Die Erwähnung dieser Abstammung ließ Tappo seine Gastgeberin ein weiteres Mal betrachten, diesmal mit einem anderen Augenmerk. Aus der schönen Tochter eines wohlhabenden Parthers war nun die Tochter eines Aspbed* geworden, eines Herrn der Pferde, des Oberbefehlshabers der Kavallerie. Da die Panzerreiter das Rückgrat der parthischen Streitmacht bildeten und nur Söhne der besten Adelsfamilien Kataphraktoi wurden, war dieses Amt nicht mit einem römischen Decurio zu vergleichen. Ein Kataphrakt zu sein bedeutete höchstes Prestige, hieß, der obersten Kaste des parthischen Volkes anzugehören und so wohlhabend zu sein, dass man sich die kostspielige Ausrüstung, zahlreiche Waffen und den Unterhalt mehrerer Schlachtrösser leisten konnte. Aber auch eine besondere Form von Gemeinschaftsbewusstsein schwang in der Bezeichnung mit. So war es nur naheliegend, dass der höchste Befehlshaber der Kataphraktoi es war, welcher den König krönte. Und Nannaia entstammte diesem Haus.
"Nannaia Surena, bitte gestatte mir eine Frage!" Die Faszination und Bewunderung von Tappo war nicht gespielt. Er konnte eine manipulative Schlange sein, wie jeder seiner Gens, doch bedeutete dies nicht, dass er unempfänglich war für menschliche Regungen. "Wenn das Haus Surena seit Generationen die parthischen Könige krönt - haben sie folgerichtig auch beiden Schahanschah die Krone auf das Haupt gesetzt?"
Raffinierter ging es kaum. Nannaias Aussage, dass ihre Sympathie dem Stärksten gelte, wäre unter einem noch weitaus interessanteren Licht zu betrachten. Sie mochten nicht jene sein, die entschieden, wer König wurde, doch die Loyalitätsfrage des Hauses Surena machte das Ganze spannend, war sie doch viel mehr als nur das berüchtigte Gerstenkorn, welches die Waagschale zum Kippen bringen konnte. Tappo verschränkte die Fingerspitzen, während seine Augen unverwandt auf dieses Gesicht gerichtet waren, hinter dessen Stirn so viel Wissen lag, aber auch ein scharfer Verstand.
Offen blieb die Frage, warum ihre Familie sie fortschickte. Nannaia deutete an, dass sie nicht freiwillig hier weilte. Doch nur, wenn er seinerseits von sich erzählte, würde sie, einer Sphinx gleich, das Rätsel vielleicht lüften.
"Wir wurden Römer, weil wir es werden mussten. Babylon war unsere Heimat und sie zu hüten war unsere heilige Pflicht. Als die parthischen Arsakiden die hellenischen Seleukiden vertrieben, beließen sie zunächst die alte Elite in Amt und Würden. Einen funktionierenden Staat zu okkupieren mit einer Bevölkerung, der man Gnade erwies, ist praktischer, als ein zerstörtes Land mit verbitterter Bevölkerung neu aufzubauen. Das wissen die Römer, das wissen die Parther, das wissen alle Herrscher großer Reiche. Und doch blieben mit der Zeit Konflikte nicht aus."
Er öffnete entwaffnend die Hände. Ihm ging es nicht darum, die Parther anzuschuldigen, doch wenn Nannaia die Antwort auf ihre Frage hören wollte, musste sie mit der Sicht eines Mannes konfrontiert werden, dessen Familie unter den parthischen Arsakiden alles verloren hatte.
"Die Arsakiden, die anfangs nur Besatzer waren, Steppenreiter, die ein Mischvolk beherrschten, sehen sich schon längst nicht mehr mit den gleichen Augen, wie ihre barbarischen Vorfahren. Sie sind nicht mehr stolz auf ihr wildes Erbe, das mehrere Hochkulturen in die Knie zwang und unter ihre Knechtschaft zwingt. Die heutigen Parther sind selbst zu einer Hochkultur geworden, sie schaffen eigene Werke und es bildet sich ein parthischer Nationalstolz heraus. Erinnerungen an die Seleukiden haben darin keinen Platz."
Wenngleich Vologases genau jene wieder schürte und damit das Volk spaltete.
"Alles Hellenische sollte weichen und der sich entwickelnden parthischen Kultur Raum geben. Meine Familie aber wollte nicht zusehen, wie das Erbe Alexanders systematisch ausgelöscht und die Erinnerungen zerstört wurden. Die Arsakiden ihrerseits reagierten darauf mit den üblichen wirtschaftlichen und politischen Repressalien, sodass die Stadt Babylon langsam begann zu sterben. Die Bevölkerung wanderte ab nach Seleukia, der neuen Hauptstadt. Schlussendlich mussten meine Vorfahren, wollten sie wenigstens einen Teil des Wohlstandes erhalten, ihre Ämter und Würden aufgeben und so zogen sie ebenfalls nach Seleukia, um zu sehen, ob sich nicht von dort aus etwas retten ließe.
Seleukia jedoch teilte bald darauf das Schicksal von Babylon, als Artabanos der Zweite in die Selbstverwaltung der Stadt eingriff, die bis dahin noch immer nach hellenischem Vorbild regiert wurde. Der parthische Adel sollte regieren, wo zuvor der Rat der 300 und die Ekklesia tagten. Seleukia verlor seinen hellenischen Charakter und wurde zu einer parthischen Stadt.
Und meine Vorfahren verließen auch diese zweite Heimat, um einer möglichen Säuberung zuvorzukommen. Und so zogen wir in das Imperium Romanum - nach Cappadocia, in dem noch immer das hellenische Erbe stark ist. Hier fühlen wir uns wohl, doch ist es nicht Babylon. Einige alte Freunde in Cappadocia halfen uns, hier Fuß zu fassen und schlussendlich erlangten wir das Bürgerrecht durch Fleiß."
Und reichlich geflossene Bestechungsgelder.