Beiträge von Flavia Philotima

    Die grüne Palla über den Kopf gezogen, so steht Philotima in der Menge der Zuhörer. Ein Bruder hat in ihrem Auftrag den Redner Philo von Amastris bei diesem Wettbewerb angemeldet. Auch alles weitere ist vorbereitet. Als der vermeintliche Philo an der Reihe ist, besteigt die Flavia ohne Zögern die Rostra.
    Sie schlägt das Tuch zurück. Ihre Stimme ist klar. Getragen von der Macht der ihr anvertrauten Botschaft und im geübten Duktus der Predigerin erklingt Philotimas Rede auf dem Forum Romanum:


    "Gibt es im weiten Erdenkreis ein Reich, das sich messen kann mit der Macht des ewigen Rom?
    Hat es jemals eine Stadt gegeben, deren Pracht der Herrin auf den sieben Hügeln gleichkam?
    Wird es jemals ein Reich geben, das an Vorzüglichkeit an das unsere heranreicht?
    Welch ein Wunder ist Roma!"
    , ruft Philotima aus, das Gesicht gen Himmel gehoben, aufrecht und vom Licht bestahlt, mit raumgreifender Geste und dem Anschein mitreißender Euphorie.
    "Die Welt staunt, geblendet vom Glanz der Ewigen. Aus allen Ländern reisen die Menschen herbei, die Wunderbare mit eigenen Augen zu sehen. Von Huldigungen überfließen ihre Altäre und stetig strömt das Gold der Provinzen heran, die Strahlende noch gleißender zu machen!"


    Ein Augenblick der Stille folgt. Die Flavia läßt ihren Blick über die Menge schweifen. Sieht die auf dem Forum versammelten Menschen. Die bessere Gesellschaft Roms. Die Würdenträger auf der Tribüne. Die Kaiserin selbst.
    Ein Bruch geht durch ihre Rede.


    "Ist es das, was ihr erneut hören wollt?", fragt sie eindringlich. "Ihr wackeren Männer und Frauen Roms, hohe Staatenlenker, ehrwürdige Augusta? Sind es weitere Worthülsen, nach denen euch der Sinn steht? Leere Phrasen, blumige Ornamente und rhetorischer Glitterkram?! Honig ums Maul?!
    Ihr, wir, alle Menschen der Stadt wissen es, ja das ganze Weltreich weiß es:
    Roma ist verdorben bis ins Mark."


    Anklagend erhebt die Prophetin die Hand gegen die Menge, fixiert Senatoren, vornehme Damen, besonders prachtvoll gekleidete Gestalten. Ein fanatischer Glanz, oder ist es ein gerechter Zorn, liegt in ihren Augen, als sie noch lauter wiederholt:
    "Bis ins Mark verdorben und verrottet!
    Woher rührt denn eure Macht? Aus Blut und Mord!
    Was liegt unter eurem falschen Glanz? Das Elend der Geknechteten!
    Und was finden wir, wenn einmal die Tünche der Vorzüglichkeit abgewaschen ist? Das Laster, das euch von innen zerfrisst!
    Ja, da steht ihr, überfressen und aufgeputzt in eitlem Purpur und mit goldenen Ringen, hier um den wortgewandtesten Schmeichler zu küren.
    In dieser Stadt gibt es Kinder, die haben nichts zu essen! Kinder, deren Eltern keine Bürger sind, Kinder bei denen man die Rippen zählen kann, und die ohne Schuhe sind, wenn der Winter kommt.
    Von dem, was einer eurer Purpurstreifen kostet, da würde eine ganze Familie ein Jahr lang satt!
    Ihr residiert in lichten Villen und kennt nicht das Elend der Armen, zusammengepfercht in den düsteren Verschlägen den Insulae, stets vom Einsturz und Feuer bedroht. Oder gar das derer, die ganz ohne Obdach, alt und krank auf den Straßen dieser Stadt dahinsiechen! Wie Vieh haltet ihr eure Sklaven, lasst sie schuften, bis sie daran sterben, nur damit ihr immer noch reicher werdet. Bis zum letzten Blutstropfen presst ihr die Provinzen aus, mordet ganze Völker, wenn sie nicht vor Roma in die Knie gehen!
    Und doch spürt ihr in euch die Leere. Ihr sucht sie zu füllen mit noch größerer Raffgier, mit Luxussucht, mit Intrigen und Lüsternheit und hohlen, immer noch grausameren Spektakeln. Allein zu eurem Zeitvertreib lasst ihr Menschen in der Arena einander totschlagen.
    Ihr stolzen Söhne und Töchter Romas, die ihr euch die Elite der Welt dünkt... ihr seid das größte Übel der Welt!"


