlich bekam auch dieser einen Spruch: "Und du... Mann ohne Namen... wie weit hat es dich von deiner heissgeliebten Sonne entfernt, dass du jetzt für die Söhne des Wolfrik dein Leben gibst?"


    Als sie geendet hatte, nahm sie sich noch die letzten beiden vor, und ließ auch ihnen eine eigentümliche Begrüßung zukommen: "Phelan, Sohn meiner Nichte. Den römischen Göttern hast du dich verschworen, aber verlernst du deshalb auch die Lehren derer, die dich groß gemacht haben? Und da haben wir noch den jungen Leif, eine der wenigen Seelen, die den Erben meines Vaters immernoch treu zur Seite stehen, hmh?"


    Als sie geendet hatte, wandte sie sich der ganzen Gruppe zu, und hob schon fast belehrend den Finger: "Nun Kinder... warum seid ihr hier?"

    Runhild hockte an diesem kalten Morgen vor ihrer Hütte, drückte ihre Hände an eine Schale mit heißem Kräutersud und starrte in den Nebel.
    Einen Nebel, der eigentlich nicht hätte sein dürfen, denn es war in den Tagen zuvor keinen deut wärmer geworden. Reif hatte sich an den wenigen Stellen, die nicht vom Schneel bedeckt waren, auch nicht abgesetzt, und so starrte die alte Frau mit ratlosem Blick durch den Nebel hinauf zur kaum sichtbaren Sonnenscheibe, und wusste seit langer, langer Zeit keinen Grund für das, was sie sah.
    Die Geräusche des winterlichen Winters klangen nur gedämpft durch den dicken grauen Schleier, der alles, was mehr als fünf Schritte entfernt war, verschluckte, und so bemerkte Runhild auch nicht, dass sie Besuch hatte, bis dieser kurz vor ihr stand.


    Es war ein düsterer Schatten, kaum mehr als ein Schemen, das sie selbst dann um drei Köpfe überragen würde, hätte Runhild sich aufgerichtet. Die Gestalt stand regungslos vor ihrer Hütte, und starrte sie ungewandt an, was Runhild spürte, nicht sah. Die Tatsache, dass sie nichts mit der Situation anzufangen wusste, verwirrte sie, weckte in ihr ein Gefühl, das Unsicherheit sehr nahe kam.
    'Ein Troll.', kam ihr in den Sinn, doch wischte sie den Gedanken beiseite. Die Trolle hatten diese Gestade verlassen, seitdem die Römer an den großen Fluss gekommen waren, und begonnen hatten alles in Stein zu schlagen. Dies war kein Troll, auch wenn Größe und Statur darauf schließen ließen.
    Ihr fiel erst auf, dass die Gestalt nicht alleine war, als sich ihr ein anderes Gesicht ins Sichtfeld schob, und ihr den Schrecken ihres langen Lebens verpasste:




    "Hab ich dich erschreckt?", kicherte die Kinderstimme, die Runhild doch erst vor so kurzer Zeit vernommen hatte.


    "Das kann man wohl sagen...", rang die große Dame der freien Stämme um Fassung. Der Schreck wich, aber dafür machte sich Angst bemerkbar. Eine Angst, die wohl jedem Lebewesen zueigen war, wenn es erkannte, was in den nächsten Momenten geschehen würde. Unweigerlich griff sie sich an die Seite, fühlte, ob ihr altes Herz noch schlug, und wurde umso verwirrter, als sie feststellte, dass sie immernoch lebte.


    "Das tut mir leid.", log das kleine Mädchen mit einem spitzbübischen Lächeln, das daraufhin mit einer Güte die alte Frau anblickte, die wohl nur jenen innewohnte, die in Midgard nichts zu verlieren hatten, "Keine Angst, ich bin nicht gekommen, um dich mitzunehmen, alte Frau."


