Beiträge von Myron

    Myron war eigens für diese Nacht in die Werkstatt seines Vaters eingebrochen und hatte sich am Werkzeug bedient. Einen Hammer, einen Meißel und einen Spaltkeil hatte er genommen. Später würde er alles wieder zurückbringen.

    Das Werkzeug hatte er sicher unter seiner Paenula verborgen. Damit würde er den Götzenbildern im flavischen Tempel seine ganz eigene Handschrift verleihen.


    Endlich ging es los! Philotima war eine der ersten, die die Casa verließ. Sogar die kleine Hebräer-Maus war gekommen, obwohl sie sich bis zum Schluss gegen unsere Aktion gewesen war, wollte sie nun wenigstens Schmiere stehen. Hoffentlich würde sie sich vorher nicht nass machen, wenn es wirklich ernst werden sollte!

    Er eilte hinaus und versuchte, zu Philotima aufzuschließen. Wenn irgendetwas schief gehen sollte, dann wollte er es sein, der sie rettete!

    Tja, nicht mal die ängstliche Hebräer-Maus stand Binah bei. Myron konnte das nur recht und billig sein! Sollte die Alte eben auf diesem Weg verstehen, dass sie auf dem Holzweg war und alle aus der Gemeinschaft zu allem bereit waren! Mollicullus fand dann die richtigen Worte.
    „Ja, geh nach Hause Binah und verstecke dich und deine Kinder!“, rief Myron höhnisch. „Wir müssen jetzt handeln! Alle die glauben, das Reich Gottes käme über uns, indem wir zu Hause sitzen bleiben und auf bessere Zeiten warten, haben jetzt schon verloren!“
    Diesmal warf er der Alten einen herausfordernden Blick zu. Sollte sie doch die Brüder und Schwestern als übergeschnappt beschimpfen. Am Ende würde sich herausstellen, wer übergeschnappt war! Neues konnte schließlich nur dann entstehen, wenn sich etwas bewegte. Nichts wurde aus Stillstand heraus geboren. Das wusste er auch schon aus seiner Zeit als Bildhauer.

    Betreten sah Myron zu Binah hinüber. Er traute sich kaum, ihr in die Augen zu schauen. Sie hatte ihm einige Tage Unterschlupf geboten und ihn mit Essen versorgt, kurz nachdem er seiner Familie den Rücken gekehrt hatte. Und dass, obwohl sie genug Mäuler zu stopfen hatte. Bei ihr hatte er die vielbeschworene Nächstenliebe der Christen am eigenen Leib erlebt. Doch was Binah nun verlangte, war nicht akzeptabel! Philotima solle sich stellen! Was die Prätorianer-Schweine mit ihr dann machten, konnte man sich an fünf Fingern abzählen!


    „Wenn Philotima sich stellt, dann können wir alle einpacken! Sie hat es geschafft, dass den Leuten die Augen geöffnet wurden. Ultor hat recht! Diese Schweine werden sich mit ihr nicht zufrieden geben! Sie werden nicht eher ruhen, bis sie uns alle ans nächste Kreuz geschlagen haben. Wir müssen jetzt handeln, Brüder und Schwestern! Jetzt müssen wir ihre Götzen in den Staub treten! Dann sehen sie, dass ihre Götzen nur aus kaltem Stein sind!“
    Verstohlen sah er zu Philotima hinüber, um zu sehen, ob sie bemerkt hatte, dass er es war, der so gesprochen hatte. Für sie würde wirklich alles tun. Sogar steren, wenn es sein musste.
    Was mit den Kindern aus Binahs Waisenhaus wurde, war ihm herzlich egal. Ein paar elternlose Schreihälse mehr oder weniger in dem Gassen von Rom. Wen juckte das schon groß!

    Ob es Myron wirklich bewusst war, wozu er sich soeben bereit erklärt hatte? Bisher war er vornehmlich als friedfertige Natur in Erscheinung getreten. Ein verträumter junger Mann, der sich am liebsten dem Schönen hingab und dieses dann in seinen Zeichnungen festhielt. Eines Tages würde er das Antlitz Philotimas für die Ewigkeit in Stein hauen. Ja, so hatte er es sich in seinen Träumen vorgestellt. Doch selbst nun, nach seinem verwegenen Vorstoß, hatte sie nicht einmal ein persönliches Wort für ihn übrig gehabt. Lediglich ihr sanfter Blick hatte ihn gestreift.