    Tief atmet Philotima ein. Bis hierhin war es eine Brandrede. Nach dem nächsten Satz gibt es kein zurück mehr. Nein. Ein zurück gab es nie, seitdem der Ruf sie ereilt hat.
    "Vor Götzenbildern sucht ihr das Schicksal zu bestechen. Schachern glaubt ihr zu können, um euer Leben und Tod. Doch ich sage euch: umsonst steigt euer Weihrauch zum Himmel, umsonst fließt der Opfertiere Blut, ihr Fleisch und eure Gaben machen nur eure Priester immer reicher und fetter. Machtlos sind eure falschen Götzen. Sie werden euch nicht beschützen können, wenn der Sturm kommt!"


    Die Arme hebt sie zum Himmel, vermeint, das dräuende Unwetter bereits zu erblicken, und beschwört mit blitzenden Augen dessen Macht:
    "Denn der Sturm erhebt sich! Schon bald, Männer und Frauen vom Rom, schon bald wird er diese Stadt hinwegfegen. Vom Antlitz der Erde wird er sie tilgen! Wie die stolzen Mauern von Ilion, wie die Türme von Babylon, wanken und fallen wird diese Stadt und dieses Reich, und auftun wird sich das Erdreich, ausspeien die Legion aus der Tiefe, Larven und Lemuren werden sich gütlich tun an eurem Fleisch, und verdammt werdet ihr sein!
    Verdammt werdet ihr sein auf ewig!
    Wenn ihr nicht umkehrt, und das jetzt, solange ihr noch könnt.
    Werft ab den falschen Prunk, legt ab den eitlen Purpur und die Fesseln eures Goldes jetzt und hier! Geht in euch und sucht Läuterung! Schwört ab dem Laster! Gebt euren Reichtum den Armen, lasst eure Sklaven frei, seid gütig zueinander, öffnet eure Häuser und eure Herzen! Tut Buße für eure Sünden, und der HERR wird euch erretten, denn die Gnade des HERRN ist unergründlich. SEIN Reich wird kommen, und es ist nicht von dieser Welt. Wie Sand im Stundenglas ist euer irdisches Leben, Männer und Frauen von Rom... hört ihr, wie eure letzte Zeit verrinnt?
    Doch eure Seelen sind ewig. Rettet euch vor der Verdammnis, Brüder und Schwestern. Rettet eure Seelen!"


    Also spricht die Prophetin. Darauf wendet sie sich ab. Gemessenen Schrittes steigt sie hinab von der Rostra. Schlägt ihr Tuch übers Haar und taucht ein in die Menschenmenge. Um, ebenso plötzlich wie sie aufgetaucht, ist im entstehenden Tumult in der Masse zu verschwinden.

    Zwischen den Brüdern und Schwestern, an der Mitte der langen Tafel, sitzt Philotima. Während des Gottesdienstes hat sie gespürt, wie die Macht Gottes durch sie hindurch wirkt. Ein Strom, der sich Bahn bricht. Eine Botschaft, deren bescheidenes Gefäß zu sein ihr bestimmt ist.
    Nun ist sie wortkarg, wie stets nach dem Predigen. Still leert sie eine kleine Schale mit Eintopf. Volusus macht sich derweil mit den beiden neuen Gesichtern bekannt. Sulamith, ein schöner und großer Name. Es gibt, außer Binah, der guten Seele, vor allem "Heidenchristen", bisher nur wenig "Judenchristen" in der Gemeinschaft. Das hat sich so ergeben.
    Philotima lächelt mild. Obgleich der Bruder drastische Worte wählt, sein großes Herz scheint wie immer hindurch. Sie legt den hölzernen Löffel in die Schale. Tupft sich den Mund ab. Zu den Schwestern über den Tisch gebeugt, bekräftigt sie seine Worte:
    "Ihr seid hier sehr willkommen, Graecina und Sulamith, Schwestern aus Kreta. Mein Name ist Philotima. Ich komme ebenso wie ihr von weit her. An den Gestaden des Pontus Euxinus hat mich SEIN Ruf ereilt und hierher bin ich ihm gefolgt. Wir sind eine Gemeinschaft tätiger Nächstenliebe."

