Fröstelnd beobachtete sie den Germanen, als dieser sich das Schloss besah. Sie hatte von Anfang an verstanden, was er wohl vorhatte und auch wenn sich ihre Moral eigentlich dagegen stellte - ihr Körper sagte etwas anderes. Hier draußen hielt sie es nicht mehr lange aus. An und für sich war Regen nichts besonders Schlimmes, denn meistens konnte man sich vor diesem verbergen. Aber hier draußen, außerhalb der Stadt fühlte sie sich unter dem Wüten des Sturms verloren. So seltsam es auch klingen mochte, es machte sie traurig.
Als das Schloss nachgab atmete die sonst so gesetzestreue und ordentliche Minervina erleichtert auf. Und doch war sie verunsichert. Konnte man denn einfach so eine fremde Hütte betreten, zu der man sich auch noch gewaltsam Zutritt verschafft hatte? es war wohl besser, dies als ein kleines Geheimnis zu betrachten. Es konnte nicht legal sein. Waren sie erst drinnen, sollten sie versuchen möglichst wenig zu verändern. Der Besitzer wäre gewiss nicht erfreut, eine Unordnung vorzufinden, wenn er schon für ein neues Schloss aufkommen musste. Doch noch ehe sie einen Schritt wagte, schob er sie sacht voran, was sie mit einem leichten Überraschungslaut und einem, kurz darauf folgendem, freundlichen Lächeln quittierte.
Kaum dass sie in den - zugegebenermaßen nicht besonders freundlichen - Raum getreten war, wurde der Zug milder. Kaum noch etwas von dem unfreundlichen Wind war zu spüren und nur ein leises Wispern durch die Bretter zu vernehmen. Aber wenigstens war sie nicht allein und aus diesem furchtbaren Regen 'raus. Noch während sie sich ein wenig orientierungslos umsah, hatte er schon die Situation erfasst und plötzlich wurde ihr eine Decke um die Schultern gelegt. Noch ehe sie begriff, wie ihr geschah, wurde sie vorsichtig aber bestimmt 'warm' gerieben. Zumindest entstand durch die Reibung ein wenig Wärme. Als sie die Lage endlich vollends erfasst hatte, konnte sie sich des Lächelns nicht einmal mehr erwehren. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er sich so fürsorglich um sie kümmern würde, denn so und nicht anders betrachtete sie seine Geste. Er hatte bemerkt wie sie fror und noch ehe er etwas anderes tat, sorgte er dafür dass sie trocken und warm wurde. Gerührt sah sie vor sich auf den Boden, während sie die Decke noch etwas fester um sich schlang.
Nun begann sie, eher ihn als die Hütte zu beobachten. Er schien äußerst aufmerksam zu sein und in Anbetracht dieser Tatsache begann sie sich mit einem Anflug von Nervosität zu fragen, ob er auch ihre Tränen bemerkt hatte. Sollten ihre Augen gerötet sein würde es in diesem dämmrigen Zustand in der Hütte nicht weiter auffallen, doch hatte er es vielleicht draußen gesehen und sprach deshalb so wenig? Weil er nicht wusste, wie er mit dieser Situation umgehen sollte? Vielleicht kam ja daher auch seine Fürsorglichkeit. Und er schien immer wieder für eine Überraschung gut zu sein, denn recht bald hatte er mittels einer Öllampe für eine Lichtquelle innerhalb der Hütte gesorgt. Es war ein angenehmes Licht und - so sehr sie es manchmal auf nicht mochte - ein Labsal im Gegensatz zu der Finsternis und dem unheimlichen Blitzen die draußen umhersurrten.
Doch nicht lange und die nächste Überraschung erwartete sie, als sie ihn das Netz herunterholen sah. Noch hatte sie sich nicht gesetzt, sondern es vorgezogen, stehen zu bleiben. Während sie ihn beobachtete, schien die Traurigkeit wieder aus ihrem Gesicht zu verschwinden und das freundliche Lächeln verwandelte sich in einen grührten Blick. Als er ihr zu verstehen gab, dass sie sich setzen sollte, schüttelte sie allerdings nur den Kopf und deutete auf ihn und dann darauf. "Du! Du hast es dir verdient." Ihre Worte klangen in ihren Augen recht herrisch, was sie bedauerte, doch er verstand sie ja ohnehin nicht. So also legte sie mild den Kopf seitlich und lehnte sich an ein freies Stück Wand um zu verdeutlichen, dass sie nicht so gerne sitzen wollte - auch wenn dies natürlich nicht der Wahrheit entsprach.
Allerdings waren in dieser Hütte, zumindest für sie, die Standesunterschiede unwichtiger denn je. Sie musste hier jetzt eine kurze Weile miteinander zurechtkommen und ihrer Meinung nach hatte er sich genug um sie gesorgt, sodass er sich ruhig setzen konnte. Wenn sie sich recht entsann, hatte sie erst ein einziges Mal solche Selbstlosigkeit erlebt und das war bei diesem jungen Peregrinus gewesen. Marcus Hipparchus. Seinen Namen würde sie so schnell nicht vergessen, hatte er ihr doch ein wundervolles Geschenk gemacht, das keinen weltlichen Wert besaß und für sie doch so teuer war. Während sie an die beiden schönen und doch schrecklichen Tage zurückdachte, entrann ein dünnes Seufzen ihrer Kehle und so recht vermochte man nicht mehr zu sagen, welcher Art das Lächeln war - ob traurig, sehnsüchtig oder gar glücklich. Doch womöglich enthielt es alle drei Eigenschaften zugleich.