    "Was willst du dann von mir, wenn du so unangemeldet vor mir stehst? Der Nebel ist dein Werk, nicht wahr?", stellte Runhild mit wachsendem Misstrauen fest. Der Besuch des Kindes konnte nichts gutes bedeuten... konnte es einfach nicht!


    "Na, da hätte ich jetzt aber schon mehr von dir erwartet.", lachte das kleine Wesen mit glockenheller, aber gleichsam erschreckend irrealer Stimme, "Worüber haben wir uns denn beim letzten Mal unterhalten?"


    "Meine Leute... und..", Runhild dachte angestrengt nach, hatte sie die Asen falsch verstanden? War jetzt schon Zeit? Das konnte nicht sein!


    "Und?", hakte ihr Gast unbeirrt nach, und ließ es gleichsam wie ein Spiel klingen.


    "...und... das kann nicht sein. Ist es jetzt schon Zeit für ihn?", sie runzelte die Stirn, und entsann sich dann des düsteren Schemens hinter dem Mädchen, "Ist das... ist das ER?"


    "Du enttäuschst mich nicht, Frau.", schmunzelte das Mädchen sie an.


    "Das kann nicht sein. Es ist viel zu früh... die Stämme... es sind noch zu viele... das kann nicht sein.", stammelte Runhild, immer verwirrter, und wusste nicht woran sie sich halten sollte.


    "Das ist es auch nicht. Mir scheint, du hast den gleichen Fehler wie vor Jahren begangen.", das Mädchen ging, nein, hüpfte die letzten zwei Schritte an die Seite der alten Frau, und ließ sich neben dieser auf dem Sitzholz nieder, "Wenn wir der Meinung wären, dass es Zeit wäre für die Stämme, sich zu einen, dann würdest du das schon mitbekommen. Aber das wäre kein Grund für uns, dich zu besuchen, alte Frau. Ich bin hier, um dir etwas zu schenken..."


    "Mir... zu schenken?", blickte Runhild fragend in die tiefen blauen Augen des Mädchens, denen so viel unmenschliche Grausamkeit innewohnte, "Was?"


    "Zukunft.", flötete das Mädchen, und deutete auf das Schemen, "Ich schenke dir und deinen Leuten Zukunft."


    Das Schemen löste sich aus dem Nebel, und schwere Schritte knirschtem im Nebel. Schritte, die bei dem jungen Mädchen nicht zu hören gewesen waren, und so darauf schließen ließen, es hier mit einer durchaus irdischen Gestalt zu tun zu haben. Als Runhilds alte Augen erkannten, was dem Wesen dieser Gestalt inne war, riss sie erstaunt die Augen auf.


    "Das ist doch nicht... wie kann... oh...", endlich begriff sie. Begriff, was das Mädchen die ganze Zeit gemeint hatte, begriff, WEN sie gemeint hatte.
    Die Gestalt vor ihr war ein Mann. Baumgroß, und doch von makelloser Gestalt. Felle und dicke Wolle schützten den Menschen vor der bitteren Kälte, und ließen doch erkennen, dass man hier jemanden vor sich hatte, der vom Leben bereits gestählt worden war. Das einzige, was unverdeckt gewesen war, war das Haupt, dass sie nun mit stahlblauen Augen unverwandt anblickte, schmale Lippen, zu einem spöttischen Lächeln verzogen, schwarze Locken, die frei das kantige, und doch adelige Gesicht umschlossen, und auch wenn sie vor Jahrzehnten das letzte Mal etwas mit den ihren zu tun gehabt hatte, auf deren Antwort sie jetzt wartete, wusste sie doch, wen sie vor sich hatte.
    Es dauerte gefühlte Stunden, bis sie etwas sagen konnte.


    "Du hast die Augen deines Vaters."

    Dem jungen Gesandten aus Germania Magna war dieses Zimmer zugeteilt worden, und er wusste zuerst nicht was er hiervon halten sollte.