    Weiter rezitiert Philotima aus dem Brief, nun von der Gottlosigkeit der Heiden.
    "So offenbart uns Paulus:
    Denn Gottes Zorn wird vom Himmel her offenbart über alles gottlose Leben und alle Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit durch Ungerechtigkeit niederhalten. Denn was man von Gott erkennen kann, ist unter ihnen offenbar; denn Gott hat es ihnen offenbart. Denn sein unsichtbares Wesen – das ist seine ewige Kraft und Gottheit – wird seit der Schöpfung der Welt, wenn man es wahrnimmt, ersehen an seinen Werken, sodass sie keine Entschuldigung haben. Denn obwohl sie von Gott wussten, haben sie ihn nicht als Gott gepriesen noch ihm gedankt, sondern sind dem Nichtigen verfallen in ihren Gedanken, und ihr unverständiges Herz ist verfinstert. Die sich für Weise hielten, sind zu Narren geworden und haben die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes vertauscht mit einem Bild gleich dem eines vergänglichen Menschen und der Vögel und der vierfüßigen und der kriechenden Tiere. Darum hat Gott sie in den Begierden ihrer Herzen dahingegeben in die Unreinheit, sodass sie ihre Leiber selbst entehren. Sie haben Gottes Wahrheit in Lüge verkehrt und das Geschöpf verehrt und ihm gedient statt dem Schöpfer, der gelobt ist in Ewigkeit. Amen.
    Darum hat sie Gott dahingegeben in schändliche Leidenschaften; denn bei ihnen haben Frauen den natürlichen Verkehr vertauscht mit dem widernatürlichen; desgleichen haben auch die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau verlassen und sind in Begierde zueinander entbrannt und haben Männer mit Männern Schande über sich gebracht und den Lohn für ihre Verirrung, wie es ja sein musste, an sich selbst empfangen. Und wie sie es für nichts geachtet haben, Gott zu erkennen, hat sie Gott dahingegeben in verkehrten Sinn, sodass sie tun, was nicht recht ist, voll von aller Ungerechtigkeit, Schlechtigkeit, Habgier, Bosheit, voll Neid, Mord, Hader, List, Niedertracht; Ohrenbläser, Verleumder, Gottesverächter, Frevler, hochmütig, prahlerisch, erfinderisch im Bösen, den Eltern ungehorsam, unvernünftig, treulos, lieblos, unbarmherzig. Sie wissen, dass nach Gottes Recht den Tod verdienen, die solches tun; aber sie tun es nicht nur selbst, sondern haben auch Gefallen an denen, die es tun."


    Darauf lässt sie die Schrift sinken und fährt mit ihren eigenen Worten inbrünstig fort:
    "So schrieb uns Paulus, und in diesem Sündenpfuhl, Brüder und Schwestern, leben wir hier in Rom tagtäglich. Wie fragt ihr, sollen wir uns rein halten, umgeben von Schmutz? Wie fragt ihr, sollen wir nicht verzagen, angesichts der Schlechtigkeit unserer Mitmenschen? Was kann unser eigenes kleines Tun schon ausrichten, verlacht von den Narren und verfolgt von den Grausamen?
    Der HERR hat uns die Antwort schon gegeben.
    Wie Lichter in der tiefsten Nacht, so ist es an uns zu leuchten und auch unseren Nächsten Licht zu spenden. Schwache Sünder sind auch wir, doch bußfertig. Wohl keiner unter uns hier kann sagen, er oder sie wäre niemals gestrauchelt. Doch im Gebet fragen wir den HERRN, wie wir uns bessern und läutern können, und mit offenem Herzen vernehmen wir seine Antwort und gehorchen ihm. In unserer Gemeinschaft halten wir einander, lieben einander von Herzen und achten aufeinander.
    Der HERR hat uns seinen Sohn gesandt, der für unsere Sünden gestorben ist! So werden in seiner unendlichen Liebe und Gnade auch unsere Sünden vergeben, wenn wir redlich an ihn glauben und in seinem Namen Gutes tun.
    Finsterstes Heidentum herrscht in dieser Stadt! Nicht verzweifeln soll uns dies lassen. Es soll uns Ansporn sein! Ein jeder, eine jede von uns hat die Frohe Botschaft vernommen. Ein jeder, eine jede von uns, ist dazu ausersehen, sie zu verbreiten. Geht hin zu den Sündern, haltet sie ab von ihrem schändlichen Tun und sprecht zu ihnen vom HERRN, helft ihnen, auf den Pfad des wahren Glaubens und der Tugenden zu gelangen! Denn es gibt welche unter ihnen, in denen noch etwas Gutes ist, und die wir noch retten können vor der ewigen Verdammnis, diese dürfen wir nicht im Stich lassen!
    Denkt stets daran: dies irdische Sein ist kurz, und schon bald wird er über uns kommen, der Tag des jüngsten Gerichts. Das Licht des Herrn ist in uns, seinen auserwählten Kindern. Lassen wir es leuchten! Amen."


