Eine versteckte Bucht am Strand bei Nacht

  • "Das ist eine schwierige Frage. Ich denke... nein... vielleicht..." Er zog entschuldigend die Schultern hoch. "Ich bin selbst noch nicht weise genug, um diese Frage beantworten zu können." Er war ratlos. "Ich kann dir nur den Rat geben, die Antworten in dir selbst zu suchen. Es gibt Barrieren in dir, die den Blick auf deine Erinnerungen verhindern. Überwinde sie, und du wirst erkennen. Aber versuche nicht, sie zu überwinden." er suchte noch nach den richtigen Wörtern. "Lass es mich anders ausdrücken. Wenn es dir gelingt, deinen Geist von allem zu befreien, dann wirst du ganz von selbst die Barrieren in deinem Inneren überwinden. Aber mir scheint, dass dein Geist durch Angst blockiert ist. Überwinde deine Angst, dann wird auch dein Geist befreit. Das denke ich zumindest."

  • Ich starrte lange auf das Merr hinaus und schwieg, dachte nach und wusste nicht so recht, was ich von dem Fremden und all dem halten sollte. Dann wandte ich mich ihm zu. "Erklär mir, wie meditieren geht."

  • "Meditieren heißt, sich von nichts ablenken zu lassen. Man sitzt einfach nur da und lässt alles fließen, hält an nichts fest. Die Umgebung ist bedeutungslos, die Gedanken sind bedeutungslos. Manchmal hilft es, sich auf etwas zu konzentrieren. Man kann seine Atemzüge zählen oder sich auf eine Kerzenflamme konzentrieren. Und man denkt nur nebenbei über das nach, worüber man meditiert. Darauf konzentriert man sich also nicht. Verstehst du, was ich meine?"

  • "Zu einem Teil. Aber wie geht es, dass man nur nebenbei über etwas nachdenkt und sich nicht darauf konzentriert. Wenn es nur das ist, worüber man nachdenkt, dann konzentriert man sich doch automatisch, weil letztlich alles um diesen Gedanken rotieren wird." Ein wenig verwirrten mich seine Ausführungen.

  • Cheng seufzte. "Du stellst Fragen, die sogar für einen Meister schwer zu beantworten sind. Und ich bin keiner. Vielleicht solltest du es einfch mal versuchen. Setz dich bequem hin, schließe die Augen und konzentriere dich auf das Rauschen des Meeres. Es ist eine ganz einfache Übung. Denke an nichts, höre nur das Rauschen und lass es auf dich wirken."

  • Ich lächelte entschuldigend und tat, wie geheissen. Ich setzte mich so bequem wie möglich, was ich schon immer im Schneidersitz am angenehmsten empfand. Auch jetzt wieder spürte ich, dass das wirklich schon immer so gewesen war und musste noch einmal kurz traurig lächeln. Dann schloss ich die Augen und bemühte mich mich nur auf das Rauschen des Meeres zu konzentrieren. Das Wasser rollte sanft den Strand hinaus und kehrte wieder in seine Gefilde zurück. Es leckte förmlich den Sand ab und hinterließ eine feuchte Spur. Es wirkte, bis zu einem gewissen Grad, denn ich entspannte mich tatsächlich nach einer ganzen Weile etwas, aber nicht nur das, ich kippte langsam zur Seite, dem Fremden entgegen, weil ich einschlief, bis ich ihn sachte mit meiner Schulter berührte. Mit einem Ruck schoß ich halb hoch. "Es... es tut mir leid," murmelte ich verlegen und rieb mir die Augen. "Das war wohl nicht ganz das, was Du meintest, nehme ich an."

  • Cheng musste in dieser Situation an seine eigene Unterweisung denken. Als sein Meister ihm die Meditation beibrachte war er auch eingeschlafen. Er musste bei diesem Gedanken einfach lachen. "Nein, nicht ganz. Aber... Er lachte noch einmal. "Aber mir ist das auch schon passiert." Er beherrschte sich wieder. "Aber, bevor du eingenickt bist, an was hast du da gedacht?"

  • Ich versuchte mich zu erinnern. "Der Anfang aller Dinge ist zugleich das Ende und ein Neubeginn," sagte ich verwirrt. Das war mir tatsächlich kurz durch den Kopf gegangen, aber ich konnte nicht sagen, wieso und was es bedeuten sollte. "Ich hab ein Kamel gesehen und diese Stimme gehört, die das sagte. Aber ich weiss es nicht einzuordnen. Und ich könnte nicht mal mit Gewissheit sagen, dass es ein Kamel war, aber gleichzeitig eben doch."

