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Beiträge von Ragin
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Es war kein Stein, der Ragin vom Herzen fiel. Es war eine gesamte Gerölllawine. Sie verstanden ihn nicht nur, er wurde auch gleich empfangen, wie man sich untereinander eben empfing, wenn man die germanischen Sitten lebte. Gastfreundschaft wurde groß geschrieben in seinem Volk, und selbst die Ärmsten der Armen boten einem Gast Verpflegung und ein Dach über dem Kopf an, einfach, weil es zum guten Ton des Miteinanders gehörte. Ragin schloss die Augen und schickte in Gedanken ein Dankesgebet zu Frigga.
„Natürlich“, beeilte er sich zu sagen, auf die Worte das Heim betreffend hin. "Das ist wirklich freundlich, danke. Ihr ahnt gar nicht, wie gut es tut, zwischen all den Römern vertraute Worte zu hören. Ich hole nur eben mein Bündel, damit es nicht jemand mitnimmt“, sagte er ehrlich und tat genau das. Mit dem Kleiderpacken über der Schulter kam er zurück, es waren ja nur ein paar wenige Schritte gewesen, und platzierte es drinnen neben der Tür an geeigneter Stelle, so dass es nicht im Weg war, aber auch nicht entwendet werden konnte. Dann würde er dem anderen, Witjon, folgen.
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Es dauerte eine Weile, dann hörte Ragin Schritte hinter der Tür, und kurz darauf wurde ihm geöffnet. Wärme drang ihm aus dem Haus entgegen, und der Mann, der ihm geöffnet hatte, wirkte römisch. Hoffentlich hatte er Glück. Ragin wusste nicht wohin mit seinen Händen, also ließ er die Arme einfach hängen. „Heilsa. Entschuldige die Störung… Ich bin Ragin Selmarsson und bin auf der Suche nach Lando von der Sippe der Duccier“, versuchte er es auf Germanisch mit seinem chattischen Dialekt. Es blieb ihm nichts anderes übrig als zu hoffen, verstanden zu werden. Irgendwo im Inneren des Hauses knackte gerade ein Holzscheit im Feuer. Ragin musterte den jungen Mann vor sich, ohne dabei unhöflich erscheinen zu wollen. Verstand er ihn? „Jemand sagte mir, das sei sein Haus.“
Sim-Off: Verus, ich habe nichts gegen einen kleinen Auflauf. Wegen mir kannst du gern mitmischen.
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Bald war das Treiben so dicht geworden, dass Ragin vom Pferd gestiegen war und das Tier am Zügel hinter sich her geführt hatte. Zig Menschen hatte er befragt, wie er zu dem Mann kam, von dem er nun den Namen kannte. Nicht einer von sieben hatte seine Sprache gesprochen. Sogar einige Perlen hatte er für die gewünschte Information angeboten. Aber viele waren einfach an ihm vorbeigezogen. Erst die achte Person, eine ältere Frau, hatte sich seiner erbarmt. Sie sprach Germanisch, einen nördlicheren Dialekt zwar, aber Ragin verstand sie. Und sie hatte ihm erklärt, wie er zu Landos Haus kommen würde. Das Wort Regia, das der Soldat verwendet hatte, hatte er nicht deuten können. Er kannte es nicht.
Nun stand Ragin ein wenig entfernt davon und betrachtete es. Es wirkte auf ihn seltsam. Nicht ganz römisch, aber auch nicht ganz germanisch. Er hoffte nur, dass man ihn hier verstand. Sonst wüsste er nicht, was er tun sollte. Mit ungutem Gefühl band er das Pferd nahe dem Eingang fest. Seine Habseligkeiten stellte er auf der untersten Stufe des Eingangs ab. So würden sie ihm weniger schnell geklaut werden, und er wollte nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen, wenn er klopfte und um Hilfe bat. Ein letztes Mal fuhr er sich durch den Bart. Er straffte sich. Dann hob er die Hand, ballte sie zur Faust und klopfte zweimal.
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Ragin dachte an den schmalen Dolch, den er unter dem Wams bei sich trug. Auf einen Wink des Soldaten hin umstellten ihn vier Männer. Ragin hatte Mühe, sein Pferd ruhig zu halten. Es wollte unruhig tänzeln. Unwirsch riss er die Zügel zurück. Das Tier rollte mit den Augen und warf den Kopf nach hinten. Plötzlich wurde Hufschlag laut. Wie konnte das möglich sein? So schnell so viele Reiter zu organisieren? Und warum misstraute man ihm? Er kam doch in friedlicher Absicht.