    Auch einige andere Brüder und Schwestern, die sich heute berufen fühlen, treten nacheinander vor die Gemeinschaft und predigen aus dem Herzen.
    Danach spricht Philotima die Segensworte über Brot und Wein, und die Gemeinschaft teilt das Abendmahl.

    Die Gemeinschaft und ihre Gäste feiern die Abendandacht, versammelt im Atrium. Milder Kerzenschein liegt in verklärten Gesichtern. Kapuzenmäntel hängen im Vestibulum. Viele haben sich auf dem Weg zum Haus verhüllt oder verschleiert. Die Mitglieder der Gemeinschaft missionieren eifrig. Jede Woche sind neue Gesichter dabei. Neu Bekehrte, Sympathisanten, Sinnsucher, Rebellen im Geiste, Neugierige, oft auch Gäste aus den anderen christlichen Gemeinden der großen Stadt.
    Wo früher der Hausaltar der Casa Didia stand, ist nun eine Kapelle. Die Türen weit geöffnet. Laren und Penaten sind verschwunden, statt dessen hängt dort das Kreuz, daran der gemarterte Leib des Erlösers.
    Zuerst haben sie gemeinsam einen Psalm gesungen.
    Dann liest Philotima aus den Paulusbriefen. Fest und beseelt erfüllt ihre Stimme das Atrium.


    Vom Wunsch des Paulus nach Rom zu kommen:
    "Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus!
    So schrieb der Apostel Paulus an uns Römer:
    Zuerst danke ich meinem Gott durch Jesus Christus für euch alle, dass man von eurem Glauben in aller Welt spricht. Denn Gott ist mein Zeuge, dem ich in meinem Geist diene durch das Evangelium von seinem Sohn, dass ich ohne Unterlass euer gedenke und allezeit in meinem Gebet flehe, ob sich's wohl einmal fügen möchte durch Gottes Willen, dass ich zu euch komme. Denn mich verlangt danach, euch zu sehen, damit ich euch etwas mitteile an geistlicher Gabe, um euch zu stärken, das ist, dass ich zusammen mit euch getröstet werde durch euren und meinen Glauben, den wir miteinander haben. Ich will euch aber nicht verschweigen, Brüder und Schwestern, dass ich mir oft vorgenommen habe, zu euch zu kommen – wurde aber bisher gehindert –, damit ich auch unter euch Frucht schaffe wie unter andern Heiden. Griechen und Nichtgriechen, Weisen und Nichtweisen bin ich es schuldig; darum, soviel an mir liegt, bin ich willens, auch euch in Rom das Evangelium zu predigen."


    Vom Evangelium als der Kraft Gottes:
    "Und weiter schrieb uns der Apostel:
    Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die glauben. Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie geschrieben steht: "Der Gerechte wird aus Glauben leben."

    Volusus sieht seinen Fehler und erlegt sich selbst eine Buße auf.
    "So sei es."
    Der Kuchen steht noch immer da und verlockt. Doch nun erhebt sich Philotima und stellt ihn resolut bei Seite. Auch für die Gemeinschaft wird es Tage des Feiern geben, aber nicht heute. Und vor allem nicht mit für die Armen entwendetem Opfergut.
    Verlangt sie zu viel?
    Volusus Sünde ist die Völlerei.
    Ihre ist der Stolz.


