Eine versteckte Bucht am Strand bei Nacht

  • Lange war ich mehr herumgeirrt als zu wissen, was ich wollte, bis ich endlich zu dieser Bucht gelangte. Vor mir war das große Wasser, unter mir der Sand und die recht kühle Luft um mich herum. Der Himmel war bewölkt und es war stockduster. Ich liess mich in den Sand fallen und weinte. Es war VErzweiflung und Heimweh. Verzweiflung darüber mich immer noch nicht erinnern zu können, Heimweh nach etwas, was ich nicht kannte, weil ich mich nicht erinnerte und Verzweiflung auch, weil ich Helena so enttäuscht hatte. Irgendwie wollte sich mit einem Mal alles Luft machen und so weinte ich in den Sand hinein und verfluchte mich und meine Situation, meine Amnesie, alles. Ich hatte das Gefühl in ein tiefes Loch zu stürzen und sehnte mich plötzlich nach der Umarmung einer bestimmten Person, die ich für einen Moment bildlich vor mir sehen, aber nicht festhalten konnte. Aber ich wusste, sie war die, in meiner Vergangenheit, die immer alles hattegut sein lassen.

  • Ich weinte, bis keine Tränen mehr kamen und nur noch ein leises Schluchzen hin und wieder zu hören war. Es war kalt, aber ich bemerkte nichts davon, obwohl ich zitterte. Alles war voller Sand und ich lag, die Beine zum Körper gezogen, an dem Strand und lauschte irgendwann nur noch dem Rauschen des Meeres. Manchmal bebten meine Schultern noch leicht und ein Schluchzer verirrte sich über meine Lippen, aber ansonsten blieb ich ruhig liegen, traute mich nicht einmal zum Himmel zu sehen und zu schauen, ob ich vielleicht, durch die Wolken hindurch, doch einen Blick auf die Sterne erhaschen konnte.

  • Nach einem langen Spaziergang ohne Ziel kam Cheng an diese Bucht. Sie war recht versteckt, aber er hatte sie ja auch nicht gesucht. Eine Frau, jedenfalls der Silhouette nach zu urteilen, saß dort einsam im Sand. Langsam ging er auf sie zu. Er hatte einen Wollmantel über seiner fernöstlichen Kleidung an, um nicht zu sehr aufzufallen. Die Geräusche seiner Schritte wurden durch das Rauschen des Meeres verdeckt, aber erschrecken wollte er sie nicht. Deshalb blieb er in einigem Abstand stehen und schaute auf das dunkle nächtliche Meer. Er stand wie eine Statue und sagte kein Wort.

  • Irgendwann erhob ich mich in eine sitzende Position und starrte auf das Wasser hinaus. Was sollte ich jetzt tun? Zurück gehen und tun, als wäre nichts gewesen? Hier bleiben? Fortgehen? Ich war mir einfach nicht mehr sicher. Leise seufzte ich und bemerkte nach einer Weile, das etwas anders war. Erneut aufsteigende Tränen eilig fortwischend starrte ich überrascht und erschrocken zu der Gestalt, die da plötzlich wie aus dem Nichts gekommen zu sein schien. Zumindest hatte ich sie bisher nicht bemerkt. Sie mich? Wahrscheinlich, oder eben doch nicht?

  • "Sied Ihr in Ordnung? Kann ich Euch helfen?" fragte Cheng mit ruhiger, warmer Stimme. Es war ihm nicht entgangen, dass sich die Frau Tränen weggewischt hatte. Dann fügte er noch hinzu "Ich bin Sun Cheng."

  • "Ich," kam es mit belegter Stimme über meien Lippen, ehe ich mich leicht räusperte und hinzufügte: "Ja, danke, es geht mir gut." Oh welch große Lüge. Aber ich musste einem Fremden nicht alles auf die Nase binden. "Sun Cheng? Der Name klingt fremd. Mehr nach Osten," meinte ich nachdenklich. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass diese Namensrichtung mir was sagte.

  • Cheng nickte. "Ja, von dort komme ich. Sehr weit im Osten. Das ferne Reich Han war einst meine Heimat." Er sah in Richtung mehr. "Es ist sehr schön hier. Auch wenn es nicht mehr hell ist. Hügel, Strand und Meer bilden eine gute Harmonie." Er ging neben sie. "Darf ich mich zu Euch setzen?"