Ragin fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Er würde sich nicht herunterputzen lassen. Ein Germane gab nur selten klein bei. Deswegen bemühte er sich, ein erhabenes Gesicht zu machen, auch als der römische Soldat irgendetwas sagte. Ragin verstand ihn nicht, nur den Namen des Mannes, den er suchte. Dann kamen die ersten Reiter in Sicht. Das Pferd tänzelte nervös. Die Leute um Ragin herum machten Platz. Er tat es ihnen gleich und lenkte das Tier an die Seite, ein wenig näher zu den Soldaten hin, damit sie nicht dachten, er wollte abhauen.
Einer der Reiter hielt an und sagte etwas zu dem Soldaten vom Tor. Ragin runzelte verständnislos die Stirn. Er fühlte sich unwohl, und das war noch untertrieben. Dann setzte sich die Reiterkolonne wieder in Bewegung, aus der Stadt hinaus ins offene Land hinein. Auf der Römerstraße. Die Hufen klapperten munter. Ragin sah ihnen hinterher und blickte dann den Torsoldaten an. Er winkte ihn hinein. Verstanden hatte er nichts, aber die Geste wusste er zu deuten. So gelangte er ins Innere der Stadt.
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Entlang des Rhenus war deutlich zu erkennen, dass dies das Gebiet der Römer war. Hier werkelte man an Befestigungsanlagen, dort exerzierte eine Gruppe Römer. Ragin sah auch einige Kinder am Fluss spielen. Es war ein mulmiges Gefühl, das von ihm Besitz ergriffen hatte. Er fühlte sich unwohl, und diese Empfindung nahm zu, je weiter er der Stadt kam. Mogontiacum nannten die Römer die Stadt. Ragin hatte den Dorfältesten ausgefragt. Er war es auch, der ihm den Namen genannt hatte.
Bald kam die Palisade der Stadt in Sicht. Ragins Herz klopfte wild. Nie hätte er gedacht, dass er sich freiwillig so nahe an die Römer heranwagen würde. Doch er tat es. Wann immer er zauderte, rief er sich in Erinnerung, warum er das tat. Er wollte seine Frau finden. Sie zurück holen. Neu kennenlernen. Sie sollte einen guten Ehemann haben, und Ragin glaubte, dass er ihr immer ein guter Mann gewesen war. Das sollte nicht aufhören, nur weil er sie nicht hatte beschützen können, als sie in Schwierigkeiten war. Plötzlich hielt das Pferd an. Ragin befand sich am Ende einer Schlange, die vor dem Tor wartete. Dort vorn durchsuchten manche Römer die Leute, winkten andere wiederum einfach vorbei. Ragin bekam schwitzige Hände. Seine Kehle schnürte sich zu. Er ging freiwillig zu seinen Feinden. Verdrehte Welt. Dann war er an der Reihe.
„Heilsa. Walja at Duccius. Ähm. Lando“, stammelte Ragin in seiner Sprache und war sich fast sicher, dass der Soldat gleich sein Schwert ziehen und ihn niederstrecken würde. Sein Pferd schnaubte unruhig und schraubte die Ohren nach hinten. Ragins Herz klopfte wild gegen seinen Brustkorb.
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Dass ihn keiner begleiten wollte, verstand Ragin nicht. Während der ersten Woche waren ihm viele Dinge wieder eingefallen. Er erinnerte sich an Kleinigkeiten. Man hatte ihm erzählt, dass man die Leichen der anderen gefunden hatte. Nur Isfridu und er waren nicht darunter gewesen. Ragin wusste jetzt, dass man Isfridu versklavt hatte, falls er überhaupt noch lebte. Dann würde er wohl jenseits des Rheins sein, oder vielleicht schon in der großen Stadt der Römer. Bis dorthin würde Ragin auch gehen, wenn er musste. Er konnte seine Frau doch nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. Schließlich hatte er eine Verantwortung ihr gegenüber. Allerdings konnte er auch nicht einfach losspazieren und sie zurückholen. Dann würde er schnell ihr Schicksal teilen. Nein, so naiv war Ragin nicht. Das dachten nur die anderen. Die, zwischen denen er lebte. Aber heimisch fühlte er sich dennoch nicht.