    Für römische Zustände war dieses Zimmer wahrscheinlich spartanisch, doch für ihn war es unerhörter Luxus, in einem Bett zu schlafen das nur er belegte.


    Doch für diese Nacht wollte er sich ohne weiteres dem Luxus anheimgeben... und schlief daher auch sehr schnell ein.

    Sim-Off:

    Frechheit! :P


    So aus dem Raum komplimentiert, wollte Leif schon zu einer scharfen Antwort gegenüber diesem dreisten Bauern ansetzen, doch machte sich REIN ZUFÄLLIG in diesem Moment die Müdigkeit bemerkbar, die er sich die Reise bis hierhin aufgespart hatte. So trollte er sich, und folgte dem alten Mann in die Kammer, die ihm bestellt worden war...

    Das war also dieser Lando, Führer der Erben Wolfriks. Unwillkürlich stockte Leif, der Mann roch nach Stall, ganz und garnicht römisch, wie er glaubte. Doch auch diesem Mann sah man den Verfall der Sitte an, die das Leben im römischen Reich mit sich brachte. Er trug zwar Hosen, darüber aber ein Hemd aus definitiv römischem Stoff.
    Dass er nicht per Handschlag begrüßt wurde, wollte Leif schon als Beleidigung auffassen, als er sich entsann, dass er dies zuhause in der Heimat auch nicht wurde. Zumindest nicht solange, bis er zum Mann geweiht wurde.


    "Heilsa, Lando, Sohn des Landulf.", erwiderte er daher verstockt den Gruß des großen rothaarigen, "Ich bringe Kunde von Runhild, Tochter Wolfriks, freie Godin der Stämme und Mund der Götter. Sie lässt ausrichten, dass sie noch vor dem tauenden Eis eure Ankunft in ihrem Zirkel erwartet, vier Tagesreisen von hier, in den Wäldern zwischen dem Stamm der Herutiz (Cherusci), und dem der Ermundern (Hermunduri) erwartet. Ich bin euer Führer, da man von euch nicht erwarten kann, euch in den freien Landen zurecht zu finden."

    Leif folgte dem Duccius, und wurde in ein sehr komfortabel eingerichtetes Zimmer geführt. ZU komfortabel, für seine Maßstäbe. Im Vergleich zu den Wohngegebenheiten in Germanien war dies hier destillierter Luxus. Die Ahnen Wolfriks hatten wirklich viel dafür erhalten, sich den römischen Schergen anzubiedern.
    Der junge Germane machte keinen Hehl aus seiner Ablehnung für diesen Lebensstil, auch wenn man sah, dass dies definitiv ein Hort für Germanen war.


    "Nett.", kommentierte Leif, durchaus ironisch, was er sah, während sie auf diesen Lando warteten.

    "Danke.", erwiderte der Junge, und reichte mit seinen schweren Mantel, der soviel zu wiegen schien wie sein Träger selbst, mit einer Selbstverständlichkeit an Albin weiter, die man entweder mit enormer Dreistigkeit oder mit enormer Adeligkeit entwickelte. Es war das Los der Stämme, die es immer wieder schafften ihre Stammesgebiete zu sichern, sowohl gegen die Römer, als auch gegen die anderen Stämme, die nicht minder gefährlich waren, und sich nur dann nicht gegenseitig bekriegten, wenn es darum ging die Römer in ihre Schranken zu weisen.


    Er betrat die große Halle nun vollständig, und würdigte die sehr germanischen, aber mit römischer Kunstfertigkeit hergestellte Repräsentanz dieser Halle mit keinem Blick.


    "Warmes Bier, bitte.", befahl er dem alten Mann, und das 'bitte' war hierbei nur allzu deutliche Makulatur.


    "Führst du die Erben Wolfriks? Des Stammes, den das ihm von den Göttern vorherbestimmte Schicksal ereilt hat?"

