• Das Ringen der indoeuropäischen Einwanderer um die Vorherrschaft in Italien


    Feriae Latinae
    Um 800 v. Chr. Auf dem Albaner Berg – Monte Cavo / südöstlich Roms



    Vom Albanischen Berg hatte man einen weiten Blick auf die Ebene. Kar bewachsene Heideflächen wechselten sich mit lockeren Wäldchen ab, in denen Wildschweine und andere Tiere Unterschlupf fanden. Jetzt im Frühling war das ganze Land mit frischem Grün überzogen, und überall fanden die kleinen Schaf- und Rinderherden genügend Nahrung. Wer von der Spitze des Berges seine Augen nach Westen richtete, erblickte unter sich die runde Wasserfläche des Albaner Sees und dicht dabei die kleine Gruppe strohgedeckter Hütten von Alba Longa, dem Wohnsitz eines der beiden Könige des Latinervolkes. Weiter in der bis zum Horizont reichenden Ebene zeigten Rauchsäulen die Lage anderer Siedlungen oder vorübergehender Lagerplätze von Hirtengruppen an.


    König Numitor genoss die ruhige Viertelstunde, die ihm bis zum Beginn des großen Opferfeuers auf dem heiligen Berg der Latiner noch verblieb. Ein einfaches rohwollenes Hemd, die Tunika, mit einem Gürtel auf der Brust, bedeckte seinen muskulösen Körper, nicht anders als ei den anderen älteren Kriegern seines Stammes. Der Schädel und das Fell eines Wildschweins dienten ihm als Kopfschmuck, ein Zeichen, das Numitor zur Sippe des sagenhaften Stammesgründers gehörte, der von einem göttlichen Wildschwein abstammen sollte. Sinnend stand der König am steilen Abhang des Berges, auf seinen Speer mit der Eisenspitze gestützt und blickte nach Norden. Vor vielen Generationen war der latinische Stamm, das „nomen Latinum“, von dorther in seine jetzigen Wohnsitze eingewandert. Von Generation zu Generation überlieferte Erzählungen berichteten noch davon, auch wenn die genauen Einzelheiten im Laufe der Zeit immer mehr verschwanden.


    Einst, vor vielen Generationen, hatte die „tota“ der Ahnenwelt, weit gen Mitternacht, viele Tagesreisen jenseits der schneebedeckten Berge der Alpen, ihre Herden weiden lassen. Eines Tages waren die jungen Leute unruhig geworden und mit einem großen Teil der Herde nach Süden gezogen, auf dem Weg östlich um die Alpen herum, von dem wandernde Händler ihnen berichtet hatten. In der weiten Ebene südlich der Alpen, nahe dem großen Fluss Padus (Po), hatte sich dann die neu organisierte „tota“ für einige Generationen niedergelassen, in der Nachbarschaft der ebenfalls von Nordosten her eingewanderten Veneter. Doch diese waren im Laufe der Zeit immer zahlreicher geworden und hatten die Weidegründe des „Wildschwind-Volkes“ immer mehr eingeengt, bis es sich zum Weiterziehen entschloss. Ein Teil war nach Sonnenuntergang bis in die abgelegenen Alpentäler gezogen. Der größte Teil des Stammes hatte sich aber zusammen mit den verwandten Faliskern vorbei an den Siedlungen der Alteinwohner des Landes, über Bergketten und Gebirgstäler weiter nach Süden durchgekämpft, bis er zwischen Tiberfluss und Albaner-Berg neue günstige Weiden für seine Rinder und Schafe gefunden hatte. Es ging die Sage, dass der Schutzgott der „tota“ in Gestalt einer weißen Bache, eines weiblichen Wildschweins, vor den Herden losgewandert war und ihnen den Weg gewiesen hatte.


    Hier im Umkreis des Albaner Bergs war das wandernde Volk nun schon seit längerer Zeit zur Ruhe gekommen, es hatte von der Ebene ringsum den Namen „Latiner“ (die Leute vom flachen Land) angenommen, und seine Herden hatten sich vermehrt. Mit den alten Einwohnern des Landes, den Händlern und Bauern in den kleinen Siedlungen, vertrug man sich schlecht und recht. Gegen die kriegerischen genügsamen Hirten aus dem rauen Norden hatten die Alteinwohner keine starken Kräfte einzusetzen.