    Die Mitbrüder und -schwestern fahren fort, von ihrem Tagewerk zu berichten:
    Melinus hat einer reichen Dame auf dem Markt, die gerade sehr viel Tand kaufte, ins Gewissen geredet. Er hat ihr eine Spende für das Waisenhaus abgerungen.
    Catula ist zu ihrer Familie zurückgegangen, um zu ihnen vom HERRN zu sprechen.
    Thaïs, die nach ihrer Bekehrung ihr Freudenhaus geschlossen hat, war wieder bei den Prostituierten und Zuhältern an der Via Appia, um auch sie von ihrem schändlichen Tun abzubringen. Sie haben sie verprügelt. Die Gemeinschaft spendet ihr Trost und Philotima macht ihr kühle Umschläge.
    Gnaeus ist nach langem Zaudern in vielen Gebeten zu dem Entschluss gekommen, in die Stadtkohorten einzutreten. Er sagt offen, dass er große Furcht hat, entdeckt und bestraft zu werden, dies aber auf sich nehmen will, um der Gemeinschaft und um ihrer Sache willen. Philotima bestärkt ihn darin.
    Achatius hat rote Farbe besorgt. Die nächste Aktion steht bevor. Denn wie in tiefem Schlaf dämmert die heidnische Masse ihrer Verdammnis entgegen. Es gilt sie aufzurütteln und ihr Bewusstsein zu wecken.
    Lanata hat warme Umschlagtücher für die Armen gewebt. Diese werden herumgegeben und gelobt.
    Jeder tut, was er kann.

    Philotima hört den Bericht ihres Bruders in Christo und lächelt milde. Wären doch alle so gut wie Volusus. Soeben will sie ihn loben, da steht mit einem Mal der köstliche Kuchen auf dem Tisch. Philotimas Blick wird streng. Doch beginnt sie bedacht:
    "Mein Bruder, ein gutes Tagewerk hast du vollbracht. Dein Einsatz für unsere armen Geschwister ist unermüdlich und dass du den Fleck des Götzendienstes auf deiner Seele in Kauf genommen hast, zum größeren Wohl und um unserer guten Sache willen, ist im höchsten Maße barmherzig."


    Sie wendet sich auch an die anderen Mitglieder der Hausgemeinde, denn diese Frage ist sehr umstritten. Hitzige Diskussionen hat es hier an diesem Tisch darüber gegeben und in der Vergangenheit, in einer anderen Gemeinde, hat man Philotima eine Radikale, eine Häretikerin gar genannt.
    Doch Philotima weiß: Durch Beten und Leiden allein ist das Himmelreich nicht zu gewinnen. Bisweilen gilt es, sich die eigenen Hände schmutzig zu machen, bisweilen gar die eigenen Seelen. Für die gute Sache natürlich. Stets für die gute Sache.
    Salbungsvoll spricht sie:
    "Denn das erste muss es stets sein, deren Hunger zu stillen. Lasst euch nicht beirren, Brüder und Schwester. Seligmachend ist die Armut der Genügsamen und Bescheidenen. Doch in den schwachen Seelen, da ist das Nagen des Hungers des Teufels liebstes Einfallstor. Erst laben wir sie mit Speisen und Wärme. Dann mit der frohen Botschaft. So soll euer Licht vor den Menschen leuchten."


    Darauf mahnt sie Volusus:
    "Der Pfad der Gerechten ist schmal, Bruder. Haben wir hier im Haus nicht Brot genug? Was bringst du uns dieses Naschwerk? Hättest du nicht besser daran getan, es ebenfalls den armen Seelen am Tiber zu geben?"