    Diese Reaktion hatte Leif irgendwie erwartet. Es war jedes Mal so, wenn die Sprache auf die alte Frau im Wald kam. Sein Vater hatte auch so reagiert, als es darum ging seinen Sohn für einige Tage mitten im klirrend kalten Winter der Frau zu überlassen.


    Nun stand er in der Halle, die nicht halb so römisch war wie er erwartet hatte, waren die Nachkommen Wolfriks doch im freien Germanien als Günstlinge der Römer verschrien. Doch dies, dies war ein Palast, verglichen mit den Hütten seiner Heimat, und er sah durchaus germanisch aus... als der alte Mann, offensichtlich immernoch schockiert, zurückkehrte, hatte dieser einen jungen Mann bei sich, den Leif mit argwöhnischem Blick musterte. Dies war dann wohl einer jener, die sich mit den Römern einließen, und die Völker ihrer Ahnen vergaßen.


    "Heilsa, ich bin Leif, Sohn des Rodger, vom Stamme Vilmars, vom Stamme Manfridus, die von den Römern genannt werden Volk der Fosen. Ich wurde geschickt, um Nachricht zu bringen von Runhild, Tochter des Wolfrik, Godin der neun Stämme, jener, die mit den Göttern spricht. Bist du ein Erbe Wolfriks?", sprach er schließlich mit schriller, aber fester Stimme, der man es anhörte, dass sie normalerweise Kommandos gab.

    "Hier bin ich richtig.", stellte der Junge mit vergnüglichem, aber müdem Lächeln fest, als der Mann direkt in seiner Begrüßung den Namen Wolfriks verwandte. Noch glücklicher war er darüber, dass der alte Mann in der Sprache der Stämme sprach, und nicht das Fitzelchen Latein herausforderte, dass man jungen Adeligen rechts des Rhenus dieser Tage eintrichterte, um wenigstens ein paar Beleidigungen für den Feind parat zu haben, die dieser auch verstand.


    "Ich bin Leif, Sohn des Rodger, vom Stamme Vilmars, vom Stamme Manfridus, die von den Römern genannt werden Volk der Fosen. Ich bin hier um mit dem Erben Wolfriks zu sprechen, im Auftrag derer die lebt in den Wäldern und spricht mit den Göttern, die uns allen sind das heiligste, im Auftrag der Runhild, die war Tochter des Wolfrik.", sprach er mit quiekender und schriller Stimme, man hörte ihm am, dass er auf bestem Wege war ein Mann zu werden, doch noch weit davon entfernt.

    Ein kleiner Junge war es, der die Nachricht überbrachte, die so einiges ändern sollte. Er hatte seinen Weg von den Stammesgebieten der Fosen gesucht, und ihn schließlich gefunden. Und dies nicht etwa, weil er gut dafür bezahlt wurde, sondern weil SIE es gewollt hatte. Als Sohn eines Kunings der Fosen, der alleine vom Stand her in der Lage war Latein zu sprechen, und sich so bis nach Mogontiacum durchzuschlagen. Und jetzt stand er hier, vor der Tür seines letztendlichen Ziels, und irgendwie zauderte er zu klopfen. Warum? Weil dies bedeuten würde, das er zurück musste. Zurück zu ihr, um ihr zu berichten, was sie sowieso schon wusste... und dennoch musste es getan werden.


    Schwer schwang der Ring, als er auf die Tür prallte...


    *KLOPF*


    und wieder...


    *KLOPF*

    Runhild hatte schwer zu schleppen. Sehr schwer. Das Holz, dass sie am Rand der Lichtung lagerte, wog irgendwie schwerer als sonst. Ihre Knie schmerzten, und mit jeder Wolke, die sich aus ihrem Atem in die Luft ergab, kam auch ein schmerzerfülltes Wimmern.


    Sie wurde alt.


