"Das Tao ist nur ein Wort. Man kann es eine Art höheren Sinn sehen, der hinter allem steckt. Und auch den Weg, der zur Erkenntnis führt. Und den Weg des Lebens allgemein. Es existiert nichts in unserer Wahrnehmung, das man als Tao bezeichnet. Erst, wenn man Erleuchtung erlangt hat, wird einem klar werden, was es bedeutet. Doch eigentlich ist tao nur der Versuch, einen namen für etwas zu finden, für das kein Begriff existiert. Laotse, der Alte von Berg, hat dieses Wort zuerst verwendet. Er hat das Tao Te King geschrieben. Wer das Tao Te King versteht, der versteht auch, was Tao ist."
Eine versteckte Bucht am Strand bei Nacht
-
-
Es war verwirrend, mehr als das und so schwieg ich wieder eine ganze Weile, ehe ich meinte:
"Wenn ich mich also auf das Wesentliche konzentriere, dann erlange ich Weisheit, während ich, wenn ich mich in alle Möglichen Dinge verzettele und mal hierin und mal dahin wandere, irgendwann die Übersicht verliere.
Das heisst, je mehr ich versuche mich in der Vergangenheit festzubeissen, desto mehr verliere ich den Blick für die Zukunft?"
Ich wusste nicht, ob ich es auch nur ansatzweise richtig gedeutet hatte. Es hatte mich eigentlich nur verwirrt, was daran auch ersichtlich war, dass ich sehr lange geschwiegen und nachgedacht hatte. Der Mond war bereits, wenn man ihn mal hinter den Wolken sehen konnte, ein ganzes Stück weiter gewandert, ehe ich diese Sätze von mir gab. -
Er dachte nach, wobei er seine Augen schloss, um sich besser konzentrieren zu können. Nach einem Moment der Stille antwortete er:
"Ich denke es. Aber genau kann ich es nicht sagen, denn ich habe das Tao Te King noch nicht verstanden. Ich weiß aber, dass der Weg zur Erleuchtung für jeden anders ist. Und dass Wissen viel zu oft die Erkenntnis vernebelt. Vielleicht ist es also besser, wenn du wenig über dich weißt, weil es dann einfacher wird, dich selbst zu erkennen." -
Ein leises und nachdenkliches "Mhm," kam nur über meine Lippen und ich grübelte weiter. "Was aber, wenn ich es nur kann, wenn ich mich erinnere? Wer kann mir sagen, welches der bessere Weg ist?"
-
Cheng seufzte und zog seine Augenbrauen hoch. "Das wirst du leider selbst entscheiden müssen. Man muss seinen Weg selber gehen. Andere können einem Schuhe, Pferde oder wagen zur Verfügung stellen, aber die Richtung muss man selbst bestimmen. Ich habe dir nur Möglichkeiten gezeigt. Welche du wählst, liegt an dir. Aber egal, welche Wahl du triffst, du wirst immer wieder neue Möglichkeiten entdecken und neu wählen. Beim Entdecken der Möglichkeiten kann ich die helfen, beim Wählen kann ich es nicht. Leider."
-
Ich starrte weiter uaf das Wasser und spielte gedankenverloren mit dem Sand. "Wenn ich den einen Weg wähle, eröffne ich mir vielleicht Möglichkeiten mich selbst zu finden, in dem ich meine Vergangenheit ignoriere und nicht mehr versuche sie zu erhaschen. Ich bekomme die Möglichkeit unvoreingenommen an Sachen heranzugehen und somit neu zu entdecken. Aber ich verbaue mir damit auch die Möglichkeiten auf Erfahrungen und Wissen zurück zu greifen. Zwinge ich mich aber mich zu erinnern oder arbeite zumindest immer wieder und weiter darauf hin, dann kann es passieren, das ich zwar auf Wissen und Erfahrungen zurückgreife, dabei aber neue Wege übersehe," kam es nach einer Weile langsam und nachdenklich über meine Lippen. "Das ist eine Komplizierte und gelinde gesagt ungerecht. Egal welchen Weg ich eingehe, ich werde sowohl gewinnen als auch verlieren. Die Frage ist nur, wo wird der größere Gewinn oder VErlust zu finden sein?"
-
"Wenn ich meinem Meister diese Frage gestellt habe, hat er immer gesagt, dass es das Wichtigste ist, zu wissen, was das Wichtigste ist," meinte er ruhig, "und das hat mir geholfen, ohne mir zu helfen. Auch wenn das jetzt eigenartig klingt." Er dachte eine Weile nach. "Vielleicht ist ja der Weg das Ziel. Dann wäre die Entscheidung bedeutungslos. Und man könnte nie verlieren. Wichtig ist nur, nichts mit aller Kraft erreichen zu wollen. Sobald man etwas zu fest packt, schadet man ihm."
-
Wieder schwieg ich lange und meinte dann irgendwann seufzend. "Es tut mir leid. Aber ich glaube, dass alles verwirrt mich momentan mehr, als das ich es verstehe. Vielleicht bin ich nur zu müde und verstehe es deshalb nicht. Vielleicht bin ich auch einfach nicht schlau oder weise genug. Ich verstehe zum Beispiel nicht, wieso der Weg das Ziel sein sollte. Wenn ich einen Weg begehe, so doch nur um an das Ziel zu kommen."