    Nach einem langen Tag tätiger Nächstenliebe bei den Ärmsten der Armen ist Philotima in das Haus zurückgekehrt.
    So viel Leid hat sie heute wieder erblickt. Wie gering dagegen der Bruchteil, den sie hat lindern können. Erst einmal hat sie ein Bad genommen, um den Schmutz und die Erinnerung an die eklen Gerüche von sich zu waschen. Dies ist eine der ganz wenigen Annehmlichkeiten, die Philotima ihrem sündigen Fleisch nicht verwehrt. Sie hat es schon immer geliebt zu baden. Das klare Wasser um sich zu spüren, das Gefühl der Reinheit. Mit einer Bürste hat sie ihren knochigen Körper abgeschrubbt. Das Haus hat sogar einen Wasseranschluss. Auch ihr grünes Kleid hat sie gewaschen und im Garten zum Trocknen aufgehängt. Ihr zweites Kleid, das sie nun trägt, ist aus grobgesponnener Wolle. Sie besitzt nicht viel Irdisches. Die Gemeinschaft teilt ihre Güter.
    Philotimas Haare sind noch feucht und hängen in einem losen Zopf geflochten über ihrem Rücken.
    Sie gesellt sich zu den anderen Mitgliedern der christlichen Untergrundgemeinschaft.
    "Guten Abend Brüder und Schwestern. Was habt ihr heute im Geiste unseres Herrn vollbracht?"

    Eine schmale Gasse am Fuß des Aventin. Graue Mauern, windschiefe Winkel. Wäscheleinen kreuz und quer über die Gasse gespannt. Nur wenig Licht fällt bis auf deren Grund, wo ein Rinnsal voll Unrat fließt.
    Hier liegt das Haus der Witwe Binah. Die gütige Hebräerin betreibt ein Waisenhaus. An Zöglingen ist kein Mangel. Ausgesetzte Säuglinge, Waisen, und manchmal auch Kinder, die zwar noch einen Elternteil haben, der aber so arm ist oder so krank, dass er nicht für sie sorgen kann.
    Die Räume des bescheidenen Hauses, geduckt neben großen Insulae, sind längst überfüllt. Geldmangel ist Binahs ständiger Begleiter. Getreidespenden gibt es nur für Bürger. Wenn die Kinder alt genug sind, helfen sie die Kleineren zu versorgen, und müssen durch Arbeit zum Lebensunterhalt beitragen.


    Seit einigen Wochen schon kommt Philotima regelmäßig. Sie hilft Binah, die Kinder zu unterrichten, und pflegt sie, wenn sie krank sind. Das ist häufig der Fall. Viele kommen unterernährt und schwach zu Binah. Sie haben krumme Rücken und husten. Aufgekratzte Mückenstiche werden zu Wunden. Anderen sieht man die Gebrechen an, wegen der sie ausgesetzt wurden. Ein dürres Mädchen humpelt mit einem Klumpfuß an einer Krücke umher. Ein kleiner Junge ist von einer monströsen Hasenscharte entstellt.
    Die Kinder kennen sie und drängen sich um sie. Hungrig nach Zuwendung streiten sie darum, wer von ihnen ihre Hand halten darf. Die Kleineren schmiegen sich an sie, wenn sie ihnen Geschichten erzählt. Heute ist es das Gleichnis vom barmherzigen Samariter.


    "... denn wer Gott wirklich liebt, der liebt auch seinen Nächsten."
    So endet die Geschichte.
    "Wir müssen uns richtig verhalten, genauso wie der barmherzige Samariter, und nicht immer nur erzählen, dass wir Gott lieben. Lasst uns nicht lieben mit Worten noch mit der Zunge, sondern mit der Tat und mit der Wahrheit. Gott will auch nicht, dass wir uns streiten, sondern dass wir jeden anderen lieben. Auch die Menschen, bei denen das nicht so einfach ist. Auch ein Kind, das euch vielleicht einmal geärgert hat, oder das manchmal ein wenig komisch ist. Wenn du Gott liebst, dann höre auf das, was er sagt. Dann gehorche ihm."
    Linkisch tätschelt Philotima die verlausten Köpfe. Nie hat sie viel mit Kindern anfangen können. Aber diese hier möchte sie bewahren vor der Verdammnis. Es bleibt nicht mehr viel Zeit! Unschuldig sind auch ihre jungen Seelen nicht mehr. Philotima hat gesehen, wie die Kinder wegen Nichtigkeiten blutige Prügeleien beginnen. Wie das Hasenschartenkind grausam verspottet wird. Wie die Kinder einander ein gutes Paar Schuhe neiden. Sie sieht wie das Darben die Rohheit und die Härte in ihnen wachsen lässt.

