• Eine Gruppe von verhüllten Gestalten betrat die Räumlichkeiten des Orakels. Einige von ihnen verteilten sich rasch, aber ohne gehetzt zu wirken im Raum und sicherten jenen.
    Einer von ihnen schlug die Kapuze seines schweren Palliums zurück und sah sich um.


    "Ein Bürger Roms bedarf des Rates der Sibylle."

  • Ein junges Mädchen in langem, weißen Gewand tritt dem Besucher entgegen. Sie lächelt nervös, denn dies ist das erste Mal, dass ihre Lehrerin Silvia sie alleine einen Ratssuchenden betreuen lässt. Vor wenigen Wochen erst ist sie im Orakel angekommen und alles ist noch immer so neu und ungewohnt.


    Sie verneigt sich leicht vor dem Bürger und blickt ihn freundlich lächelnd an. Irgendwie kommt er ihr bekannt vor und da er mit vielen Begleitern gekommen ist, vermutet sie einen Senator oder hohen Magistrat in ihm.


    "Salve! Gerne, doch hast du auch den benötigten Weihrauch mitgebracht?"

  • Das Mädchen nimmt den Weihrauch vorsichtig entgegen und untersucht ihn, wie sie es gelernt hat. Erleichtert stellt sie fest, dass es sich tatsächlich um den richtigen Weihrauch handelt und sie nicht wie so häufig die Fragesteller wieder wegschicken muss. So nickt sie und lächelt den Mann freundlich an.


    "Ja, der ist perfekt. Jetzt musst du mir nur noch die Frage sagen, die ich dem Orakel stellen soll..."


    Flugs steckt sie den Weihrauch weg und holt ein Wachstäfelchen mit Stilus hervor, um sich die zu stellende Frage gleich zu notieren.

  • "Meine Frage handelt von dem in Planung befindlichen Ulpianum. Ich will wissen, ob das Orakel eine Zukunft für jenes Bauwerk sieht. Ob der Kaiser Ulpius Iulianus die Beendigung der Bauarbeiten erleben wird."

  • Geflissentlich notiert das Mädchen die Frage des Besuchers und nickt bei jedem Wort bekräftigend. Schließlich blickt sie ein wenig aufgeregt auf.


    "Bitte warte hier und gedulde dich, ich werde deine Frage dem Orakel überbringen. Es kann ein wenig dauern, bis es die Antwort der Götter vernimmt."


    Sie lächelt noch einmal freundlich und macht sich dann auf, den langen Gang zum Orakel hin zu durchschreiten. Am liebsten würde sie mit großen, ausladenden Schritten eilen, doch Silvia hat sie immer wieder ermahnt, auch selbst Geduld an den Tag zu legen und einigermaßen Würde zu bewahren. So tritt sie durch das Spiel von Licht und Schatten hindurch und verschwindet schließlich am Ende des Ganges. Dort, von wo das leise Summen der Priesterinnen zu hören ist.


  • Das leise Summen ist mittlerweile zu einem melodischen Singsang angeschwollen, der durch den langen Gang zu den Wartenden herüberschallt. Es dauert seine Zeit, bis er wieder leiser wird und zu dem harmonischen Summen zurückkehrt, als das er begonnen hat. Es tritt sogar ein kurzer Moment der Stille ein, in welchem das Orakel in tiefer, jahrhundertealter Ruhe zu versinken scheint.


    Langsam und leise erhebt sich die Musik wieder und am Ende des Ganges ist nun auch wieder die schmale weiße Gestalt der jungen Priesterin zu erkennen. Mit zumindest gerinfügig gehobenen Selbstvertrauen versucht sie so würdevoll und gemessen daherzuschreiten, wie es ihr in ihren jungen Jahren möglich ist. Beim Fragenden wieder angekommen verneigt sie sich wieder mit einem freundlichen Lächeln.


    "Das Orakel war sehr gesprächig. Ich habe dir den Spruch auf diese Rolle geschrieben. Die kannst du anschließend mitnehmen."


    Sie nickt aufmunternd und nimmt dann das Papyrus hervor, um den Spruch der Sibylle mit wohlklingender Stimme vorzulesen.


    Wer richtig fragt, findet den richtigen Ort.
    "Do ut des" ist das richtige Wort.
    Wer wahrlich bereit ist zu geben,
    Wird das Geschenk seiner Tage erleben.


    Gebiete nicht Einhalt einer großmütigen Tat,
    Denn ein "Halt!" ist zu leicht in kaltem Rat.
    Ein rasches Lebewohl zeigt keine Treue.
    Im Dunkel der Straßen zu Roms: Bereue!


    Nur im Auge des Betrachters liegt,
    Was wahre Schönheit wirklich wiegt.
    In irdischen Reihen suche den Feind,
    Und fürchte nicht die Göttlichkeit.


    Zu sehen ist gefährlich echt.
    Was morgen ganz falsch, ist heute nicht recht.
    Ergreife die Zügel, um die Quadriga zu lenken!
    Zu Hinterlassen ist, damit die andern gedenken.


    Angst und Zweifel gibt es viel.
    Viel zu klein wirkt das entfernte Ziel.
    Wähle weise und sieh in die Flasche hinein,
    So hindert sich der Menschen Entzweien.


    Gebe, auf dass gegeben wird.
    Und nehme nicht, um zu geben.
    Die Welt ist im Wandel.
    Nutze den Löffel und du wirst leben.


    Stolz strahlt sie, als sie das Papyrus wieder einrollt und die Schriftrolle dem freundlichen Mann übergibt.


    "Bitte sehr. Ich hoffe, es hat dir weitergeholfen."

  • "Ohja, nichts anderes hatte ich erwartet. Ich danke dir, und verabschiede mich nun."


    Er lugte über seine Schulter und nickte einem der verhüllten Männer zu. Dieser reagierte umgehend und begab sich ins Freie, um der Gruppe einen Weg zurück zum Palast zu bahnen.


    "Vale, mein Kind."


    Der Kaiser versteckte sein Antlitz wieder unter der Kapuze und wandte sich von dem Mädchen ab um seinen Leuten nach draußen zu folgen.

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