Es war einst die edle Tochter eines vornehmen Patriziers. Gefangen in den Mauern eines wilden Fürstenmannes, der sie geraubt hatte aus den Armen und dem Schoße ihrer Familie. Sie harrte der Ankunft eines mutigen Patriziers, der sie befreien sollte und zu seinem Weibe nehmen würde. Ein mutiger Heroe. Ein tapferer Feldherr. Die Augen des Jungen würden leuchten bei jener Geschichte. Er würde sich als diesen Helden vorstellen und würde ohne zu zaudern aufbrechen, um jene Edeldame zu erretten. In seinen Gedanken zumindest. Es war dennoch die Aufgabe seines Vaters. Und nicht die des Sohnes jener Dame. Zudem war der schmale Körper des Knaben kaum dazu geeignet um sich den grausamen Schergen des Fürsten zu stellen, der über wilde Stämme herrschte, die trotzig ihre Stirn dem mächtigsten Imperium der Weltscheibe entgegen reckten, den Römern, die dazu auserkoren waren, über die Welt zu herrschen. Zumindest war das auch das Verständnis des Jungen, der sich unter der Welt nur die Zeichnungen seines hellenischen Lehrers vorstellen konnte. Oder noch besser, wenn jener mit großen Steinen auf dem Boden des Gartens die Karte der Welt darstellte. Für den gerade mal fünfjährigen Jungen auch eine Herausforderung. Wie sollte er verstehen, wie groß jene Länder waren. Ameisen huschten über die Steine, die er mit einem Schritt bemessen konnte. Italia, zwei Schritte. Africa, fünf Schritte. Konnte es sein, dass hinter diesem mysteriösen Meer, das erst einst als kleiner Knabe gesehen hatte bei einem Familienausflug, ein Land gab, das größer war als Italia? Das für den Jungen schon die ganze Welt bedeutete. Nein. Undenkbar.
Die dunklen Augen des Jungen wanderten über das rauschende Blättergeäst des claudischen Gartens. Sein Kopf war wieder ganz woanders. Seine Finger schlossen sich fester um den kleinen Feldherrn, gemacht aus Holz, Stroh und Stoff, gerüstet in einer kleinen Legionärsrüstung, mit Helm und einem Gladius in der Hand. Ein teures Geschenk an den gut behüteten Patrizierjungen aus der flavischen Gens.
Titus war nicht von ungemeiner Aufmerksamkeit. Immer nur, wenn seine Neugier geweckt wurde. Aber so bemerkte er das Nahen seiner Mutter erst, als sie bereits auf der Höhe des Jungen und Lynkos war. Er sah auf und spähte in die strahlende Sonne, die ihn blendete, ehe er seine Mutter erkannte. Jene Frau, die ihn vor fünf Jahren geboren hatte und die ihm fremder war als so manch eine Sklavin, die sich um den Jungen mehr kümmerte als die Claudierin. Titus schürzte seine Lippen und sah ernst zu Antonia hinauf. Er legte das erste Mal heute den kleinen Feldherrn aus seinen Händen, stützte sich mit den Handballen im Kiesbett neben der grünen Wiese ab und erhob sich auf seine Füße, die in Sandalen mit feinen Lederriemen steckten. „Nein, das möchte ich nicht, Mutter.“, sprach der Knabe leise und mit nicht mehr so forscher Stimme, wie er zuvor die Fragen an den Haussklaven gerichtet hatte. Jupiter und Juno, sie waren dem Jungen manchmal näher als sein eigener Vater und Mutter. Beide sahen den Jungen an, als ob er aus weiter Fremde kam. Als ob nichts in ihm, sie berühren konnte. Oder womöglich schreckte es sie ab, dass er ihr Sohn war? Eine Frage, die sich Titus manchmal schon unbewusst stellte. Wenn er sah, wie die Sklavenkinder von ihren Eltern behandelt wurden. Aber es waren nun mal Sklaven, nur eine Stufe über den Tieren. Seine Eltern waren Patrizier und Vornehme, ein Schritt nur bis zum himmlischen Olympos. Titus reckte seine schmale und klein gewachsene Gestalt, die zu zögerlich zu wachsen schien und seinem Alter noch nicht ganz entsprach. Dafür schienen die dunklen Augen in dem runden Gesicht etwas altkluges zu besitzen, was seinem Alter voraus war. „Ich werde ganz viel lernen, damit du und Vater auf mich stolz sein könnt, Mutter.“, gelobte Titus. Ein sehr förmliches Latein sprach er dabei, auch wie er Antonia ansprach. Er hatte einen guten Lehrer, der ihm in dieser Hinsicht schon von der ersten Stunde an um ein gutes Latein bemüht hatte, auch wenn der Junge gar zu jung dafür erschien.
