Der Blick ihres Bruders entging ihr nicht, denn er war so typisch für ihn, so still, ohne aufdringlich zu sein, und sie ahnte in diesem Moment auch, was er wohl denken mochte. Ihren Kummer über den Tod ihres Mannes kannte er nur zu gut, und auch wenn sie diesen oft vor ihm zu verbergen versuchte, insgeheim hatte sie doch sehr oft das Gefühl, dass er sehr genau wusste, wann sie traurig war und keinen Trost fand und wann sie in ihren Erinnerungen lebte, ohne zu weit in die Zukunft zu blicken. Zehn Jahre konnte man schließlich nicht einfach wegwischen und schon gar nicht vergessen. Dafür war zu vieles geschehen. Während sie sich kurz in Gedanken verlor, betrachtete sie ihren Bruder voll stiller Zärtlichkeit und ohne darüber nachzudenken, hob sie die Hand zur Brust an, dorthin, wo unter dem Stoff ihres Kleides das Lederband mit dem hölzernen Taubenanhänger ruhte, den er einst für sie geschnitzt hatte. Es hatte sich vieles in ihrem Leben verändert, aber diese Liebe zu ihrem jüngsten Bruder war stets geblieben, und es war gut, wie es war.
"Deine Verwandte Tiberia Livia habe ich vor einer Weile kennengelernt," sagte sie sinnierend in die Richtung des Vitamalacus und lächelte dann. "Sie ist wirklich eine sehr angenehme und intelligente Frau, bei der ich sehr gut nachvollziehen kann, wieso ihr Weg in die Politik so erfolgreich verlaufen ist. Ich hoffe, dass sie nicht beim Amt des Praetors aufhört und sich nicht von den vielen bösen Worten entmutigen lässt, die über Frauen gesprochen werden." Sie ließ kurz eine Pause entstehen, denn eigentlich wollte sie nicht zum Thema der Frauen in der Politik zurückkehren, es war in den letzten Wochen wahrlich genug besprochen worden, dafür hatte sie einige andere Fragen, die ihr schon seit einiger Zeit auf den Nägeln brannten.
"Kannst Du uns vielleicht etwas von Mogntiacum berichten, quaestor? Unser Vater dient der Stadt als Magistrat, und er schreibt in seinen Briefen leider sehr wenig über seine Arbeit, ich fürchte, er hat sehr viel zu tun - Du aber kennst das Land und die Menschen dort aus eigener Erfahrung. Ich würde einfach gern etwas mehr über die Umgebung wissen, in der unser Vater seine Zeit verbringt."