„Das Leben ist ein Wandern in einem bergigen Gebiet: Mal geht es runter, mal geht es rauf. Das ist natürlich, also trag' alles mit Fassung.“
Warum kamen ihm nun auf einmal alle Sprüche in den Sinn, die Theodosius, sein ehemaliger Herr, ihm einmal gesagt hatte, in allen passenden und unpassenden Augenblicken? Doch Zeit zum Sinnieren blieb Aias nicht, denn jetzt ging es wieder hinauf. Allerdings nur drei kleine Stufen. Auf ein Podest. Von oben sollte man einen wunderbaren Blick haben, hatte ihm noch vor fünf Minuten einer seiner Leidensgenossen in einem der Verschläge ironietriefend gesagt, doch für Aias sah das folgendermaßen aus: Rein körperlich erhöht, aber rein psychisch ganz unten. Mit einer Wahrscheinlichkeit von einhundert Prozent lag es an der unfassbaren Situation, obwohl der junge Mann immer schon geahnt hatte, dass es einmal so kommen würde. Theodosius war ein Chaot von einem stoischen Epikurer, der seine Philosophie mit dem Wind wechselte und in den Tag hinein lebte. Dazu zählte er zu den Leuten, die nach nicht einmal einem vernünftigen Abendbrot von einem Tag behaupteten, es wäre der beste ihres Lebens gewesen, nur weil sie drei schöne Zeilen in einem halbverfallenen Papyrus hatten lesen dürfen. Die Kraft des geschriebenen Wortes tröstete Theodosius dann auch über das nicht vorhandene Frühstück hinweg und trug ihn sogleich auf goldenen Schwingen hin zu seiner Schulbaracke, um sich von undiszipliniertem Volk von maximal sechzehn Jahren die zerzausten Haare noch grauer färben zu lassen. Sein Herr war nämlich Lehrer gewesen, und Aias so etwas wie sein „Sohn“, dem er all sein Wissen hatte weitergeben wollen. Das funktionierte gut und so lange bis das literaturvernarrte Schulmeisterlein der Schlag getroffen hatte. Das geschah erst vor wenigen Tagen. Nun stemmte Aias sich weder gegen den Wunsch des Sklavenhändlers vorzutreten, noch gegen sein Schicksal. Er hatte nicht nur seinen Herrn verloren, sondern auch einen väterlichen Freund, Mentor 'Pflegefall' und damit sein Lebenszentrum. Mitten auf der Bühne kam er schließlich zum Stehen.
Schon hatte der Herr Tranquillus angefangen zu reden und ihn anzupreisen, doch Aias bekam das alles kaum mit. Statt zuzuhören, senkte er den Blick auf seine Hände. In den neunzehn Jahren seines Lebens war es ihm nie zuvor derartig bewusst gewesen, dass er ein Sklave war. Erst in den bei Titus Tranquillus hatte ihn diese Erkenntnis mit aller Härte getroffen. Sein Leben war kein schlechtes gewesen, auch wenn es nur in aller denkbaren Einfachheit stattgefunden hatte, doch was würde nun kommen? “...und hatte auch den Schlüssel zur Truhe des Hauses.“
Sie hatten kein Haus, sondern lebten in einer Form des urbanen Mietnomadentums und Aias war immer bemüht gewesen, noch das letzte As seines Herrn nicht gerade in der Truhe zu verstecken. Da hätte er es zuerst gesucht, um es für ein Schriftstück zu veräußern. Sparen war oberste Devise und Theodosius war ihm ofmals dankbar gewesen. Und sparen wollte man, denn seitens seines Herrn hieß es immer: Man 'könnte' ja nach dem schönen Griechenland reisen, oder nach Alexandria. Faktisch war es dann beim Konjunktiv geblieben und sie waren nicht einmal bis Ostia gekommen. Mangels Masse und auch wegen dem zunehmenden Rheumatismus des alten Herrn. Und jetzt? Jetzt stand er hier ohne die Welt gesehen zu haben. Das alles für die Miete, die Theodosius schuldig geblieben war und überhaupt als das einzige, was er hinterlassen hatte. Wenn man von den leidlich gebildeten Geistern seiner unterprivilegierten Schüler einmal absah.
Verstohlen biss Aias sich auf die Unterlippe und wagte einen Blick auf die Leute, die sich eingefunden hatten. Er schluckte schwer, blickte flüchtig zu dem Herrn Tranquillus und schaute wieder auf die Bretter dieser Bühne. Ein massives flaues Gefühl stellte sich ein. Dazu kam noch ein Herz, das bestimmt gleich platzen würde, weil es so heftig schlug. Aias war eigentlich kein Drückeberger – es wäre sowieso hier nicht möglich gewesen – sondern er war eher jemand, der sich Herausforderungen stellte, sich zum Beispiel wunderbar an der Schlange an einer Garküche durchsetzen konnte und überhaupt das spartanische Daheim zumindest verbal gegen Spötter zu verteidigen wusste. Doch dieses ganze Geschehen hier umklammerte ihn wie eine Zwinge aus Eisen. Noch am gestrigen Tag hatte er sich gewünscht, dass sich niemand für ihn interessieren würde. In der letzten Nacht hatte er dann nicht schlafen können und war zu dem Entschluss gekommen, dass das Leben selbst für jemanden aus dem niedrigsten aller Stände ja irgendwie weiter gehen musste. Er hatte sich die verschiedensten Dinge ausgemalt, die ihn in seiner Zukunft erwarten konnten. Doch vielleicht war er was das anging einfach zu aufgewühlt gewesen, was im Hier und Jetzt dazu führte, dass sein Verstand ihm nun erschien wie eine dröge Scheibe Brot und seine weichen Knie sich anfühlten, als wären sie die Butter dazu. Besonders, als er die ersten Gebote hörte. Er konnte einfach nicht aufblicken, sondern fummelte sich verstohlen an den Fingern herum.