Mürrisch linste Silana an den Vorhängen der sanft im Trott der Sklaven schwingenden Sänfte vorbei. Die Stadt kam ihr dreckig und…lieblos vor, auf eine bestimmte Art abweisend und kalt. Das mochte zum Großteil am prasselnden Regen liegen, der seit Tagen auf die Region niederging und auch ihre Anreise massiv verzögert hatte. Statt der geplanten fünf Tage waren es nun gut und gerne zehn gewesen. Zehn endlose Tage, in denen sie abwechselnd im Reisewagen, einem minderwertigen Gasthaus oder zuletzt in der Sänfte gefangen gewesen war und die ihre Laune nicht eben gebessert hatten. Sie blickte flüchtig in die Gesichter der wenigen Passanten, die trotz des Regens in Hast unterwegs waren, und verfluchte ihren Vater einmal mehr dafür, dass er sie zu ihrem entfernten Verwandten Manius Gracchus nach Rom schickte. Sie! Sie, die sie bis zuletzt die Stellung in Baiae gehalten hatte, als erstgeborene Tochter und doch ewig Zweigeborene. Und Rom war nun einmal nicht Baiae. Daheim war ohnehin alles besser gewesen, und warum ihr Vater so unglaublich nachdrücklich darauf bestand, dass sie ihrem Bruder nachfolgte und in Rom Fuß fasste, wollte ihr schlichtweg nicht einleuchten. Das heißt, eigentlich wusste sie es ganz genau, weshalb er sie hierher schickte. Sie kam sich vor wie ein Opferlamm, und dass ihr Verwandter Manius Gracchus ein Pontifex war, machte diese Vorstellung nicht nur noch skurriler, sondern gleichwohl irgendwie realistisch.
"Die Villa Flavia ist gleich dort vorn", erklang in jenem gedankenverlorenen Moment die Stimme eines ihrer Begleiter. Silana schnaubte kaum hörbar zur Antwort und ließ sich mürrisch zurück in die Kissen fallen. Weder wollte sie hier sein, noch wollte sie Maecenas unbedingt wieder gegenübertreten. Aber das war nun einmal unvermeidbar. Ihr Vater hatte es so entschieden und sie hatte bei der Entscheidung nichts mitzureden gehabt, Punktum. Und da Maecenas sich ebenfalls in Rom aufhielt, würde sie ihm zwangsläufig über den Weg laufen. Sie freute sich ganz und gar nicht darauf. Ihr großer Bruder war nur ein Jahr älter als sie, aber sie hatten dennoch nie einen guten Draht zueinander gehabt. Da waren die üblichen Querelen zwischen Geschwistern gewesen, durch die Silana allerdings sehr viel gelernt hatte. Intrigen zu schmieden war ihr daher nicht fremd, gemeine Streiche und auch Gewalt waren ihr ebenso wenig unbekannt, und so war es in der Vergangenheit nicht selten vorgekommen, dass sie diese Seite von sich an den verfügbaren Sklaven im Haus ihres Vaters ausgelassen hatte. Ihr Glück war, dass sie schlichtweg nicht so wirkte, als sei sie imstande, sich so zu verhalten. Hinzu kam ihre gewandte Zunge und das Vermögen, liebreizende Miene zum hinterhältigen Spiel zu machen, weshalb oftmals ein anderer ihr Fett wegbekommen hatte. Silana war überaus erfindungsreich und kreativ, was Streiche und Situationen betraf, und mit der Zeit hatte sie Gefallen daran gefunden, auch Machtspielchen mit derberem Ausgang für alle Beteiligten zu spielen. Sie waren der Grund, aus dem eine Haussklavin ihres Vaters eine lange Narbe am Unterarm trug und auch die Ursache für die gewiss immer noch sichtbaren Verbrennungsnarben auf Maecenas‘ rechtem Oberschenkel. Silana musste ob der Erinnerung ein wenig grinsen: Einmal, Maecenas trug zu jenem Zeitpunkt noch seine Bulla, hatte sie es eingefädelt, dass ein Sklave ihm die Bettpfanne mit den glühenden Kohlen zum Wärmen des Bettes ohne schützende Einschlagtücher brachte, und er hatte sich böse verbrannt. Die Schuld an dieser Misere hatte einer der Sklaven abbekommen. Und Maecenas war es recht geschehen. Diese affektierte Arroganz, die er ihr gegenüber stets ausgestrahlt hatte, und die sogar noch schlimmer geworden war, sobald Vater in der Nähe gewesen war, hatten bei Silana stets nur ein Augenrollen hervorgerufen. Maecenas konnte alles besser und schneller und überhaupt. Wie neidisch sie auf die Reise gewesen war, die Vater mit ihm unternommen hatte, und wie überaus glücklich sie die Nachricht gemacht hatte, dass er allein aus Griechenland zurückkehren würde, weil ihr geschätzter Herr Bruder dort verweilen wollte!
Nein – sie war ganz und gar nicht erpicht darauf, ihren Bruder wiederzusehen.
Es gab einen kurzen Ruck, als die Sänfte abgesetzt wurde. Das Prasseln des Regens war noch einmal angeschwollen, sofern das überhaupt möglich war. Vermutlich wuchsen ihr bald Schwimmhäute! Silana sehnte sich nach einem heißen Bad und einem ansprechenden Bett. Sie hoffte sehr, dass die Villa Flavia wenigstens ein klein wenig dem entsprach, was sie aus Baiae kannte, was sie zu lieben und schätzen gelernt hatte. Doch wenn sie ehrlich war, bezweifelte sie es. Nichts und niemand kam an die Villa Flavia in Baiae heran! Allein schon deswegen, weil Silana nicht hier sein wollte. Sie nahm ihrem Vater diese Entscheidung übel. Dennoch hatte er ihr das Versprechen abgerungen, sich zu benehmen. Oh ja, benehmen würde sie sich!!
Einer der Sklaven eilte quatschenden Schrittes zur Porta und klopfte energisch, um ihre Ankunft anzukündigen. Silana selbst rang derweil mit sich selbst, ob sie auf jemanden warten sollte, der sie durch den Regen eskortierte, oder ob sie…was soll’s, dachte sie miesepetrig, schlug die Vorhänge zurück und setzte ihre Füße mit einem Ruck auf das nasse Pflaster vor der Villa. Zielstrebig und ohne Hilfe stand sie auf und fiel den Sklaven erst auf, als sie schon fast das Eingangsportal erreicht hatte. Mit würdevoll erhobenem Haupt (und durch den Regen selbst auf den wenigen Schritten vollkommen zerstörter Frisur) trat sie hinter den Sklaven, der sie angekündigt hatte.
„So. Hier bin ich nun. Wäre es zuviel verlangt, mich endlich einzulassen?“ fragte sie schnippisch, während sich eine Strähne ihres Haares kringelnd einen Weg aus der Frisur bahnte und sie ein klein wenig verrucht wirken ließ.