    König Numitor riss sich von seinen Gedanken los, um zusammen mit seinem Mitkönig Amulius am Feueraltar auf dem höchsten Punkt des Berges seine Pflicht als oberster Priester seines Volkes zu walten. Heute war ja der letzte Tag der „Feriae Latinae“, des großen Festes, das alle dreißig Abteilungen des Latinervolkes zum Beginn des Frühlings und damit des Jahres hier auf dem heiligen Berg zum Opfer und Fürbittgebet für alle Latiner vereinigte. Die Oberhäupter der drei großen Geschlechterverbände, der Tribus, in die das Latinervolk nach uraltem Brauch eingeteilt war, hatten den Berg erstiegen, zusammen mit den dreißig Anführern der Decurien, der Zehnteln in die jeder Tribus zerfiel.


    Diese vom Götterwillen geheiligte Einteilung des Stammes hatte sich immer wieder bewährt. Im Kampf wussten die Krieger sofort, an welcher Stelle der Schlachtreihe sie sich aufzustellen hatten, ohne dass es Verwirrung gab, denn jede Dekurie hatte ihren bestimmten Platz. Und als die Latiner ihre jetzigen Weidegründe um den Albaner-Berg besetzten, konnten die Vorfahren der heutigen Könige, Latinus und Silvius, jedem Stammesdreißigstel sein bestimmtes Weidegebiet zuweisen und damit manche Gründe für Streit und Totschlag ausschalten. Damit aber die dreißig Teile des Volkes, die nun schon lange ihre eigenen festen Siedlungen hatten und sich zu eigenen Völkern mit besonderen Schicksalen zu entwickeln begannen, sich nicht gänzlich auseinander lebten, gab es jedes Jahr das große gemeinsame Opfer aller Latiner. Aller Streit, alle oft blutigen Fehden zwischen einzelnen Geschlechtern oder Kurien, wie man die Stammesabteilungen auch nannte, mussten da schweigen. Ehrfürchtig nahten sich alle dem Heiligtum ihres höchsten Gottes, des Jupiter Latiaris, des latinischen Jupiter (vgl. Dieus-petér!), die Männer von Alba Longa und Lavinium, der beiden Königssitze der Latiner, die Fuchssippe der rutulischen Hirten von Ardea mit ihren Helmen aus Fuchsfellen, die Pometiner, die Leute von Gabii und Praeneste, und auch das Dreißigstel, das in der Nähe des Tiberflusses am Bach Rumon zwei Hügel besiedelt hatte. Romulus hatte sich der eine der beiden Häuptlinge dieses Dreißigstels nach dem Bach benannt, und sein Mithäuptling hieß Remus. Denn wie das Latinervolk insgesamt in seine altüberlieferten dreißig Geschlechterverbände zerfiel und von zwei Königen geleitet wurde, so wurden wie in einem verkleinerten Spiegelbild diese alten Bräuche in jedem Stammesdreißigstel wiederholt.


    Jetzt brachten Frauen aus den dreißig Stammesgruppen die Opfertiere und Opfergaben zum Feueraltar, allen voran der untadelige weiße Stier, der diesmal nach althergebrachter Reihenfolge von der Wolfskurie, den von Romulus und Remus angeführten Geschlechtern, gestellt wurde. Die beiden Könige Numitor und Amulius sprachen die vorgeschriebenen Weiheworte, übergossen den Stier mit einem Krug mit Quellwasser, zeichneten ihn mit einem Messer als dem Gotte geweiht und überantworteten ihn den Opferdienern. Diese schnitten dem Stier mit geübter Bewegung die Kehle durch und ließen das Blut auf den Steinaltar ins Feuer rinnen. Danach zerteilten sie das tote Tier mit Messern und warfen die Fleischstücke ins Altarfeuer. Und als das Fleisch gar war, hoben die Könige die einzelnen Stücke vorsichtig vom Altar und verteilten sie feierlich an die anwesenden Vertreter der dreißig Latinerkurien, die nacheinander an sie herantraten und in genau festgelegtem Wortlaut ihren Anteil erbaten. Jede Kurie bekam den Teil des Opfertieres, der ihr ein für allemal nach dem aus dem fernen Norden mitgebrachtem Brauch zustand, damit es keinen Streit gab: Die Leute von Alba Longa erhielten stets das Herz, die von Gabii den rechten Vorderschenkel, und die Wolfssippe des Romulus und Remus ein Bratenstück von der linken Querrippe.