Sein Vieh war ohnehin aufgeteilt worden. Verlegen hatte man es zurückgebracht, nachdem er wieder da war. Jetzt verschenkte er es willkürlich. Er hatte keine Verwendung mehr für die Tiere. Sein Ziel lag südwestlich von hier, jenseits des Rhenus. In einer Römerstadt sollten halbrömische Germanen wohnen. Dort wollte er nach Hilfe fragen. Schließlich konnte er kein Wort Latein. Er besaß auch nichts als das, was sich in der Truhe befunden hatte und was er am Leibe trug. Damit würde er nicht weit kommen. Vielleicht konnten sie ihm helfen. Er hoffte es. Er würde es auf gut Glück versuchen.
So packte er ein weiteres Mal sein Bündel, nach nicht einmal zwei Wochen unter seinesgleichen. Eine Kuh hatte er gegen ein Pferd getauscht. Es war ein grober Ackergaul, aber das war besser als nichts. Einen Sattel gab es nicht für das Tier, was das Verstauen des Gepäcks schwierig machte. Doch Ragin schaffte es. Er nahm nur das wenige mit, das er besaß, einen Laib Brot und einen Schlauch voll Met, darüber hinaus zwei Decken. Dann sagte er den fremden Freunden Lebewohl. Sein Ziel war die Römerstadt.
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Ragin stand vor einer Truhe in seinem Haus. Er hatte sie aufgeklappt und starrte nun den Inhalt an. Ein sauber gefaltetes Wams von dunkelroter Farbe lag dort. Zwei Paar Hosen aus Leder. Ganz unten ein warmer Umhang mit grober Fibel. Zerschlissene, aber saubere Stiefel. In einem Fach am Deckel waren die wertvollsten Dinge verstaut. Er musste nicht nachschauen, denn daran erinnerte er sich. Bunte Perlen, Schnallen und Schließen beherbergte das Fach. Und zwei grobe Armreifen aus Bronze. Ein kleiner Spiegel lag darin. Ragin erinnerte sich, wie seine Frau am Tisch gesessen und hineingesehen hatte. Manchmal hatte sie leise gesummt. Ihm hatte das immer gefallen. Nun war das Haus leer. Welch Ironie des Schicksals!
Er klappte die Truhe wütend zu. Dann trat er dagegen. Ein schnell organisiertes Willkommensfest hatten sie gefeiert. Met und Gebratenes hatten sie geteilt. Aber niemand hatte ihm in die Augen sehen können, wann immer er nach seiner Frau gefragt hatte. Erst ein kleiner Junge hatte ihm verraten, was geschehen war. Sie war von einem Ausflug nicht mehr zurückgekehrt. Keiner war das, der sie begleitet hatte. Und sie waren nie bei der befreundeten Sippe angekommen. Das war vor zwei Wochen gewesen. Und dafür gab es nur eine Erklärung: Die Römer hatten ihre Finger im Spiel gehabt. Das bedeutete, dass sie entweder tot oder in die Sklaverei verschleppt worden war. Ragin ballte die Fäuste. Hatte er nur überlebt, um jetzt das zu erfahren?
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Als Ragin heimkehrte, was er im Übrigen erst am nächsten Morgen tat, war die Hütte verlassen. Ragin wusste nun, wer er war. Er wusste, wohin er gehörte. Und dass er eine Frau hatte. Die Blonde aus seinen Träumen. Auch wenn sie sehr seltsam gewesen waren, als es um diese Tatsache ging. Ob sie bereits wieder einen anderen zum Mann genommen hatte? Er hätte froh sein sollen, sie getroffen zu haben, doch er war es nicht. Er hatte Fragen beantworten sollen, denn die drei Jäger waren sich unsicher gewesen, ob es wirklich Ragin gewesen war, der ihnen da gegenüber gestanden hatte. Und Ragin war nicht fähig gewesen, ihnen ihre Fragen zu beantworten. Zumindest den Großteil. Letztendlich hatten sie ihm doch geglaubt, dass er sich nicht erinnerte. Sie würden am Abend am Treffpunkt warten, um ihn nach Hause zu holen.
