• Am späten Nachmittag traf Pertinax, ein schon ältlicher Mann, fast unbemerkt in der Ewigen Stadt ein. Jahre lang war er fort gewesen, und zwar in Griechenland, hatte Athen besucht, lebte lange Zeit im alten Korinth und ließ sich ein paar mal seine Zukunft vom Orakel von Delphi voraussagen.
    Die letzte derartige Prophezeihung - es war vor einigen Wochen - sagte ihm voraus, daß er in Roma zu großem Ansehen kommen würde, und das trotz seines doch recht fortgeschrittenen Alters. Daher also packte er seine sieben Sachen und brach auf gen Italia.
    Nun, nach wochenlangen Strapazen, war er endlich eingetroffen.
    Er erkannte die Villa kaum wieder und hoffte, daß man sich seiner erinnern würde ...

  • Noch immer weilte ich mit meinem Bruder in Rom und auch wenn die Abreise nach Mantua unmittelbar bevorstand, gab es noch einige Dinge zu regeln, die sich vornehmlich um die Factio drehten. Die Nachricht vom Eintreffen eines Verwandten überraschte mich während der Planungen für die kommende Rennsaison. Ich legte die Unterlagen zur Seite, grübelte über die Person dieses Verwandten nach und beschloss kurzerhand, ihn gemeinsam mit meinem Bruder begrüßen zu gehen.


    Kaum hatte ich einen Schritt auf den Gang gesetzt, legte ich die Hände seitlich an den Mund und rief:


    „Corvi? Wo bist du?“


    Anschließend lauschte ich auf jedes Geräusch, in der Hoffnung, mein Bruder möge sich schnell melden und nicht ein ähnliches Versteckspiel beginnen wie ich dereinst.

  • Pertinax betrat voller Vorfreude die Villa, die sich - so schien es ihm jedenfalls - seit seiner Abreise gen Achaea im vierten Jahre der Regierung des Domitianus (84 n. Chr.), was ja nunmehr bereits neunzehn lange Jahre zurücklag, kaum verändert hatte. Damals war er ein reifer Mann von fünfundfünfzig gewesen, heute stand er an der Schwelle zum Greisenalter.
    Als erstes begab er sich in den weitläufigen Garten und bestaunte die Pflanzenwelt, die wie unverändert schien. Doch hatte die Ewige Stadt in den langen Jahren seiner Abwesenheit vier Kaiser gesehen, den despotischen Domitianus, den weisen Nerva, den siegreichen Traianus und den allseits beliebten Iulianus. Eigentlich wollte Pertinax ja schon nach der Ermordung des Tyrannen Domitianus vor nunmehr sieben Jahren nach Roma zurück, doch ließ ihn Griechenland, dieses Ursprungsland der griechisch-römischen Kultur, diese Geburtsstätte epischer Erzählungen des Homer, nicht so leicht los.
    Obschon ein alter Mann, dachte Pertinax darüber nach, in die Politik zu gehen. Zwar körperlich bereits angeschlagen, war sein Geist doch wacher denn je, und auch an Weisheit fehlte es ihm nicht, glaubt man den Worten seiner ehemaligen Sklaven in Griechenland, denen er allesamt, bis auf einen, Antinoos, die Freiheit schenkte; eben jener Antinoos zog es vor, seinem Herrn bis in den Tod zu dienen.
    Da stand Pertinax also und schwelgte in Erinnerungen ...

  • Ein unzufriedenes „Hm“, kam über meine Lippen. Ich stemmte die Arme in die Hüften und die Stirn kräuselte sich. Wo mochte er bloß wieder stecken, der Corvinus? Ich spazierte durch die Gänge und steckte in den einen oder anderen Raum meine Nase … aber nichts. Also beschloss ich kurzerhand, alleine den Verwandten aufzusuchen.


    Sklaven sagten mir, dass er sich im Garten befinden würde und so lenkte ich meine Schritte dorthin. Ich kannte den Onkel nicht, denn ich mussten – falls ich überhaupt schon geboren war – bestenfalls ein Kleinstkind gewesen sein, als er fort ging. Entsprechend unsicher trat ich ihm entgegen.