    Nicht so alt, als dass ihr Ende unmittelbar bevorstand, doch alt genug, um zu wissen, dass ihre Einkehr zu Hel nicht allzu fern war. Alt genug, um zu wissen, dass sie weitergeben musste, was ihr inne war. Doch wer kam in Frage? Die junge Godin, die einen Monat im Jahr bei ihr verbrachte, um zu lernen, würde bald verheiratet, und damit aus der Nachfolge ausscheiden. Außerdem war die Tochter des Richs der Chauken nicht unbedingt das, was man 'begabt' nennen würde. Sie sah Dinge nicht, die offen vor ihr lagen, und hatte ihren eigenen Stamm durch missglückte Sehungen schon einmal in einen blutigen Streit mit den Friesen geführt, und nur Runhild selbst hatte einen größeren Krieg verhindern können, in dem sie durch ein Machtwort das Wort der jungen Frau übertönt hatte. Natürlich waren politische Ränke der Grund für das Ergebnis der Frau gewesen, doch hatte sie nicht verstanden, dass Ränke nur dann von Erfolg gekrönt wurden wenn sie dem entsprachen, was man von den Göttern erwarten konnte.


    Die Chauken hatten in letzter Zeit zu lange an ihrer militärischen Stärke gearbeitet, hatten Eisen über Umwege von den Römern importiert, die sie eigentlich so abgrundtief hassten, und hatten letztendlich einen Feldzug gestartet der vor Dekadenz und Siegesgewissheit nur so strotzte. Was dabei vergessen wurde, was Runhild auch der jungen Frau vorwarf, war, dass Opfer- und Lobrituale mehr waren als die Beruhigung junger Kriegernerven.
    Die Quittung war, dass die Chauken eine Niederlage nach der anderen einsteckten, und letztendlich weit in ihr eigenes Gebiet zurückgedrängt wurden.
    Runhild hatte sich bei der jungen Frau, die es wohl verstanden hatte ihre Lehrerin als Aushängeschild zu nutzen, nicht jedoch als Quelle von Weisheit und Wissen, damit revangiert, dass die alte Frau die Streitigkeiten schlichtete, in dem sie ihre Schülerin als Tochter des Richs an den Sohn des Richs der Friesen vermittelte. Was für die alte Frau ein Klacks gewesen war, und das natürlich ohne ein Wort mit ihrer Schülerin zu sprechen.


    So hatte sie ihre Schülerin von der Liste derer gestrichen, die später die religiösen Geschicke der Menschen lenken würde, die in den Landen zwischen den großen Strömen lebten. Wer kam noch für sie in Frage? Ihr fiel das Mädchen ein, das stets in der Begleitung ihrer Schülerin lebte, und wohl eine Geisel aus dem Volk der Sachsen war. Runhild hatte schon bei ihrem ersten Zusammentreffen festgestellt, dass das Mädchen Dinge sah, die richtigen Dinge, Dinge die waren, ohne wirklich zu sein.
    Sie würde sie zu sich rufen.


    Und dann gab es noch jemanden, den sie rufen würde. Auch wenn sie es nicht gerne tun würde, es ward ihr befohlen worden, und sie wagte es nicht zu widersprechen.

    Runhild saß auf der kleinen Lichtung, in der ihre Hütte stand, und betrachtete aufmerksam den Waldrand. Die Bäume bewegten sich im Wind, und das Laub raschelte leise, beinahe ehrfürchtig still war es ansonsten in dem von jahrhundertealten Bäumen gesäumten Flecken Erde mitten in den Wäldern Midgards. Der Somme hatte die Wiesenblumen in ihren schönsten Formen aus den Knopsen getrieben, ein milder Geruch von Weiderich und Thymian hing unsichtbar in der Luft, und die tosende Welt der Sterblichen schien unwirklich, schien nicht zu existieren, an diesem Ort.


    Sie hockte hier schon eine ganze Weile, ungestört von dem auf dem Gras weilenden Tieren, drehte einen kleinen Stock zwischen den Fingern und wartete. Wartete darauf dass die Zeit stehen blieb, die Tiere erstarrten und der Wind verstummte. Wartete darauf, dass sie erschien.


