Heute würde die ganze Welt untergehen. Das hatte mir meine Zwillingsschwester zwar nicht direkt so mitgeteilt, aber doch spürte ich, wie sie und ich, wir beide, es schon seit heute morgen ahnten. Dabei sei natürlich darauf hingewiesen, dass der "Morgen" sich in unserer Welt nicht an irgendwelchen Lichtverhältnissen orientierte, sondern einfach nur daran, wann unsere Mum anfing, aktiv zu werden, herumzulaufen und zu reden. Ein bisschen hatten wir es noch hinauszögern können. Dann ließ sich der Lauf der Dinge einfach nicht länger aufhalten...
Meine Schwester war hierbei natürlich die Erste, wie sie schon unsere gesamte gemeinsame Existenz lang immer die Hauptrolle gespielt hatte und mir nur eine kleine Nebenrolle zukommen ließ. Wen wunderte es da also, dass sie die Größere von uns beiden war? Wen wunderte es also, dass sie die Schwerere von uns beiden war? Wen wunderte es also, dass sie mich auch jetzt wieder übertrumpfen musste? Mich wunderte es nicht. Und trotzdem liebte ich meine Schwester über alles, fühlte mich ihr auf eine Art und Weise verbunden, die sich kaum beschreiben ließ - erst recht nicht mit meinem doch äußerst bescheidenen Vokabular.
Mutig war sie vorangegangen. Entschlossen hatte sie unsere gemütliche kleine Höhle, in der wir doch eigentlich immer alles hatten, was wir brauchten, verlassen. Dann war ich der Nächste, der sich auf dieses Licht zubewegen sollte - dieses Licht, von dem es kein Zurückkommen gab, dieses Licht, das keine Wiederkehr kannte, dieses Licht, welches das Ende der ganzen Welt, das Ende meiner Welt, bedeutete.
Wollte ich das überhaupt? Wollte ich überhaupt meine ganze bisher bekannte Welt aufgeben, nur um später sodann eine neue Welt zu entdecken, die mir am Ende vielleicht gar nicht gefiel? Noch dazu waren die Anstrengungen enorm, die mir hier abverlangt wurden, nur um meiner Schwester irgendwie nachzufolgen. Aber sie, ja, sie war am Ende der wahrscheinlich überzeugendste Grund, in das Licht und in diese völlig neue, unbekannte Welt zu streben - trotz aller damit verbundenen Anstrengungen. Wie nämlich sollte ich je ohne meine geliebte Zwillingsschwester sein? Was dann geschah, war die reinste Tortur. Ich mochte es gar nicht beschreiben - und tue es deshalb auch nicht. Wichtig war nur, dass ich es am Ende ebenfalls irgendwie überstand. Zwei warme Hände empfingen mich in einer insgesamt aber sehr kalten Welt.
Ich fror, ich musste selber atmen und das Blut pochte laut in meinen Ohren. Dazu fehlte mir meine Zwillingsschwester, die bisher nie mehr als eine Armlänge von mir entfernt gewesen war. Da begann ich zu weinen - aber nur kurz. Denn auch für mich, ich erwähnte es, war diese Geburt eine anstrengende Tortur gewesen. So verstummte denn meinen Weinen also, während man mir eine weiche zweite Haut anlegte. Kalt fand ich es hier draußen aber trotzdem. Ob ich vielleicht auch genau deshalb nur viele kleine Atemzüge machte, anstatt diese kalte Luft wirklich tief einzuatmen? Und ob mein Herz vielleicht auch nur deshalb so unregelmäßig schlug, weil mir meine große Zwillingsschwester als Taktgeberin fehlte? Ich machte ein unglückliches Gesicht. Ich war müde.