  • Cheng wiederholte die Worte. "Der Anfang aller Dinge ist zugleich das Ende und ein Neubeginn." Er schloss die Augen und dachte eine Weile nach. "Das erinnert mich an einen anderen Satz. Sein und Nichtsein bedingen einander. Man kann auch sagen, Anfang und Ende bedingen einander. Das ist sehr weise. Es gibt weder Anfang noch Ende. Im Jetzt sind auch das Einst und das Später enthalten. Alles bedingt einander. Vielleicht solltest du weiter meditieren, wenn du weniger müde bist. Es wird auch langsam etwas kühl, findest du nicht?"

  • "Weise?" Naja, aber bestimmt nicht, wenn es von mir kommt. Ich fuhr mir über die Stirn und dann durch die Haare. Einmal mehr kam ich dabei über die NArbe, die immer noch leicht empfindlich manchmal reagierte.
    "Ja, vielleicht. Mal sehen. Und ich möchte noch etwas hier bleiben. ICh kann meinen Kopf nicht einfach abschalten und möchte nachdenken. Ich habe heute etwas getan, was vielleicht meine gesamte Zukunft verändert und ich mucc mich den Konsequenzen stellen. Aber wie ich mich ihnen stelle und was danach geschieht, dazu brauche ich das NAchdenken."

  • "Dann solltest du zumindest etwas wärmeres anziehen." Cheng zog seinen Wollmantel aus und gab ihn Pentesilea. er hatte ja noch immer seinen Seidenmantel, Seidenhemd, Hose und Stiefel an. Auch wenn sein Aussehen jetzt mit einem mal noch exotischer war.
    "Du sagtest, dass du etwas getan hast, das vielleicht deine gesamte Zukunft verändert? Vielleicht kann ich dir ja Ratschläge geben?"

  • Ich schüttelte den Kopf. "Wenn Du mir Deinen Mantel gibst, mag es sein, dass es mir wärmer würde, aber was würde es bringen, wenn Du dafür frieren müsstest? In der Wüste ist es Nachts noch kälter und ich habe es überlebt, da werde ich dies bisschen..." Ich stockte und seufzte. "und wieder kommt es und verwirrt mich im nachhinein," grummelte ich leise, ehe ich auf seine Frage einging. "Das ist freundlich von Dir, aber ich glaube nicht, das Du das kannst. Ich habe unbeabsichtigterweise jemanden brüskiert und mich damit in die Situation gebracht, dass ich vielleicht morgen, wenn ich mich einem Gespräch mit der Person stellen werde, keine Bleibe und keine Arbeit mehr habe." Und leise, fast zu mir selber fügte ich an: "Und keine Freundin."

  • "Wenn du mit dieser Person befreundet bist, wird sie dir verzeihen. Glaube mir." Cheng dachte nach. Er setzte ein paar mal an, etwas zu sagen, bevor er es wagte. "Auch ich hatte jemanden brüskiert. Deshalb bin ich hier. Nur handelte es sich bei mir nicht um einen Freund." Er hielt ihr den Mantel wieder hin. "Ich werde nicht frieren. In meiner Heimat sind die Winter sehr kalt. Und da habe ich keinen solchen Mantel benötigt."

  • Ich zögerte noch, sah ihn skeptisch an und nahm den Mantel schliesslich doch dankbar an. Ich war erschöpft und deshalb machte mir die recht frische Brise doch zu schaffen. "Danke," sagte ich sanft. "JA, sie ist ein Freundin, eigentlich, wenn man von ihrer kleinen Tochter absieht, die einzige, die ich besitze. Aber in ihren Augen war das, was ich getan habe sehr schwerwiegend. Und ihr Rang ist zu hoch, als dass sie da einfach drüber wegsehen könnte. Und das wird das Problem sein." Ich musterte ihn einen langen Augenblick, ehe ich sanft sagte: "Wenn der Einfluß des MAnnes so groß war, dass er Dich vertreiben konnte damit, dann muss es ein mächtiger MAnn gewesen sein."

  • "Ja... der Huangdi... dieser unmenschliche, unwürdige..." Er atmete tief durch. "Wenn du es wünscht, kann ich dir erzählen, wie es dazu kam. Aber ich will dich nicht langweilen."

  • "Huangdi," wiederholte ich vorsichtig das fremdländische Wort. "Was bedeutet das?" ICh lächelte ihn sanft an. "Es ist nicht entscheidend, ob ich es zu wünschen höre, sondern ob Du bereit bist es zu erzählen."