    Und sie kam.



    Runhild sah mit ihren alten Augen wie das kleine Mädchen sich durch die dichten Zweige drängte, ohne diese auch nur zu berühren. Ihr Gang war federleicht und doch fest, jeder Schritt musste sie nur wenige Finger breit voran zu bringen, doch waren es die von Riesen. Eine halbe Ewigkeit schien es zu dauern bis sich die beiden gegenüber standen, doch waren es nur Sekunden gewesen, in denen Runhild sich kein einziges Mal von der Erscheinung abgewandt hatte.
    Als sich die beiden gegenüber standen, oder besser gesagt hockten, offenbahrte sich die Unterschiedlichkeit dieser Zusammenkunft: die im hohen Gras knieende Runhild war immernoch einen Kopf größer als das kleine Mädchen, und doch bestand kein Zweifel daran wer hier wem überlegen war.
    Die nächsten Herzschläge waren von Stille geprägt, gegenseitigem Abschätzen, und doch war es schließlich Runhild die die Augen niederschlug.


    Schließlich war sie es, die die Stille brach, und ihre Stimme war so glockenhell wie ein lichter Frühlingsmorgen, und doch so schneidend allgegenwärtig als wäre es nicht der zierliche Körper des Mädchen von dem die Stimme stammte.


    Sie: "Du hast gewartet."


    Runhild: "Ich bin es gewohnt zu warten."


    Sie: "Es tut mir leid, es ist so seltsam, hier... es fühlt sich falsch an."


    Runhild lächelte, es war sonnenklar dass sich hier niemand wirklich entschuldigte, und vor allem nicht bei ihr. Dass sich das Mädchen nicht wohl in seiner Haut fühlte war auch nicht wirklich verwunderlich, schließlich fanden diese Treffen nur alle elf Sommer statt. Aus den blauen Augen des Mädchens sprach eine weltentrückte Unbarmherzigkeit die ihr bei ihrer ersten Zusammenkunft einen Schauer über den Rücken gejagt hatte, und auch hier erging es ihr nicht anders.


    Sie: "Deine Welt hat sich nicht verändert, seitdem wir uns zum letzten Mal sahen."


    Runhild: "Das stimmt. Es scheint als hielte sie die Luft an."


    Sie: "Und doch schlagen die deinen sie mit einem neuen Antlitz. Stets, und seit dem Angebinn ihrer Zeit."


    Runhild: "Es ist euer Wille, der ihnen dieses Wesen gab."


    Sie: "War es das? Ich habe immer gedacht es wäre der freie Wille, der unsere Gabe war."


    Runhild: "Natürlich. Ich wollte nicht streiten..."


    Sie: "Kannst du auch nicht." Ein süffisantes Lächeln schob sich auf das Gesicht des jungen Mädchens, ein Anblick der nicht recht zur Erscheinung desselben passen wollte. Runhild war unwohl, auch wenn ihre weit über sechzig Winter ihr jedem Besuch gegenüber eine Ruhe gegeben hatte, die jeden in die Knie zwang. Doch dieses wie jedes Mal versagte ihre Erfahrung in der Gegenüberstellung mit dem kleinen blonden Mädchen. Es herrschte wieder einige Sekunden Stille auf der kleinen Lichtung, bis die kleine Figur betont seufzte und den Blick über die kleine Welt Runhilds schweifen ließ...


    Sie: "Ich habe die Töchter und Söhne Wolfriks gesehen. Sie tuen sich schwer damit, es kehren so viele wieder zurück, über den Fluss oder wieder zu uns..." Runhild wusste dass diese Worte dazu gedacht waren sie zu treffen, doch was auch dieses Wesen nicht wusste, war dass sie sich schon lange vom Stamm ihres Vaters und seinen Nachfolgern gelöst hatte. Sie schnappte hier und da Geschichten auf, behielt sie natürlich im Sinn, aber Einfluss nahm sie schon lange nichtmehr auf die Geschicke ihrer Sippe. Darum fiel ihre Antwort auch offensiv kühl aus: "Sie fügen sich in das Schicksal dass ihr ihnen vorbestimmt habt."