    „Salve! Ich bin Antoninus’ Tochter – Deandra. Erinnerst du dich an mich?“

  • Pertinax vernahm plötzlich, als er dem Zwitschern der Vögel lauschte, eine liebliche Stimme, engelsgleich, und er meinte erst, er träume, doch dann wandte er seinen Blick doch in jene Richtung, aus welcher er die süßen Töne vernommen hatte.
    Er erblickte eine schlanke, wohlgeformte, ja sehr schöne Frau; sie mochte um die fünfundzwanzig Lenze zählen, doch fragte er freilich nicht danach, wäre es doch höchst unschicklich gewesen.
    Sogleich erhob er sich und machte eine galante angedeutete Verneigung. Seine Miene wurde von einem Lächeln dominiert, welches - obschon er einen Bart nach Art der Griechen trug - deutlich zu erkennen war.
    Schließlich sagte er in einem väterlichen Ton:


    "Wie groß Du geworden bist, Deandra - eine wahrhaft stattliche Frau!"


    Pertinax nahm seinen Gehstock und ging einen Schritt auf Deandra zu.


    "Du fragtest, ob ich mich Deiner erinnere, und ich sage Dir: ja, ich erinnere mich. Du warst damals noch ein sehr kleines Kind, als ich Roma den Rücken zuwandte, um mich zu den Wurzeln unserer Kultur zu begeben, ins Land des Aristoteles und des Sophocles, des Isokrates und des Diogenes, des Alexander und des Plato. Sicherlich hat Dir Dein Vater ein wenig von mir erzählt, obschon ich es ihm nicht verübeln will, wenn dem nicht so ist ..."


    Pertinax starrte auf den kleinen Gartenteich und schien, in Gedanken zu versinken.


    "... ja, ja, mein Aufbruch war wohl doch etwas überstürzt."

  • Ein Lächeln der Erleichterung legte sich auf mein Gesicht, als ich bemerkte, dass der Onkel weniger streng, dafür umso mehr galant war. Mit dem Gehstock erinnerte er mich an Eigenius, von seinem Wesen her glich er im Grunde niemandem … höchstens etwas Cicero.


    „Du bist Onkel Pertinax, oder? Während Vater so wie Onkel Crassus in Syria weilte, war dein Bruder Cicero dir nach Griechenland gefolgt, um ebenfalls die Weisheiten vor Ort zu studieren“, berichtete ich von meinem Wissen. Viel mehr war mir aber nicht bekannt. Ich folgte seinem Blick zum Gartenteich und beobachtete den Flug der Libellen, bevor ich mich ihm erneut zuwandte.


    „Ich hoffe, deine Reise war gut und du wirst nun für länger im Schoße der Familie verweilen?“
    Fragend blickte ich Pertinax an. „Weite Teile der Familie leben seit längerem in Mantua“, fügte ich leise an.

  • Pertinax vernahm die Worte seiner Nichte und erwiderte:


    "Oh verzeih ... Ja, ich bin Pertinax, Dein Oheim."


    Pertinax lächelte wiederum und fuhr fort:


    "Fürwahr, ich kann mich bezüglich meiner Reise nicht beklagen. Von meinen einstmals acht Sklaven habe ich nur einen, Antinoos, behalten.
    Nun, ich will mich fürs erste in Roma umschauen, die Stadt erkunden, die ich seit beinah' zwanzig Jahren nicht mehr gesehen habe.
    Mantua? Wie kamt ihr dazu, ins beschauliche Mantua zu gehen, meine Liebe?"

  • Ich warf einen kurzen Blick auf den Sklaven, um ihn bei Gelegenheit einsortieren zu können.


    „Ja, sieh dich in Rom um. Die Bauten sind noch so wunderbar wie seit je.“ Fast zwangsläufig ergab sich die Antwort auf seine nächste Frage.


    „Komm, lass uns auf der Bank Platz nehmen“, begann ich zögerlich. Vermutlich war es besser, wenn der Onkel sitzend von Mantua hörte.


    „Es war im Frühjahr letzten Jahres, als Sophus, dein Neffe …“ Wie vielten Grades war er das eigentlich? Ich wusste es nicht zu sagen. „… nach seiner Quaestur zurück zur Legio I ging. Wir hatten uns lange beratschlagt, weil in Rom ganz andere Sitten Einzug erhalten hatten, die wir weder gut heißen noch ertragen konnten. Ich habe Mantua mit Hilfe konservativer Freunde als DEN konservativen Standort im Reich aufgebaut. Seither sind immer mehr Aurelier dorthin gezogen, weil sie die Zustände in Rom dazu treiben oder sie die alten Zeiten nur in Mantua wieder finden.“


    Mein Blick schweifte zögerlich zu meinem Onkel. Wie mochte er die Nachricht aufnehmen.

  • Nachdem sie sich gesetzt hatten, horchte Pertinax, ein überzeugter Anhänger der alten Götter, aufmerksam zu, was seine Nichte berichtete. Zwar hatte er von einer gewissen Abkehr der Hauptstadt gehört, doch nicht, daß es so ernst war. In Griechenland dagegen waren die Menschen von alters her den landläufigen Göttern eng verbunden.