  • Ich nickte nur und dachte mir, dass er es vielleicht nicht erkennen konnte, da es so zaghaft gewesen war. "Sicher, setz Dich ruhig. Das Reich Han?" Ich hatte einen Augenblick das Gefühl davon schon etwas gehört zu haben, aber der Moment verflog wieder. "Es muss weit im Osten liegen," meinte ich nachdenklich. "Kennst Du Dich dann auf den Wegen bis hierher aus? Und wenn ja, dürfte ich Dir eine Frage stellen?"
    Ich erkannte plötzlich eine Chance etwas über mich, oder zumindest meine Herkunft herauszufinden, wenn ich mich schon nicht erinnern konnte, wer ich war.

  • Er setzte sich im Schneidersitz neben sie. "Ich bin den Weg von Osten her gekommen, aber das bedeutet nicht, dass ich mich auf den Wegen auskenne. Aber vielleicht habe ich ja dennoch eine Antwort auf Eure Frage. Fragt einfach." Er lächelte höflich.

  • "Ich," wie anfangen? "Nun, ich weiss nicht mehr, wer ich bin, das nur zur Erklärung. Die ganze Geschichte wäre vielleicht zu lange. Jedenfalls fehlen mir Erinnerungen, auch und vor Allem daran, woher ich stamme. Ich weiss von..." ich hielt einen Moment inne und überlegte, wie ich Helena betiteln sollte: meine ehemalige Herrin? Eine Freundin? Ich entschied mich für Letzteres: "Von einer guten Freundin, dass ich wohl noch aus einem östlicherem Gebiet als Syria stamme und ich selbst habe, seit einer Weile, immer wieder das Wort Nabataei im Kopf, doch weiss ich, dass ich von noch weiter östlich stamme, oder südlich davon, ich kann es nicht genau sagen. Nun, ich kenne niemanden, der mir etwas darüber erzählen könnte und, naja," fügte ich verlegen und leise an. "Ich kann nicht lesen um es mir selber zu erschliessen."

  • "Nabataei..." murmelte Cheng, während er nachdachte. "Nabataei... ja, durch das Gebiet dieses Volkes bin ich gegangen. Als ich von Tylus nach Westen zog. Man kommt durch das Zweistromland, überquert ein Gebirge und findet in diesen Bergen Petra, die Stadt im Fels. Eine wirklich faszinierende Stadt. Aber sie hat schon bessere Tage gesehen. Aber, so weit ich weiß, gibt es südlich davon nur Wüste. Ihr... du? Darf ich du sagen? Euren Namen kennt Ihr aber?"

  • Ich schaute kurz erstaunt und lächelte dann. "Sicher. Hier sagen alle Du. Und ja, zumindest der, den man mir gab. Ich weiss nicht, ob es mein Geburtsname ist. ICh heisse Pentesilea. Verzeih, ich war unhöflich mich nicht vorzustellen. Wüste, ja, das würde viel erklären. Ich fühle mich mit Sand verbunden, doch ist es etwas anderes diesen Sand hier zu spüren. Er ist feuchter, nicht so heiss und fein irgendwie. Ich meine immer, das Gefühl haben zu müssen tagsüber kaum darauf laufen zu können und des Nachts die Kühle zu geniessen."
    Alles was er mir erzählte kam mir so fremd vor und doch, irgendwo tief in mir, hier und da auch vertraut.

  • "Mir gefällt die Wüste nicht. Sie ist erbarmungslos. Und durch eine Wüste habe ich meine Heimat verloren. Außerdem bin ich lieber in einer Stadt. Obwohl ich am liebsten in den Hügeln am Jangtse war. Die grünen Hügel, mit ihren steil in den großen Fluss abfallenden Hängen. Einfach wunderschön." Er seufzte kurz.

  • "Sie ist meine Heimat," sagte ich mit einem sehnsüchtigen Lächeln. "Und irgendwie fehltsie mir. Ich kannte nichts anderes, bis ich Sklavin wurde."
    Erschrocken hielt ich inne und dachte noch einmal nach. Hatte ich das wirklich gerade gesagt? Erinnerte ich mich? Ja, aber nur ganz sachte am Rande. Ich wusste, dass die Worte stimmten, aber ich konnte es nicht weiter einordnen.
    "Wenn ich nur wüsste, woher genau ich stamme."

