Jeder kannte diese kleine schäbige Barracke wie es in Rhakotis tausende gab. Sie stach nicht gerade hervor, weder in Größe, Pomp, Ausstattung, noch war sie baufälliger, als die Gebäude ringsherum. Trotzdem kannte jeder das rote Eckhaus, dem der Putz von den Wänden gefallen war und Wind und Wetter hatten den Mörtel darunter angegriffen. Die rote Farbe war verblasst, nur noch in Ansätzen zu erkennen, schemenhaft, aus Pharaonen-Zeit. Über den Eingängen zu beiden Seiten flatterten bereits durchlöcherte Jalousien als Schutz vor allzu starker Sonneneinstrahlung und neugierigen Blicken. Das Innere war verdunkelt. Tagsüber war hier wenig los. Ein Bettler gammelte am Hauseingang. Nachts kamen abundzu Abordnungen der städtischen Polizei vorbei, sagte man. Es kursierten die wildesten Gerüchte und haarsträubendsten Spekulationen über dieses Haus und seine Bewohner, doch imgrunde wußte es jeder.
Eigentümer der Immobilie war ein örtlicher Bestattungsverein. Diese Tatsache allein mochte schon ausreichen, um die Phantasie manch unbedarften Zeitgenossen zu beflügeln, doch gab es mindestens ein Dutzend solcher Vereinigungen, gerade hier in Rhakotis, die es ärmeren Leuten gestatteten, bei Zeiten Vorsorge für Ihre Bestattung zu treffen. Was sich jedoch zwischen Tag und Nacht, im Halbdunkel, sozusagen im Nebel der Geschichte, abspielte, dass wußte niemand, der nicht in die näheren Dunstkreise dieser Vereinigung aufgestiegen war - SOCIETAS NIMBACTI•D(IS)•M(MANIBUS)" stand auf einem unscheinbaren, winzigen Schild neben dem im Dunkeln liegenden Eingang. Ich war ihr beigetreten mit 15 Jahren und damit nach römischen Recht mit meiner Volljährigkeit. Ich bin Römer, Sohn eines römischen Tribuns bei der Flotte, den ich nie kennengelernt hatte. Meine Mutter erzählte mir wenig von ihm und bis heute hatte ich wenig Verlangen mehr über meine Herkunft und meine Familie zu erfahren. Die Geschichte ist etwas für Alte Menschen, die ihr Leben gelebt haben und sich in Korbsesseln vor dem Haus den lieben, langen Tag die Sonne auf den Kopf scheinen ließen.
Meine Mutter war schwer krank. Aus Sorge um ihre Gesundheit und dass sie einmal im Jenseits auf mich warten würde, hatte ich Vorkehrungen getroffen und mich an die örtliche Bestattervereinigung gewandt. Das Aufnahmeprozedere glich einem seltsamen Ritual, bestehend aus bürokratischen Formerfordernissen und mystisch angehauchten Gebetsformeln. Ich stand vor einem Tisch mit drei Personen. Der Obere in der Mitte begutachtete mich eindringlich. Der rechte würdigte mich keines Blickes, sondern protokollierte nur alles mit und das mit äußerster Sorgfalt und Akribie. Der Linke starrte mich ebenfalls an, doch er sprach nicht. Reden tat nur der Obere zwischen den Beiden. Er schwor mir Treue ab und schärfte mir ein, die Mitgliedschaft in den NIMBACTUS sei ein ewiger Bund über den Tod hinaus. Sie sei verbunden mit einer engen Gefolgschaft, in der die Mitglieder füreinander einstünden und sich als soziale Gruppe in der Gemeinschaft engagierten. Meine Pflichten seien - neben den Zahlen des monatlichen Zins, der sich nach der Höhe meines Gehaltes richtete - die unbedingte Anwesenheit an den Feiern zu den Gedenktagen der Laren und Manen, jener Geister der Ahnen, die im Jenseits auf uns warteten, und die regelmäßige Pflege von Kult- und Grabstätten. Bei hohen Feiertagen bestimmten die Bestattungsvereinigungen Delegationen ihrer Mitglieder, die diese in der Stadt und auf den Feierlichkeiten vertraten. Dafür erwartete mich eine "integrierende Gemeinschaft" und die Gewissheit, dass ich und meine Familie gut versorgt seien.
Der Obere benahm sich wichtiger, als ich es zu erahnen vermochte. Einige meiner Bekannten, Freunde und Nachbarn waren ebenfalls Mitglied in einem Bestattungsverein. Es war allgemein, gesellschaftlicher Usus. Nicht ohne Grund verfügten diese Art der Vereinigungen über einen nicht unerheblichen Einfluss im Inneren gegenüber ihren Mitgliedern sowie im Äußeren gegenüber der Polis. Der Glaube an ein besseres Leben im Jenseits war immanent. Die Bestattungsvereinigungen profitierten hiervon, indem sie die verheißungsvollen Sehnsuchtsbedürfnisse dieser zumeist "kleinen Leute" erfüllten oder vorgaben, sie zu erfüllen.