Die Augen richteten sich auf den Sklaven, der seinem Vater wohl am Nächsten stand von dem Besitz des Flaviers. Der all das in die Hand nahm, worum sich ein Patrizier nicht selber kümmern würde. Der der Schreck der Sklaven des Hauses war. Allein darum hatte er einen Funken Respekt in dem Jungen geweckt. Herrschen, obwohl man nur ein Ding war. Besitz, ein Sklave. Nichtswürdig sonst. Und doch gefürchtet wie ein Feldherr. Und das war Sciurus gar. Herrschte er doch als Feldherr über die Sklavenschaft im Namen des Kaisers des Hauses, Flavius Gracchus.
Stumm verfolgte der Junge, was der Blonde von sich gab. Er verstand es nicht. Der Name seines Vaters wurde genannt und was hatte das mit Staatsfeinden zu tun. Sein Vater war der Staat. Sein Vater war einer der höchsten Priester. Sein Vater diente den Göttern. Er war die Stütze des römischen Imperiums. Titus sah verwirrt von Sciurus zu Antonia und schlussendlich seinen griechischen Lehrer hinüber. Der sah selber zu Titus und nickte ihm dezent zu. Was Titus zu verstehen geben sollte, dass jener ihm später Rede und Antwort stehen würde. Für all die Fragen, die der Junge offen auf seinem Gesicht zur Schau trug. „Sciurus, wo ist mein Vater?“, sprach der Junge hingegen nur aus. Dekret? Was sollte das auch heißen? Und warum hatte der Sklave Wachen hier postiert? „Kommt er bald und holt uns ab? Gehen wir dann alle nach Africa in das Exil?“ Titus sprach einfach aus, was er dachte. Lynkos hatte derer schon angedeutet, dass sie gar auf dem großen Schiff in die Fremde fahren würden. Als Titus ihn befragte, wie groß jenes fremde Africa wohl war, das das Land der herrschsüchtigen und verderblichen Königin Kleopatra, der Feindin Roms, war, das das Grab des Feldherrn Alexander barg.
Einige Steinwurf von dem Gut entfernt
Trocken rauschten die Zweige der Olivenbäume. Schwere, genagelte Stiefel traten über den staubtrockenen Weg hinweg, der sich an einem Hain von Bäumen, einem Feld mit goldenen Weizenzweigen hin weg schlängelte. Stiefel, die schon bessere Zeiten erlebten, denn die Riemen waren abgetragen, die Sohlen an manchen Stellen brüchig bis löchrig und wurden gerade mal von den guten Nägeln noch zusammen gehalten. Ebenso die Reste der Uniform, die nicht den Weg zum Händler gefunden hatten, um ab und an mal etwas Brot zwischen das Gebiss, das nicht mehr sonderlich prächtig erhalten war, zu bekommen. „Ein Haus!“ Paulus Sacabos' Augen verengten sich, die Handvoll Männer, ebenso in den Kleidern von Legionären gehüllt, blieben hinter ihrem Kommandanten stehen. „Es sieht nach einem vornehmen Landgut aus, Centurio.“ Sacabos nickte langsam. „In der Tat. Wie weit ist die nächste Stadt?“ Der breitschuldrige Legionär Varus runzelte grübelnd die Stirn. Er kam aus der Gegend, auch wenn er schon seit fast zwanzig Jahren keinen Fuß mehr in diese gesetzt hatte. „Zwei Tagesmärsche.“ Sacabos nickte zufrieden. „Sehr gut. Wir werden hier nach...dem Rechten sehen, Männer. Age!“ Breites Grinsen in den Gesichtern des Dutzend Männer, die hinter Sacabos her liefen. Direkt auf das Landgut der Claudier zu, ohne Zaudern auch als zu sehen waren, dass Wachen aufgestellt worden waren. „Heee!“, rief Sacabos als er schließlich die Mauer erreichte. „Im Namen des Imperiums, macht die Tore auf für die Legionäre des Kaisers.“, brüllte Sacabos laut den Wachen entgegen. Die Männer und Legionäre hatten tatsächlich so etwas wie eine Marschformation wieder aufgenommen. Nur ein kundiges Auge würde womöglich erkennen: Hier stimmte etwas nicht.