    Sie lächelte: "Ja, das tuen sie. Es wird eine Zeit geben in denen sie auch in ihrer vermeintlich sicheren Heimat an einem Scheideweg stehen werden, ihre Entscheidung, wird es die richtige sein?"


    Runhild: "So ihr es wollt."


    Sie: "Du hast gelernt, altes Weib. Die richtigen Antworten auf die falschen Fragen. Nun, warum bin ich hier?"


    Runhild stockte. Diese Frage verwirrte sie, was wollte sie damit erreichen? Sie schaute dem Wesen in die kalten Augen, und entlarvte sich selbst dabei als Närrin, wenn sie dachte sie könnte in ihnen lesen wie in denen der Sterblichen. Es blieb ihr nichts anderes übrig zu raten, und sie fühlte sich dabei hilflos wie ein kleines Kind das man vor ein Stockwerkrätsel stellt.


    Runhild: "Um zu künden von dem was ist, und von dem was wird?"


    Sie: "Eine herrlich ungenaue Antwort. Du weißt also nicht was mich dieses Mal zu dir treibt... ich werde es dir sagen, und es wird dir nicht gefallen. Der Hunger hält an. Sie sind der Meinung die Stämme zollen zu wenig Respekt vor dem was nicht fassbar ist, und werden weiter strafen, wer nicht glaubt."


    Runhild schluckte schwer, dies war eine überaus schlechte Nachricht. In den letzten Wochen hatten ihr die Stammesfürsten mehr als nur einmal das Gras zertrampelt und die absurdesten Bitten vorgetragen, doch fast alle drehten sich um eines: den Hunger. Die schlechten Ernten. Den Hunger. Die schlechten Ernten. Den Hunger. Die Fehden.


    Den Hunger.


    Sie schien mit ihrer Reaktion zufrieden, sie war eigentlich IMMER mit dem Leid der irdischen zufrieden, solange SIE nur der Auslöser dafür waren, und die Konsequenzen dessen normalerweise Opfer und noch mehr Opfer waren.


    Runhild: "Sie werden es akzeptieren, und den Göttern opfern." Zumindest hoffte sie das. Wenn es noch mehr idiotische Raubmanöver wie in Borbetomagus geben würde, würde es noch mehr Tote geben als der Hunger je gefordert hätte.


    Sie: "Das ist recht. Und dennoch, mahne sie zur Gottesfurcht, denn nur darin liegt die Erlösung von den Strafen die sie sich selbst auferlegt haben."


    Runhild: "Ist das alles?"


    Sie: "Ja."


    Runhild: "Ich hätte einen längeren Besuch erwartet."


    Sie: "Du wirst es verkraften. Wir sehen uns wieder, einmal."


    Runhild: "Sollte ich dankbar sein?"


    Sie: "Solltest du es nicht?"


    Runhild: "Doch, natürlich."


    Sie: "Gut. Ehret die Götter, und euer Flehen nach Erde wird erhört werden."


    Runhild: "So wird es sein."


    Sie: "Es wird ein Mann kommen, ein neuer... er wird die deinen führen."


    Runhild: "Weit?"


    Sie: "Weit genug."


    Runhild: "Dann werden wir warten."


    Das kleine Mädchen erhob sich, und war Runhild noch einen letzten abschätzenden Blick zu...


    Sie: "Das werdet ihr. Lebe wohl, Runhild Wolfriksdotter."


    Runhild: "Ehre den Göttern und den Geistern Midgards."


    Wieder dauerte es eine halbe Ewigkeit und doch nur wenige Augenblicke bis das Mädchen zwischen den Sträuchern verschwunden war, und mit ihrem Verschwinden setzte das Leben auf der Lichtung wieder ein, die Baumkronen rauschten im Wind, die Tiere asten, die Blumen dufteten...