  • "Huangdi bedeutet Kaiser." Er ließ eine kurze Pause. "Das Haus Sun hat eine Tradition als Gelehrte des niederen Adels, die mehr als 1000 Jahre zurück reicht. Mein großer Vorfahre Sun Tsi verfasste die Bingfa. Man kann Bingfa als Kunst des Krieges übersetzen. Das Ideal in diesem Buch ist es, eine Strategie zu entwickeln, die mit dem Dao in Einklang steht. Der wahrhaft Vortreffliche, so heißt es darin, siegt, ohne zu kämpfen. Ich selbst wurde Offizier der kaiserlichen Truppen. Recht schnell gab man mir ein eigenes Kommando, aber das war auch mein letztes Kommando. Denn ich bekam den Befehl, die Hsiung-Nu abzufangen. Hsiung-Nu sind kriegerische Nomaden, ein Reitervolk. Ich wollte sie auf einem Berg erwarten, um meine Soldaten zu schonen. Der Huangdi hielt sich aber für den besseren Strategen und wollte, dass ich sie in einem Tal abfange. Und damit meinte er keinen Hinterhalt, sondern er wollte, dass ich mit meiner Kavallerie im Tal warte. Ich lehnte diese Strategie ab, also hat er sie mir befohlen. Und ich habe den Befehl ignoriert. Ich war siegreich und hatte nur drei Mann verloren. Nach seiner Strategie hätte ich mindestens 100 verloren. Drei Wochen später erhielt ich eine Nachricht des Huangdi. Er beglückwünschte mich zu meinem Sieg und befahl mir, mich selbst zu töten, weil ich seinen Befehl ignoriert hatte. Also packte ich meine Sachen und mein Pferd und verschwand nach Westen. Mein Pferd ist bei der Überquerung des Himalaya verendet, aber ich lebe. Und jetzt bin ich hier, so weit westlich, wie ich es schaffen konnte."

  • Ich hörte ihm aufmerksam zu, auch wenn ich, wenn überhaupt, nur die Hälfte verstand. "Darf ich dazu ein paar Fragen stellen? Denn ich verstehe nicht alles. Zunächst, warum solltest Du sie bekämpfen? Haben Sie das Reich Deines Herrschers angegriffen oder war es 'nur' die Herrschsucht Deines Herrn, die ihn dazu trieb. Dann, weshalb solltest Du Dich töten? Ich meine, einen Befehl zu ignorieren und damit Erfolg zu haben ist nicht unbedingt ehrenvoll, aber sinnvoll. Und ich glaube, selbst die Römer sind nicht so verrückt einen guten Feldherrn dann in den Tod zu schicken. Wobei ich gestehen muss, dass ich von all diesen Dingen nur wenig Ahnung bis gar keine habe. Ich bin schliesslich nur eine Frau und dazu noch eine ehemalige Sklavin. Und dann, was ist Himalaja?"

  • "Die Hsiung-Nu hatten uns mehrfach angegriffen. Und ich sollte sie aufhalten. Um zu verstehen, warum ich mich töten sollte, musst du unsere Kultur verstehen. Der Huangdi ist einem Gott gleich. Sein Wort ist Gesetz. Meine Befehlsverweigerung war demnach Hochverrat. Und darauf steht der Tod. Die Römer mögen nicht so verrückt sein, aber sie haben auch keine so absolute Herrschaft des Kaisers. Der Huangdi entscheidet allein, ohne Senat oder Ratgeber. Er kann aus Sklaven Adlige machen und aus Adligen Sklaven. Er ist unantastbar und niemand darf ihm widersprechen. Und Feldherren gibt es reichlich, um mit den paar Feinden fertig zu werden. Was den Himalaja anbetrifft, das ist ein Gebirge. Die Berge sind alle mit Schnee bedeckt und reichen weit über die Wolken, bis fast in den Himmel. Es ist eine wunderschöne Gegend. Und gleichzeitig völlig erbarmungslos in seiner eisigen Kälte. Wenn man von Han nach Westen zieht, kommt man auf eine Hochebene. Wenn man die nach Südwesten überquert, kommt man zum Himalaja. Und wenn man den überquert, ist man in Indien."

  • Es war faszinierend diesen Dingen zuzuhören und gleichzeitig auch verwirrend. Indien, schneebedeckte Berge, Hochebenen, ein Land im Osten und noch darüber hinaus. Was gab es noch alles.
    Ich versuchte mich zu erinnern, ob ich Schnee schon einmal gesehen hatte oder gespürt. Und ich fragte mich, ob es gut war, das ein Mensch alleine so viel Macht besaß und beide Fragen sprach ich laut aus.

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