    Unter der steinernen Tiberbrücke haben die Bettler und Gestrandeten ihr Lager aufgeschlagen. Gerümpel und Abfälle liegen herum. Es riecht streng. Manche dämmern vor sich hin. Einer stiert ins Leere und spricht wirr. Zwei teilen sich einen Opferkuchen. Der Tiber fließt träge, die Wasseroberfläche ist matt, machmal treiben schlammige Blasen empor.
    Fliegen umschwirren einen vorgealterten Mann. Er ist zahnlos und in Lumpen. Seine Augen glühen im Fieber. An seinen Beinen trägt er offene Wunden. Schwärendes Fleisch, von gelbem Eiter überkrustet, tiefe Geschwüre bis auf die Sehne. Misstrauisch und von Schmerzen geplagt blickt er auf die Frau, die neben ihm kniet, und über einer Schüssel seine Wunden auswäscht. Ihr Haupt ist gebeugt, und die energischen Züge ganz konzentriert auf ihr Tun. Ihre hochgewachsene Gestalt erscheint asketisch. Unter dem ausgebleichten und geflickten grünen Kleid ist der Rand eines härenen Hemdes zu erblicken. Wenn sie spricht, dann weiß man kaum, ob zu sich selbst, oder zu dem Kranken.


    "Manchmal. Manchmal da habe ich einen Traum. Nachts.
    Es beginnt mit einem feinen Riss. Er zieht sich durch die Stadt. Ich stehe auf dem Forum, und sehe diesen Riss im Pflaster vor meinen Füßen, haarfein erst. Doch er wächst. Erst eine Handspanne breit. Die Menschen sehen auf von ihrem täglichen Treiben. Die Hunde beginnen zu bellen. Die Mütter ziehen ihre Kinder an sich. Die Wucherer ihre Geldsäcke. Umsonst klammert sich ein jeder an das, was ihm das Theuerste ist in dieser Welt.
    Denn der Riss klafft immer breiter, ein schwarzer Schlund inmitten der Stadt. Gebäude wanken, Steinblöcke fallen, Mauern krachen in den Abgrund, der immer größer wird, ein Maul, das hungrig alles zu verschlingen begehrt. Und dann steigen sie auf, aus der Tiefe, die Fratzen des Abgrundes, in schwefligem Rauch, die schwirrende Horde, der ekle Schwarm, mit langen Armen haschen sie nach uns, sie ziehen uns hinab, und unsere Knochen zerbrechen in ihren Klauen wie die kleiner Vögel. Sie graben die Zähne in unser Fleisch und schlürfen schmatzend unser Mark. Es ist eine Legion. Eine Legion aus der Tiefe. Sie wird kommen, und mit ihr das Ende. Schon bald wird es so weit sein."


    Die Frau salbt die Wunden, nimmt Leinenstreifen zur Hand und legt dem Bettler Verbände an.
    "Und dann?", fragt er schwach, "Sterben denn alle?"
    "Es sterben alle. Es ist das Ende. Das Ende dieser Welt, und doch ein Beginn. Der Beginn unvorstellbarer Qualen für fast alle. Endlose Pein. Nur wenige.... nur einige wenige können gerettet werden. Die Leiden und Buße tun. Die den rechten Weg einschlagen. Und die Unschuldigen? Wer ist das schon. Wie rar ist die Unschuld."
    Der Bettler starrt auf seine Verbände.
    "Endlose Pein, die kenne ich."
    "Deine irdischen Qualen werden bald vorüber sein. Wie unser aller Leben. Wie ist dein Name?"
    "Lichas."
    "Du kannst errettet werden, Lichas. Möchtest du errettet werden?"
    Er nickt stumpf.
    "Es soll nicht mehr wehtun!"
    "Lass mich dir den Weg zur Erlösung weisen."
    Die Frau beginnt zu erzählen, von einem, der all der das Leid der Welt auf sich genommen hat, von einer frohen Botschaft, von Sünde und Buße und einem besseren Leben nach diesem.
    Was der Kranke davon versteht, wer weiß das schon? Doch er hört zu, und eine Zeitlang scheint er seinen Schmerz vergessen zu haben.