    ...und der Stock zwischen Runhilds Fingern zerbrach.

    Sie hatte Zeichen gesehen. Viele Zeichen.


    Runhild hatte schon lange vor den Menschen begriffen dass ein Wandel im Süden anstand. Und sie sah sie nicht zum ersten Mal. Es war lange her, viele Sommer waren vergangen seitdem die Düsternis das Reich ergriffen hatte, das sich so eng an ihre Heimat klammerte, und sie erinnerte sich noch gut an die Konsequenzen die das so oft gehabt hatte.


    Der Kaiser war tot. Die Götter haben es gesprochen, und ihn zu sich geholt. Sollten die Römer denken dass es Pluto war, oder die Menschen ihrer Heimat Hel dafür verantwortlich machen, Runhild wusste dass es vollkommen gleich war, welchen Namen man dafür aussprach. Die Nornen hatten entschieden, und so ward es geschehen.


    Runhild stand auf der Lichtung vor ihrer Hütte, und streichelte eine ihrer Ziegen. Sie brauchte nicht auf die Schritte zu lauschen, sie wusste dass sie kommen würden.


    "Heilsa, Diother, Sohn des Adalbert.", sprach sie mit der für sie typischen Spur von Spott in der Stimme, "Die Antworten die du zu erfragen gekommen bist sind da. Aber bist du bereit sie zu hören?"


    Als sie sich umwandte sah sie einen in Fell und teuren Stoff gekleideten Hünen, hinter ihm zwei stämmige Kerle die unsicher um sich blickten, als würden sie einen Hinterhalt erwarten. Ihre Hände waren an den Griffen ihrer Schwerter verkrampft, und Runhild sah sie skeptisch an.


    "Haben deine Männer den Respekt vor dem Alter verloren, Diother, dass sie diesen Ort mit Waffen betreten?"


    Ein Wink des großen Edelmannes, und die Männer zogen sich langsam zurück, immernoch misstrauisch um sich blickend.


    "Warum ich gekommen bin weißt du also.", donnerte die Stimme des Mannes über die Lichtung, doch nicht einmal die Tiere ließen sich von ihr schrecken, "Dann weißt du auch ob ich die Antwort erhalten werde, was sollen diese Spielchen, alte Frau?"


    Runhild lächelte. Der Mann versuchte das letzte bisschen seines Stolzes in Trotz zu retten. Es würde ihm nicht gelingen.


    "Nun... das ist deine Entscheidung, Sohn des Großen. Wird es dich enttäuschen, wenn ich dir sage dass die Zeit nicht gekommen ist, um das zu nehmen was den Söhnen deiner Väter genommen wurde?"


    Und tatsächlich, Enttäuschung machte sich auf dem Gesicht des Mannes breit. Er hatte so sehr darauf gehofft, dass jegliche Vernunft zur Seite geschoben wurde.


    "Aber... ich kann dir sagen, dass die Zeit kommen wird, junger Diother. Nur nicht jetzt. Das Reich ist stark, auch wenn es schwach scheint, doch es werden andere Zeiten kommen. Opfere den Göttern, damit sie es dir gönnen diese Zeiten zu erleben. Mehr wirst du nicht erfahren. Gehe jetzt."


    Immernoch mit einer gehörigen Portion Enttäuschung im Blick wandte sich der Mann um, weggeschickt wie man einen Unfreien sandte. Er wusste dass dies nicht richtig war, dass er mehr verdient hatte, doch die Angst vor dieser Frau ließ ihn erschauern...
    Als er wieder im Wald verschwunden war, um mit seinen Männern die lange Heimreise nach Hause anzutreten, war Runhild schon wieder auf ihre alten Knie gesunken und streichelte das Fell einer ihrer Ziegen.


    Noch nicht.