Athen war eine äußerst beeindruckende Stadt, so etwas ähnliches hatte Paulus bisher noch nie zuvor gesehen gehabt. Ganz anders als Myra. Eigentlich hatte er schon seine Heimatstadt für ziehmlich stattlich gehalten (auch wenn er gehört hatte, dass die Heimat seiner Familie, Antiochia, noch prächtiger sein sollte, ganz zu schweigen von Megametropolen wie Alexandria oder Rom), doch verglichen mit dem pulsierenden Leben und der Architektur und der Größe überhaupt hier war Myra ein hoffnungsloses Provinznest bzw. Fischerdorf. Staunend wanderte Paulus mit seinem neuen Olivenholzstab (in dem er einen Fisch hineingeschnitzt hatte) durch die sich drängenden Menschenmassen und versuchte sämtliche Eindrücke auf einmal in sich aufzunehmen und hinter seinem geistigen Auge zu bannen. Wohin man sah nichts als Menschen, Menschen und nochmal Menschen, eingerahmt mit einem prächtigen Hintergrund aus Häusern, erbaut aus Stein, Holz und Marmor. Und über all dem thronte gut sichtbar von jedem denkbaren Standpunkt die Akropolis, gleich einem marmornen Kronjuwel mit ihrem übergroßen Tempel der Athena Parthenos. Paulus vermutete, dass von den Dimensionen her nur wohl der Tempel des Zeus in Olympia und der Kapitolische Tempel in Rom mit dem Parthenon von Athen mithalten konnten, eine wirklich bemerkenswerte Leistung von menschlicher Schaffenskraft und Intuition. Trotz aller griechischer Vorherrschaft an diesem Ort war jedoch der römische Einfluss durchaus auch da und dort zu bemerken. Soldaten und Offiziere der römischen Legionen sah man immer wieder Mal in der Menge und vereinzelt fanden sich auch einige römische Bürger in Togen gekleidet, oder Frauen, deren Kleidung, Frisuren und Schmuck römisch anmutete. Auch Domi und Insulae nach Art der Besatzer fanden sich inzwischen im Stadtbild dieser Polis.
Als Paulus nach seiner Ankunft die Athener Agora erreichte, verdichteten sich die lateinischen Tedenzen. Hier standen nach wie vor die althergebrachten griechischen Markt- und Verwaltungsgebäude, doch nur etwas weiter östlich erhob sich eine eigene römische Agora, wo man wesentlich mehr Togenträger antraf, als Paulus bisher hier zu Gesicht bekommen hatte.
Ein Scheppern ließ Paulus aufhorchen und sich umdrehen. Einem Mann mit blondem Haupthaar waren mehrere Amphoren zu Boden gefallen und krachend zerschellt. Wie selbstverständlich steuerte er auf den Unbekannten zu und bückte sich seinerseits, um die Scherben aufzuheben. Der Mann, der offensichtlich keine Hilfe erwartet hatte, schaute verwundert auf und lächelte ihm erfreut zu.
Aristophanes, Amphorenhändler
"Hab Dank, mein Freund für deine Hilfe." sprach er. Paulus nickte ihm wohlwollend zu und wollte sich wieder umdrehen, als der Fremde plötzlich sein Handgelenk packte. Erstaunt starrte er auf das Fischsymbol in Paulus' Olivenstab, dann blickte er wieder ihn selbst an, ehe er noch breiter lächelte und sagte: "Was für ein wunderschöner, kräftiger Wanderstab! Du musst von weither kommen, oder? Ich bin Aristophanes, wie nennst du dich, Wanderer?"
Die Art wie Aristophanes Paulus' Stab betrachtet hatte, ließ darauf schließen, dass er wohl die Bedeutung des Fisches durchaus erkannt hatte und deshalb plötzlich so aufgeschlossen war. Doch mit welcher Absicht? Wollte er ihm helfen, oder schaden? "Mein Name ist Paulus, ich komme aus Myra in Anatolien." antwortete er ihm. Es bestand für ihn wohl keine Gefahr, weshalb er bei Aristophanes vorerst einmal von guten Absichten ausging. "Nun, Paulus aus Myra, ich freue mich deine Bekanntschaft zu machen! Ich habe schon einiges von Myra gehört, wollen wir nicht auf ein Schlückchen Wein irgendwo einkehren? Ich würde gerne mehr von deiner Heimatstadt hören, falls du mir davon erzählen willst. Ich lade dich ein."
"Hab Dank für dein großzügiges Angebot, jedoch bin ich gerade erst in Athen angekommen und..."
"Macht nichts, macht nichts", unterbrach ihn da der Amphorenhändler mit abwehrender Geste, "ich kann dich schon verstehen, dass du dann natürlich nicht gleich wieder stillsitzen willst. Doch weißt du was? Sei mein Gast heute Abend! Bestimmt hast du noch keine Bleibe für die Nacht, oder?"
Paulus schüttelte den Kopf. "Na also! So komm heute Abend zu mir und ich werde dich reich bewirten und du kannst mir von deinen Reisen erzählen, na wie klingt das?"
Sein herzensgutes Angebot freute Paulus sehr. "Ich nehme an und bedanke mich jetzt schon dafür, dass du mir Obdach für diese Nacht bieten willst. Zu erzählen gibt es jedoch nicht so viel wie du denkst, fürchte ich."
Lachend streckte ihm Aristophanes die Hand entgegen, "Das macht doch nichts, ich habe auch so gerne Gesellschaft! Es freut mich, dass du einwilligst! Mein Haus liegt direkt westlich des Areopag mit einer großen Front, bewachsen mit Weintrauben, du kannst es nicht verfehlen! So auf bald, mein neuer Freund!" "Auf bald", antwortete Paulus mit einem Lächeln und ergriff Aristophanes' Hand zum Abschied, ehe er weiter seiner Wege ging, um noch mehr von Athen zu sehen. Wie im Vorbeigehen hatte er sich gerade ein Quartier für die Nacht beschafft, wenn das kein gutes Zeichen für seine kommende Zeit in Athen war.