  • "Zu glauben, ein Stück Land wäre Heimat, ist ein Irrtum. Heimat ist ein Gefühl. Dort, wo Freunde sind, wo man glücklich ist, wo das Herz ist, dort ist die Heimat. Genauso falsch ist es, zu glauben, dass man sich durch seinen Namen oder seine Heimat definiert. Man ist genau die Person, die man ist." Cheng machte eine kurze Pause. "Die Menschen versuchen, glücklich zu sein. Und sie versuchen dies, indem sie dem Glück hinterher jagen. Aber man kann das Glück nicht fangen. Glück ist wie der Wind. Es ist zwecklos, es zu jagen. es kommt von selbst zu den Menschen. Man darf es nur nicht erzwingen wollen."

  • "Wenn dem so ist, dann ist hier nicht meine Heimat. Ich habe hier Freunde und Menschen, die mir etwas bedeuten, aber ich fühle mich hier fremd. Heute Abend einmal mehr. Kann man sich selbst sein, wenn man sich immer wieder fragt, wer man ist, wer man war, woher man kommt? Wenn man nichts über sich mehr weiss? Alles Erinnerungen wie ausgelöscht sind?"

  • "Wenn man nichts mehr über sich weiß, dann muss man sich eben neu erschaffen. Wen interessiert schon, wer man einst war? Ich war ein Adliger und Feldherr, aber ich bin es nicht mehr. Und egal, was ich auch mache, ich werde es nie wieder sein. Ich bin jetzt nur noch ein Wanderer. Und genau das bringt mich der Erleuchtung näher. Je mehr Gedanken man sich macht, umso mehr wird man leiden."

  • "Dann werde ich wohl weiter leiden müssen. Denn nicht selten kommen plötzlich Bilder in mir auf und wenn ich versuche sie zu halten oder zu verstehen, verliere ich sie sofort wieder. Ich kann nicht einfach abhaken, was einst vielleicht war. ICh habe nicht darum gefragt zu vergessen. Es wurde in mich eingeprügelt. In dem Moment, wo man mich niederschlug und irgendwo gefesselt zurückliess, habe ich vergessen und ich habe nicht darum gebeten."
    Wieder lief eine Träne über meine Wange, aber diesmal liess ich sie ungeachtet rollen.
    "Ich möchte so vieles verstehen. Warum zum Beispiel habe ich seit einiger Zeit wieder Angst mich in geschlossenen Räumen aufzuhalten? Und warum weiss ich, dass es schon einmal so war? Warum kann ich nicht einfach ich sein und leben.
    Alles ging gut, ich liess mich nicht so sehr von den Gedanken und Erinnerungen, die plötzlich auftauchten beeinflussen, bis zu dem Tag, an dem mir Helena sagte, dass ich eigentlich ihre Sklavin sei und nicht die Freundin und das Kindermädchen, für das ich mich, seit meiner Rückkehr hielt. Bis zu dem Tag, wo sie mir die Freiheit gab und mich mit meinem Wissen einsperrte. Ich mache ihr keinen Vorwurf, aber ich komme damit einfach nicht mehr klar. Ich merke es immer mehr. Erst heute Abend, als dieses Fest war und..."
    Nein, ich wollte nicht wieder daran denken. Es tat einfach weh.

  • Cheng wischte ihre Träne mit seinem rechten Daumen weg. "Es ist ein langer Weg, der zur Klarheit führt. Ein langer und steiniger Weg. Durch meine Flucht aus Han war ich gezwungen, diesen Weg zu beginnen. Eine große Hilfe waren dabei die Schriften, die ich mitgenommen hatte. Und die Meditation über eben diese Schriften. Vielleicht, wenn du es möchtest, können wir uns ja abends treffen und meditieren. Vielleicht hilft es dir. Du musst zu dir selbst finden, dann wirst du alle Antworten erhalten. Aber ich fürchte, dass es ein schmerzhafter Weg sein wird. Es ist sicher hart, versklavt zu werden. Aber jetzt bist du doch frei." er dachte einen Augenblick nach. "Zumindest dein Körper ist frei. Deinen Geist musst du selbst befreien."

  • "Zu mir selber finden heisst meine Vergangenheit zu finden?" Ich sah ihn hoffnungsvoll und ängstlich an. Denn so sehr ich es mir wünschte, so sehr hatte ich Angst davor. Die Andeutungen, die Helena gemacht hatte, waren ausreichend um mir ein ungefähres Bild zu machen. Und was ich bis jetzt von anderen Sklaven mitbekommen hatten, war nicht unbedingt aufbauend.

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