Ragin hatte Angst davor. Er erinnerte sich nicht. Was, wenn ihm jemand etwas Falsches erzählte? Ihm einen Bären aufbinden wollte? Nachdenklich saß er vor dem Römerhelm am Tisch. Er stutze seinen Bart. Zuerst hatte er überlegt, ob er ihn ganz abrasieren sollte. Aber er habe einen Vollbart gehabt, hatten die anderen ihm erzählt. Nur nicht so lang und wild. Deswegen hatten sie ihn erst nicht erkannt. Als Ragin fertig war, packte er seine wenigen Sachen in ein Bündel. Dann wartete er.
Markward kam erst am späten Nachmittag. Ragin hatte sich ein paar Mal entschieden, ohne eine Verabschiedung zu gehen, den Entschluss dann aber wieder verworfen. Er hatte seine Schuld beglichen, fand er. Aber ohne ein letztes Danke zu gehen, brachte er nicht übers Herz. Als Markward eintrat, fiel sein Blick sogleich auf das Bündel auf dem Tisch. Ragin stand auf. Er wusste nicht, was er sagen sollte. „Dann erinnerst du dich also“, sagte Markward nüchtern. Ragin nickte, auch wenn es so nicht stimmte. „Sie warten auf mich.“ „Dann solltest du keine Zeit mehr verschwenden. Es war mir eine Ehre, dich kennenzulernen, Ragin.“ „Ich wünsche dir ein langes Leben, Markward. Die Wanen und Asen mögen dich auf deinen Wegen stets begleiten. Und ich werde dir immer dankbar sein.“ Eine unangenehme Pause entstand. Markward machte eine unwirsche Geste. „Nun geh, sie werden nicht ewig warten. Und Abschiede liegen mir nicht!“ Da verließ Ragin die Hütte, in der er über ein halbes Jahr gelebt hatte. Und wider Erwarten verspürte er ein wenig Trübsal, als er sich auf den Weg zum Treffpunkt in sein neues altes Leben machte.
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Ein Stückchen noch. Ragin schob sich vorwärts. Keinen Laut verursachte das Laub um ihn herum. Nicht ein Zweig streifte ihn. Er war ein guter Jäger. Das wusste er. Seitdem er für das Fleisch sorgte, konnten sie jeden Tag ein wenig davon essen. Das Reh war abgemagert. Vermutlich war es deswegen ganz allein. Auch die Tiere fanden wenig Nahrung, selbst jetzt, wo bald der Frühling Einzug in den Landstrich halten würde. Aufmerksam spielte das Tier mit den Ohren, lauschte in alle Richtungen, während es mit dem Huf karge Gräser freischarrte. Ragin hob den selbst gebauten Bogen. Einen Pfeil hatte er bereits auf die Sehne gelegt. Vorsichtig spannte er den Bogen. Er zielte genau auf das Herz.
Plötzlich war da ein trockenes Knacken. Das Reh schnellte herum, strauchelte. Und ging dann in die Knie. Ragin starrte den gefiederten Schaft an, der aus der Brust des Tieres ragte. Sein Pfeil lag noch auf der Sehne. Auf der anderen Seite des Tieres raschelte Laub. Stimmen wurden laut, jemand johlte. Ragin duckte sich. Dann kamen die Gestalten in Sicht. Sie knieten sich neben das tote Reh, untersuchten es und beglückwünschten sich zu ihrem Erfolg. Ragin starrte nur, unschlüssig, ob er sich bemerkbar machen oder fliehen sollte. Er wollte nicht vom Regen in die Traufe geraten. Schließlich entschloss er sich zur Flucht. Rückwärts suchte er seinen Weg, auf allen Vieren durch das Unterholz. Aber einer bemerkte ihn. Er hatte ein Rascheln nicht vermeiden können. Ein Speer und zwei gespannte Bogen richteten sich auf ihn, die Pfeile bereit, von der Sehne zu schnellen. “Komm da raus“, befahl einer. Das Unterholz bot nur wenig Sichtschutz im Winter. Sie hatten gesehen, dass er kein Fuchs war.