    Sulamiths Gegenrede war dies zu verdanken! Ausgerechnet sie, die als Sklavin geboren worden war und deren Familie seit Jahrzehnten in Sklaverei lebte. Myron konnte kaum glauben, dass sie keinen Groll gegen die Flavier hegen sollte. Eigentlich sollte sie Genugtuung spüren, wenn die flavischen Götzenbilder zerschmettert wurden!


    „Du redest nur so, weil du nicht weißt, wie es ist, Hunger zu leiden, Sulamith! Nicht dass ich die Sklaverei gutheiße, doch du hast durch deinen Dominus ein Dach über dem Kopf und erhältst täglich eine Mahlzeit! Die Flavier sind diejenigen, die Schuld auf sich geladen haben und es noch tagtäglich tun – nicht wir!“ Myron hatte sich getraut und das Wort ergriffen. Dabei hatte er sich auch mehrmals in Philotimas Richtung umgewandt, so als ob er sich versichern wollte, ob sie ihn und dass was er sagte, tatsächlich auch wahrnahm. Letztendlich hatte auch er schlechte Zeiten erlebt, wenn der Verdienst seines Vaters für sie alle nicht ausgereicht hatte, so dass all seine Geschwister ausreichend zu Essen hatten. Es gab so viel Elend in Rom. Es war an der Zeit, dass die Schuldigen nun bluten sollten!

    Myron hatte in der Gemeinschaft seiner neuen Brüder und Schwestern einen Halt gefunden. Zwar hatte er noch keine feste Bleibe, doch jede Menge Angebote, um für ein oder zwei Nächte ein Dach über dem Kopf zu haben. Im Grunde waren es wildfremde Menschen gewesen, die mit ihm ihr Brot, ihren Wein und ihr Zuhause mit dem jungen Griechen teilten. Gemeinsam beteten sie und versuchten denen zu helfen, denen es noch schlechter ging. Solche die niemanden hatten. Die ausgestoßen waren, oder von Krankheit und Elend gezeichnet waren. Myron sah in dem, was er tat, seine wahre Bestimmung.


    Mit einigen seiner neuen Brüdern war auch er zur Casa Didia gekommen. Sie hatten, wieder einmal dort gemeinsam das Mahl geteilt. Bei seinem letzten Besuch vor einigen Wochen war ihm eine junge impulsive Rednerin aufgefallen. Philotima war ihr Name. Nicht nur die Wahl ihrer Worte und ihr forsches Auftreten hatten ihn damals beeindruckt, auch ihre Anmut hatte ihn gefangen genommen. So gerne hätte er sie bei ihrer ersten Begegnung angesprochen. Doch dazu hatte ihm der Mut gefehlt. Wer war er denn schon?


    Dieses Mal war er nach dem Mahl geblieben. Nicht unbedingt deshalb, weil er besonders mutig oder entschlossen gewesen wäre, um sich mit einem Imperium anzulegen. Nein, sie war es gewesen. Ihre pure Anwesenheit. Ihre klug gewählten Worte. Für sie hätte er so einiges gewagt. Zumindest redete er sich das ein. Vielleicht würde sie ihn so eines Tages bemerken.