    "Hat sich Mantua demzufolge zu einer Art Zuflucht für die althergebrachten Sitten entwickelt?"


    Bevor Aurelia noch antworten konnte, fuhr er selbst fort; ein melancholischer Unterton war unüberhörbar.


    "Früher oder später wäre es wohl sowieso dazu gekommen ..."

  • „Oh nein, Onkel Pertinax“, wehrte ich ab. „Daran möchte ich nicht glauben. Ganz im Gegenteil – es muss wieder eine allmähliche Rückentwicklung des gesamten Reiches stattfinden und mit Rückentwicklung ist natürlich kein Rückschritt, sondern ein Besinnen auf die alten Werte, Tugenden und Strukturen gemeint, die sich längst als Stabilitätsfaktor für Rom bewährt haben. Es müssen nur genügend Römer mahnen und dafür eintreten, dass sich weite Teile der Bevölkerung derart zurückbesinnen. Ich meine, wir haben da schon Vorzeigbares erreicht.“


    Ich schmunzelte vor mich hin. Da kam wieder einmal die Kämpfernatur in mir durch, doch dann schoss mir ein Gedanke durch den Kopf ...


    „Du wirst dich doch nicht mit der unakzeptablen Situation im Reich arrangieren wollen?“, fragte ich unsicher und blickte meinen Onkel erwartungsvoll an.

  • "Mein Kind, das habe ich nicht vor, dessen sei gewißlich versichert. Die Reinhaltung der Religion ist mir ein großes Anliegen.
    Rom ist ein Weltreich, das ist eine Tatsache, und es wird ein Weltreich bleiben, so lange es im Inneren stark ist. Und diese neuen Tendenzen sind Tendenzen der Schwäche. Daher hoffe ich, daß die Römer sie abstoßen."


    Besorgt erwiderte Pertinax Deandras Blick.

  • Wie es der Onkel wohl gemeint hatte, dass es sein Anliegen war, die Religion rein zu halten? Ich neigte meinen Kopf zur Seite und lächelte.


    „Hast du spezielle Pläne?“


    Schließlich sann ich noch länger über seine Worte nach. Es tat gut, sie zu hören. „Ich habe es bisher nie als Schwäche gesehen, wenn jemand den neuen Tendenzen verfallen war, aber der Gedanke hat etwas Tröstliches.“ Ich nickte, um die Aussage zu bekräftigen.

  • "Nun, ich hoffe, daß die alten Götter allerorts wieder so verehrt werden wie zu Augustus' Zeiten ..."


    Pertinax konnte seine Hoffnungen selbst kaum glauben und fuhr fort:


    "... Hundert Jahre sind seitdem vergangen, und die Sekte, welche sich Christentum nennt, hat eine große Anhängerschaft gewonnen, vor allen Dingen bei den Sklaven und beim einfachen Volk."

  • „Hm.“ Ich schaute meinen Onkel nachdenklich an, senkte dann jedoch den Blick und ließ meine Gedanken durch das Rom der vergangenen Monate schweifen. Ich wusste, dass die Christen eine große Gefahr waren, aber sie traten noch nicht allzu sehr in Erscheinung.


    „Weißt du, Onkel Pertinax“, sagte ich schließlich und blickte wieder auf. „Es gibt zwar hier und da Anzeichen, dass Christen ihren Glauben verbreiten, aber mir scheint, Rom und die Religio romana hat einen viel größeren Feind – die generelle Ungläubigkeit der Menschen. Die Hausgötter werden nicht mehr in dem Maße verehrt, wie es unsere Ahnen taten und auch die altrömischen Götter geraten bei immer mehr Römern in Vergessenheit.“

  • "Ich wußte nicht, daß die Einwohner der Ewigen Stadt derartigen Lastern anheim gefallen sind ... Im alten Griechenland war Derartiges nicht zu verspüren. Ich sehe schon, ich war zu lange weg."


    Pertinax wirkte betrübt, fuhr dann aber dennoch fort:


    "Nur wie soll man die Römer dazu bringen, den Glauben an die Götter wieder zu gewinnen? Mit Gewalt wird sich das schwerlich erreichen lassen ..."

  • Selbst ratlos, zuckte ich mit den Schultern.


    "Ich weiß es nicht und hatte gehofft, du weißt Rat. Vielleicht geht es nur durch Vorbildwirkung. Wir versuchen zum Beispiel die traditionellen Feste beizubehalten. Mein Bruder Corvi feiert in Kürze seine Liberalia. Es trifft sich hervorragend, dass du rechtzeitig zu diesem Anlass nach Rom gekommen bist."

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