Ragin stand auf. Er ließ den Bogen fallen. Einer der Fremden senkten den seinen ebenfalls, der Mann mit dem Speer stützte sich auf seine Waffe. Alle drei starrten sie ihn an, als sei er ein Wolpertinger. Ragin wusste nichts zu sagen, bis einer der drei das Wort ergriff. „Ragin?“ fragte er ungläubig.
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Tschack…. Tschack…. Tschack…. Ein wiederkehrendes Hacken hallte durch den Wald. Ragin schwitzte. Unter den Armen, auf Rücken und Brust warn dunkle Flecken zu sehen. Er hackte Holz. Wie ein Berserker ließ er die geschliffene Axt niedersausen. Länger als vier Monate war er nun schon hier, beinahe fünf! Es war zum Verzweifeln. Er ließ die Axt niederfahren. Zwei Scheite purzelten rechts und links herunter. Ragin verausgabte sich. Er wollte fort von hier, doch wohin, wenn er nicht wusste, wohin er gehörte? Markward hatte die Arme vor der Brust verschränkt und stand an die Tür der Hütte gelehnt da. In seinen warmen Umhang gehüllt, beobachtete er Ragin. Entlang der Hütte lehnten auf Trockengestelle gespannte Felle. Ragins Verdienst. Markward wusste, was er an ihm hatte.
Seit einigen Wochen ging Ragin regelmäßig jagen. Zu Anfang hatte ihn Markward begleitet. Der Alte hatte Angst gehabt, dass Ragin sich einfach aus dem Staub machen könnte. Mit der Zeit hatte er gelernt, ihm zu vertrauen. Und Ragin hatte dieses Vertrauen genutzt. Von Tag zu Tag blieb er länger fort und streifte weiter umher. Was er suchte, wusste er selbst nicht so genau. Es war befreiend, auf sich gestellt zu sein. Nicht den Alten dauernd in der Nähe zu wissen. Aber Erinnerungen waren keine mehr gekommen. Deswegen hackte Ragin Holz. So, als wären die Scheite Schuld an seinem Unvermögen, sich zu erinnern.
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Ragin. Das war sein Name. Er war nachts aufgewacht, weil eine blonde Frau in seinem Traum mit ihm gestritten hatte. Einen Egoist hatte sie ihn genannt. Und er hatte Sturkopf zu ihr gesagt. Danach war er aufgewacht und hatte nicht mehr einschlafen können. Er dachte an die Frau. Er erinnerte sich nicht an sie. Wer sie wohl war? Ob sie zu Hause saß und auf ihn wartete? Wo immer sein Zuhause auch war.
Ragin war allein, Markward war fort. Wieder einmal. Er hielt es nicht mehr aus. Draußen war es zwar kalt, aber angenehmer. Hier im Wald zwischen den Bäumen lag nur wenig Schnee. Markward hatte Ragin einen Umhang gegeben. Nur manchmal, wenn er unterkühlt von draußen herein kam, schmerzte sein Bein noch. Aber er konnte wieder laufen. Sogar springen, ohne dass es zu sehr schmerzte. Er war Germane. Es hätte für ihn das Todesurteil bedeutet, wenn er nicht wieder auf die Beine gekommen wäre. Wer in seinem Alter nicht seinen Teil für den Winter beisteuern konnte, wurde verstoßen. Er hoffte, dass die Frau, von der er träumte, auch ohne ihn zurecht kam. Vorerst. Ewig würde er nicht hier bleiben. Sobald er wusste, wer er war und wo er hingehörte, würde er Markward verlassen. Das wusste der Alte. Er sprach nicht mehr über den Vorfall mit den Römern, so oft Ragin ihn auch fragte.
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Ragin drehte den Römerhelm vor seinem Gesicht. Die gewölbte Oberfläche verzerrte sein Gesicht. Wer war er nur? Es war zum Verzweifeln. So oft kamen im Arbeiten, die er hier für Markward verrichtete, bekannt vor. Doch er konnte sich nicht erinnern, wo er sie schon einmal verrichtet hatte. Verzerrte braune Augen blinzelten ihn an. Ein ungepflegter, rotbrauner Bart umrahmte sein Gesicht. Wenn er sich doch nur erinnern könnte! Manchmal war ihm, als hörte er mitten in der Nacht ein Kinderlachen. Zuerst hatte er geglaubt, er erinnerte sich an seine Kinder. Doch etwas hatte ihm mit stoischer Halsstarrigkeit gesagt, dass er keine Kinder hatte. Und dass er traurig deswegen war. Es war einfach da gewesen, das Gefühl. Ohne, dass er es hätte näher beschreiben können.