    Myron nickte zustimmend. Wir dürfen keine Angst haben, Zeugnis abzulegen! Zeigen, dass die Worte des Herrn nicht nur leere Worte waren. All die verirrten Seelen da draußen auf den rechten Weg bringen. Ihnen aufzuzeigen, wie sehr sie sich irrten, wenn sie ihren falschen Götzen opferten.
    Er hielt sich zunächst mit einer Äußerung zurück. Vielmehr konzentriert er sich auf einen Mann mittleren Alters, dessen hellblondes Haar und die grauen Augen sofort aufgefallen waren. Sein Äußeres hatte dem jungen Griechen zunächst erschauern lassen, als er ihn zum ersten Mal erblickte. Er konnte nicht genau erklären, was es war. Vielleicht waren es die kalten Augen oder die übermäßig hellen Haare. Seine kalte Entschlossenheit zur Radikalität tat ihr Übriges. Die Schändung eines römischen Tempels. Die Zerstörung der verhassten Götzenbilder. Das war mehr als revolutionär!
    Myron ließ sich von solchen Reden mitreißen. Das Reich Gottes würde nicht einfach so über sie kommen. Es lag an ihnen selbst, etwas dafür zu tun! Notalls eben auch mit Gewalt! Was hätte er dafür gegeben, doch auch so stark zu sein, wie der Blonde!
    Plötzlich, ganz unerwartet hörte er sich selbst sagen: „Ich bin dabei!“

    Der verlorene Sohn


    Seit mehreren Generationen schon lebte die Familie des Steinmetzes Laios in Trans Tiberim. In einer Seitenstraße der Via Aurelia wohnte er und die Seinen in einer der ärmlichen Wohnungen einer Insula, in deren Untergeschoss seine Werkstatt untergebracht war, die einst sein Großvater aufgebaut hatte und die er von seinem Vater übernommen hatte.
    Als dann vor achzehn Jahren sein ältester Sohn Myron das Licht der Welt erblickte, schien dessen Lebensweg schon vorgezeichnet zu sein. Die stolzen Eltern benannten ihren Nachwuchs nach dem großen Bildhauer Myron von Eleutherai, in der Hoffnung, dass aus ihm einmal ein ganz Großer werden würde. Von früh auf nahm Laios seinen Sohn mit in die Werkstatt, auf dass er das Handwerk seines Vaters erlernen sollte.

    Die kleine Steinmetzwerkstatt des Laios lief ganz gut. Für gewöhnlich erhielt er von seiner Klientel kleinere Aufträge. Meistens sollte er Weihesteine herstellen, mit denen seine Kunden die guten Taten ihrer Familienangehörigen in Erinnerung behalten wollten. Auch sehr beliebt waren seine Stelen. Je nach Geldbeutel variierten Material und Beschaffenheit der Grabsteine. Hin und wieder erhielt er auch Aufträge für Büsten und Statuetten. Doch die wirklich betuchten Kunden verirrten sich nicht oft nach Trans Tiberim in seine Werkstatt.


    Zum Leidwesen seiner Eltern entwickelte sich der junge Myron allerdings in eine ganz andere Richtung. Zwar talentiert, ging er nur halbherzig an seine tägliche Arbeit in der Werkstatt. Obwohl doch sein Vater seine ganzen Hoffnungen in ihn gelegt hatte.
    Der junge Myron schien oft verträumt zu sein und seine Gedanken schweiften stets ab. Seinen Eltern und den jüngeren Geschwistern gegenüber wirkte er oft verschlossen. Denn es schien niemand zu geben, der Interesse an seinen Gedanken und Gefühlen hatte und dem er sich wirklich anvertrauen konnte.


    Doch eines Tages hatte er Bekanntschaft mit einigen jungen Leuten gemacht, die so ganz anders waren, als alle anderen, denen er bisher begegnet war. Sie sprachen von Liebe, Vergebung und Gerechtigkeit und trafen damit bei ihm voll ins Schwarze!


    Ganz gleich ob Peregrine oder Römer, Sklaven oder Freie, alle schienen bei ihnen gleich zu sein und saßen einträchtig bei ihren Versammlungen beieinander. Sie teilten mit ihm ihr Brot und ihren Wein und fragten nicht nach seiner Herkunft oder seinem Stand. Sie waren alle Brüder und Schwestern in ihrem Glauben.


    Nachdem Myron einige Zusammenkünfte besucht hatte, beschloss er, sich ihnen anzuschließen. Natürlich verheimlichte er das seiner Familie. Zunächst verbrachte Myron nur einige Stunden am Abend bei seinen neuen Freunden. Dann blieb er irgendwann auch ganze Nächte von zu Hause fern. Letztendlich zog er sich ganz von seiner Familie zurück und blieb Tage, ja sogar wochenlang fort.