-
"Wenn du die Augen nur auf das Ziel richtest, dann entgeht dir die Schönheit der Landschaft zu beiden Seiten des Weges. Oder ein anderes beispiel: Wenn du von einem Haus zu einem anderen Haus gehst, fühlst du dich vielleicht draußen, auf dem Weg, viel wohler als im Haus." Cheng lächelte aufmunternd. "Und glaube mir, du bist schlau genug. Als ich zum ersten Mal das Tao Te King gelesen hatte, war ich noch verwirrter als du jetzt. Das ist fast 20 Jahre her, und wirklich verstanden habe ich es immer noch nicht. Mach dir also nichts draus, wenn es dich verwirrt. Vielleicht wachst du in einem Jahr auf, und dir werden viele Dinge klar sein, die dich heute noch verwirren. So ist es mir ergangen und vor mir schon meinem Meister und auch meinen Eltern und vielen anderen."
-
"Mhm," kam es nachdenklich über meine Lippen. "Gestattest Du mir noch eine Frage? Du erwähntest jetzt schon mehrmals einen Meister. Wie muss ich den verstehen? Ist das so etwas wie ein Herr zu einem Sklaven? ODer eher so ewas wie ein Lehrer?"
-
"Ein Meister ist ein Lehrer. Er sollte so viel wissen, dass er alle Fragen eines unerfahrenen Schülers beantworten kann und den weit fortgeschrittenen Schülern zumindest bei der Suche nach Antworten helfen kann. Er ist eigentlich fast so etwas wie ein zweiter Vater oder ein guter Freund."
-
Ich dachte eine Weile schweigend nach und fragte dann noch einmal nach: "Wie nennt man in Deiner Sprache den Meister?"
-
"Wir nennen einen Meister shi. Warum fragst du?"
/edit: Rechtschreibung
-
"Shi?" wiederholte ich nachdenklich. Wieder schwieg ich und starrte auf das Meer. "Darf ich Dich noch etwas fragen?"
-
"So viele Fragen." Cheng lachte herzlich. "Aber nur zu, du kannst mich alles fragen. Auch wenn du nicht auf alles eine Antwort erhalten wirst."
-
Ich überlegte und haderte noch einen Moment, ob ich ihn das wirklich fragen sollte, aber dann nahm ich mir ein Herz. Ich drehte mich zu ihm und sah ihn direkt an. "Wir kennen uns eigentlich nicht, und doch haben wir in den letzten Stunden viel voneinander erfahren und Du hast mich viel gelehrt. Wärst Du bereit mich weiter zu lehren, mein Shi zu sein?"
-
"Gib mir einen Moment Bedenkzeit."
Er sah auf das Meer und dachte nach. War er bereit, ein Meister zu sein? Konnte er das? Hatte er selbst auch nur ansatzweise genug verstanden, um unterrichten zu können? Er ging ein paar Schritte hin und her. Wann war man ein Meister? Wer entschied, ob man ein Meister sein würde? Ein anderer Meister? Ein Schüler? Man selbst? Eine höhere Macht? Konnte er diese Verantwortung übernehmen? Hatte er überhaupt eine Wahl? Schließlich drehte er sich zu Pentesilea und verbeugte sich. "Es wäre mir eine Ehre, Pentesilea." -
Ich beobachtete ihn bange und fragte mich, ob es die richtige Wahl gewesen war ihn zu fragen. Würde er ja oder nein sagen? Was hätte ich mir damit eingebrockt, wenn er ja sagen würde. Aber alle Bedenken waren für das Erste verschwunden, als er mir positiv darauf antwortete. Ich atmete erleichtert auf und meine Augen leuchteten leicht. "Ich danke Dir! Und es ist mir eine große Ehre, dass Du mich als würdig genug erachtest Deine Schülerin zu sein."
Ich hatte mir die Worte gut zurechtgelegt und hoffte nicht zu viel Falsches darin zu sagen. -
Er lächelte, durchaus ein wenig stolz. "Du wirst ganz sicher eine gute Schülerin sein. Doch nun sollte ich dich vielleicht nach Hause bringen, sonst bekommst du diese Nacht überhaupt keinen Schlaf. Und das wäre nicht gut. Morgen ist schließlich auch noch ein Tag."
-
Ich wollte wiedersprechen, denn obwohl ich fürchterlich müde und erschöpft war, war mir nicht nach nach Hause gehen, aber ich wusste, dass er Recht hatte und so erhob ich mich langsam. "Ich danke Dir," sagte ich nur leise und hatte aber wegen einiger der anderen Dinge, die er gesagt hatte, so meine Bedenken. Dennoch liess ich mich nicht weiter davon beunruhigen und mich stattdessen von ihm begleiten.
Jetzt mitmachen!
Du hast noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registriere dich kostenlos und nimm an unserer Community teil!