Er ließ den Helm sinken. Plötzlich war da ein Name. Emmerich. Hieß er so? Etwas sagte ihm, dass es nicht sein Name war. Ragins Stirn war tief gefurcht, als Markward eintrat. Irgendwo rief ein Kuckuck. Der Alte setzte sich auf einen Holzklotz, der inzwischen als zweite Sitzgelegenheit fungierte, und goss ihnen beiden Met in einen Krug. Schweigend sah er Ragin an. Ganz so, als wartete er auf etwas. Der Alte war schon seltsam. Manchmal war er stundenlang verschwunden. Aber er hatte Ragin geholfen, vermutlich hatte er ihm sogar das Leben gerettet. Es wäre undankbar, ihm weiterhin zur Last zu fallen. Also hatte Ragin begonnen, Markward Gefälligkeiten zu erweisen. Soweit es eben in seiner Macht stand. Er hatte eine undichte Stelle an der Hütte ausgebessert und einige Fallen gebaut, die ihnen nun öfter Fleisch bescherten. Neuerdings hackte er Holz. Und doch hatte er stets das Gefühl, an anderer Stelle sehr viel dringender gebraucht zu werden. Aber einfach zu gehen, kam für ihn nicht in Frage. Er schuldete dem Alten etwas. Und Ragin war niemand, der eine Schuld nicht abbezahlte. Was ihm erneut etwas über ihn verraten hatte: Er war pflichtbewusst.
„Weißt du immer noch nicht, wer du bist?“ fragte Markward ihn plötzlich und drehte den Metkrug mit leicht zusammengekniffenen Augen in den Fingern. Ragin sah ihn nur betroffen an und schüttelte den Kopf. Markward schwieg. Er trank einen Schluck. Dann sprach er. „Ich weiß nicht, wie du heißt. Aber du und deine Kameraden, ihr habt den Römern das Leben schwer gemacht, da im Wald.“ Ragin hing an den Lippen des Alten. Vielleicht konnte er dadurch mehr über sich erfahren. „Warst mehr tot als lebendig, als ich dich weggeholt habe. Bestimmt haben sie dich deswegen liegen gelassen. Deinen Kameraden ging es nicht so gut. Einen haben sie mitgenommen... Was ihr getan habt, war dumm. Ihr hättet dieses Pack nicht angreifen sollen.“ Der Alte machte eine ruppige Handbewegung. Ragin empörte sich. „Wir haben sie nicht angegriffen, das war ein…“ Kälte breitete sich in ihm aus. Verdutzt sah er Markward an. „Unfall“, murmelte er. Und wieder hatte er ein Puzzlestück gefunden.
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Fast zwei ganze Monate waren vergangen, ehe Markward Ragin gestattete, aufzustehen. Wie hatte er den Moment herbeigesehnt! Nicht nur, dass er sich endlich wieder bewegen durfte, hob seine Stimmung. Auch, dass er nicht mehr den Topf benützen musste, um seine Notdurft zu verrichten. Sein erster Weg führte ihn auf schwankenden Beinen hinaus vor die kleine Hütte. Zumindest hatte er angenommen, dass es eine Hütte war. Nun aber musste er feststellen, dass dies nur zum Teil stimmte: Ein ziemlich windschiefes Brettergebilde lehnte sich an einen hohlen Baumstamm an. Das, was er für ein Fenster gehalten hatte, war in Wirklichkeit ein ausgefeiltes Astloch. Ragin staunte. Es musste seinen Retter große Anstrengung gekostet haben, sein Heim zu bauen.
Er ließ sich in einiger Entfernung zu der Hütte auf einem umliegenden Baumstamm nieder und musste sich eingestehen, dass bereits dieser kurze Weg ihn erschöpft hatte. Nachdenklich betrachtete er das vorübergehende Heim und fragte sich, ob auch er in einem solchen Konstrukt lebte. Laub raschelte. Markward kam um die Ecke, in den Händen zwei tote Hasen. „Heute gibt es ein Festessen“, sagte er mit seiner schartigen Stimme. Ragin lächelte schwach und half Markward halbherzig, die Tiere auszunehmen.
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Markward wechselte seinen Verband. Die Abstände, in denen er das tat, waren größer geworden. Das musste heißen, dass er wirklich auf dem Weg der Besserung war. Ragin sah genau hin. Fein säuberliche Stiche waren quer über seinen Oberschenkel zu sehen. Es schmerzte immer noch, wenn der Alte zu ruppig vorging. Ragin fragte sich, ob er je wieder jagen konnte. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Hammerschlag. Er war Jäger! Kein Römer! Er musste gegen die Römer gekämpft haben. Wenn er das Puzzle doch nur lösen könnte! Doch noch fehlten Teile. Ob auch die Frau ein Puzzleteil war, von der er manchmal träumte? Vielleicht war sie seine Frau. Oder seine Schwester. Für seine Mutter war sie zu jung. Aber würde Ragin dann nicht etwas fühlen, wenn er an sie dachte?
Allmählich erlangte er seine Kräfte zurück. Meistens gab es Suppe, manchmal ein Stück Fleisch. Der Alte schien kein besonders begnadeter Jäger zu sein. Wenn Ragin sich wieder an alles erinnerte, nahm er sich vor, wollte er seinem Retter zeigen, wie man öfter Fleisch auf den Tisch bekam. Zum Dank. Nicht, weil er ihn mochte. Denn der Alte war ebenso seltsam wie er schweigsam war.
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Tage waren seit seinem Ausflug vergangen. Er hatte es nicht einmal geschafft, wieder aufzustehen. So hatte Markward ihn am Tisch sitzend gefunden. Der Alte hatte ihm eine lange Strafpredigt gehalten und ihn mit erstaunlicher Kraft zurück auf die Felle befördert. Ragin hatte ein schlechtes Gewissen bekommen, als der alte Mann sich seinetwegen so abplagen musste. Seit diesem Zwischenfall hatte er nicht mehr versucht, aufzustehen. Markward war noch wortkarger geworden. Und noch seltener anwesend. Inzwischen konnte Ragin wieder nachts schlafen. Am Morgen standen Brei und Früchte neben frischer Milch nahe bei seiner Lagerstatt, doch Markward war stets fort. Ragin fragte nicht, wohin er ging. Er würde es ihm doch nicht sagen.
Es war irgendwann gegen Mittag, als Ragin sich an einen Kampf erinnerte. Hastig setzte er sich auf. Nur noch leichter Schwindel überkam ihn, wenn er das tat. Markward rührte im Suppentopf, blickte jedoch fragend zu ihm. Ragin erzählte ihm, woran er sich erinnerte. Viel war es nicht. Er gestand dem Alten, dass er sich fragte, wo der Rest seiner Rüstung sei. Markward schaute verdutzt. Dann brach er in schallendes Gelächter aus und warf Ragin den Römerhelm zu. Eine Erklärung gab er ihm nicht. Und Ragin war verwirrter als je zuvor.
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Wie lange war er nun schon hier? Seit wann lag er auf den Fellen und brütete über seine Vergangenheit? Er wusste nicht einmal, wer er war. Oder wie er hergekommen war. Und der Alte, der sich selbst passenderweise als Markward bezeichnete, als Grenzwächter, war auch nicht sehr hilfreich. Seine Worte beschränkten sich auf Dinge das Essen betreffend und ausweichende Antworten. Lange würde er sich nicht mehr damit abspeisen lassen!
Jede Nacht verschwand Markward. Dann war Ragin allein. In den ersten Nächten hatte er sich gefürchtet wie ein kleiner Junge. Markward hatte kein Licht zurückgelassen. Namenlose Schemen umkreisten Ragin und flößten ihm Furcht ein. Er war froh, wenn die Sonne die ersten Strahlen durch das unförmige Fensterloch schickte. Dann konnte er schlafen. Markward sprach nur selten mit ihm und wenn, dann nur, um ihn zu ermahnen oder seinen Fragen auszuweichen. „Wer bin ich? Wo komme ich her? Wieso bin ich hier? Bin ich dein Gefangener? Wo sind die anderen?“ Das fragte Ragin. Er wusste nicht, woher er es wusste, aber dass da noch andere gewesen waren, war eine Gewissheit.
Irgendwann hielt er es nicht mehr aus. Markward war noch nicht lange fort, da stemmte sich Ragin auf die Ellbogen hoch. Die Anstrengung war erheblich. Keuchend saß er schließlich auf den Fellen, die seit Wochen sein Lager darstellten, und sah sich um. Am Kamin lag ein polierter Römerhelm. Augenblicklich griff die Angst nach Ragins Herz und drückte zu. Nur langsam entwand er sich ihrem Griff. Er schlug die Decke zurück und musterte sich selbst. Sein linkes Bein war dick verbunden. Es schmerzte, wenn er auf den Verband drückte. Ragin tastete nach seinem Kopf. Auch hier war ein Verband straff angelegt. Ihm schwindelte. Dennoch wollte er aufstehen und sich sehen. Vielleicht fiel ihm dann wieder ein, wer er war. Langsam torkelnd humpelte er zum Tisch und setzte sich auf den einzigen Stuhl. Er war erschöpft. So sehr, dass er sich fragte, ob er den kurzen Weg zurück zur Lagerstatt noch schaffen würde. Und da war der Römerhelm. War es seiner? Wenn ja, wo war der Rest seiner Rüstung?
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Schätzungsweise drei Jahre zuvor
Das Schwert verfehlte ihn nur um eine Handspanne. Ragin duckte sich und durchlief flink den Angriff des Römers. Er rammte ihm seinen Dolch zwischen die Rippen und stieß ihn zurück. Ein morastiges Geräusch erklang, als der Feind zu Boden ging. Neben sich hörte er einen Schmerzensschrei, dann Gurgeln. Ragin riss den Kopf herum. Eben schnitt ein Römer mit seinem Legionsdolch seinem Vetter die Kehle durch. Alriks Augen waren groß und starr vor Schreck. Wie von Sinnen versuchte er, die klaffende Wunde in seiner Kehle zusammenzuhalten, doch vergebens. Er ging in die Knie, sackte zusammen. Dann rührte er sich nicht mehr. Überall war Blut! Nur noch drei! Ragin griff nach einem Stein und holte aus. Blechern schepperte der Helm des Römers, doch er wankte nich einmal. Ragin biss die Zähne zusammen. Er durfte sich nicht vollends von der Wut übermannen lassen! Er musste zurückkehren. Sie würde doch auf ihn warten. Und es war doch alles nur ein Versehen gewesen. So schnell war es gegangen. Der Pfeil, der den Hirsch verfehlt und plötzlich in der Brust eines Soldaten gesteckt hatte. Hel allein wusste, wo sie plötzlich hergekommen waren!
Vier hatten sie niedergestreckt. Drei waren übrig. Einer von ihnen kam auf Ragin zu, schleuderte ihm seltsame Worte entgegen. Hinter Ragin knackte ein Zweig. Sie kreisten ihn ein! Emmerich schrie ihm eine Warnung zu. Ragin warf sich zur Seite, rollte sich ab und kam wieder hoch. Emmerich war an seine Stelle getreten. Gegen zwei von ihnen hatte er keine Chance. Auch er fiel. Nun waren es nur noch Isfridu und er. Tränen verschleierten Ragins Sicht, als er seinen Schlegel hob und auf die Römer zustürmte. Dann war alles schwarz um ihn.
Als Ragin erwachte, blinzelte er in eine Welt aus grellem Schmerz. Die Geräusche des Waldes dröhnten in seinen Ohren. Hingebungsvoll stöhnte er. Er wollte seine Hand heben, doch es hielt ihn jemand fest. Es war warm. Es roch nach Suppe. Ragin versuchte, die Augen zu öffnen. Alles tat ihm weh. Sein linker Oberschenkel besonders. Und der Kopf. Woher kam die Hand? Er wollte sich aufrichten, doch jemand drückte ihn zurück. Es war nicht der Waldboden, auf dem er lag. Und diese sengenden Kopfschmerzen! Eine Stimme sagte etwas. Sie klang alt. Auch die Hände fühlten sich runzelig an. Es war nicht die Römersprache, die er hörte. „Du musst still liegen“, sagte der Alte dann. Ragin hätte weinen mögen. Jemand sprach seine Sprache. Er war nicht allein! Nur was war geschehen? Er erinnerte sich nicht. Dann sog ihn erneut eine wattige Schwärze auf.
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