    Im gemeinschaftlichem Verzehren des Opfertieres – wozu natürlich nur Männer zugelassen waren – erneuerten die Vertreter der latinischen Kurien (von Co[n]-virien = Männerversammlungen) die Bande ihrer gemeinsamen Abstammung vom göttlichen Wildschwein. Zugleich nahmen sie die gewaltige Kraft des geopferten Stiers in sich auf, deren sie als Hirten und Krieger in einer stets feindlichen Umwelt immer wieder bedurften.

  • Bei aller schuldiger Ehrfurcht vor dem berühmten römischen Historiker Livius und dem Dichter Vergil darf festgestellt werden, dass ihre Berichte über die Vorzeit Roms mit der obigen Episode neben dem Thema eines gemeinsam haben: Nach gewissen Vorstudien haben die Autoren viel Phantasie eingesetzt. Allerdings wären Livius und Vergil sicher nicht mit der Darstellung in diesem Buch zufrieden. Denn wo bleibt die Größe, die göttliche Herkunft, die Einmaligkeit Roms schon in den allerersten Anfängen? Wo bleibt der Held Äneas, der Flüchtling aus dem eroberten Troja, der der römischen Überlieferung nach ein Vorfahre der Römer war? Trotz aller Phantasie hat die vorstehende Episode von den „Feriae Latinae“ wohl den Vorzug, die (prä)historischen Verhältnisse sehr viel zutreffender zu schildern als die Bücher des Livius, Vergil oder anderer altrömischer Autoren, die doch den Ereignissen zweitausend Jahre näher standen als unsere Zeit.


    Man ist sich heute in der Fachwissenschaft darüber klar, dass die römische Frühzeit durch die Berichte der Historiker und Schriftsteller aus der Blütezeit des römischen Weltreiches eher verfälscht und verdunkelt als erhellt worden ist. Zumindest müssen die „Sagen des alten Roms“ von Äneas, Romulus und Remus und der Gründung Roms mit den Erkenntnissen aus Ausgrabungen, vergleichender Religions- und Sprachwissenschaft, Völkerkunde und anderen Wissenschaften in Beziehung gebracht werden, um daraus Erkenntnisse für den möglichen wirklichen Ablauf der Geschehnisse zu gewinnen. Die obige Darstellung versucht, entsprechende Forschungen für den Laien verständlich umzusetzen, und folgt dabei insbesondere dem guten Kenner der römischen Frühzeit, dem in den USA lebenden ungarischen Prähistoriker Andreas Alföldi.


    Wie und wann kamen die indoeuropäischen Bewohner Italiens – man nannte sie zusammenfassend „Italiker“ – in die Apenninen-Halbinsel? Denn eines ist sicher. Die späteren Römer waren nur ein kleiner Teil dieser Nachkömmlinge der Kurgan-Hirten, und jahrhundertelang blieb es unentschieden, welche Völkergruppen die Vorherrschaft in Italien erringen würde.


    Zum besonderen Verständnis müssen wir noch einmal in die Periode der späteren Bronzezeit im südöstlichen Mitteleuropa zurückkehren, als dort die „Urnenfelderwanderung“ begann (um 1300 v. Chr. – vgl. 9. und 15. Kapitel). Denn die so unruhig gewordenen indoeuropäischen Stammesgruppen dieses Gebiets begaben sich nicht nur auf die große Wanderung in die Balkanhalbinsel, nach Kleinasien und bis nach Ägypten, sondern Teile zogen auch – vermutlich um den Ostabhang der Alpen herum – nach Oberitalien. Eine erste Welle der „verbrennenden Italiker“ wie sie die Archäologen nennen, tauchte schon im 12. und 11. Jahrhundert v. Chr. dort auf. Es müssen noch recht primitive Hirtenstämme gewesen sein, wild und urtümlich im Vergleich zu manchen gleichzeitigen indoeuropäischen Vertretern; sie hielten noch lange zäh an dieser Lebensweise fest und wiesen jeden Gedanken, sich als Ackerbauern auf Dauer an eine Scholle festzuklammern, weit von sich.


    Weder schriftliche Zeugnisse – wo sollten sie herkommen? – noch irgendwelche archäologischen Belege bieten einen Hinweis, wo diese späteren Latiner einst nördlich der Alpen ihre Herden weideten. Der Sprachwissenschaftler Krahe hat allerdings auffällige Verwandtschaften der lateinischen mit der frühgermanischen und auch mit der keltischen Sprache festgestellt, die er auf längere nachbarschaftliche Kulturbeziehungen zurückführt. Dann bleibt eigentlich nur der Schluss übrig, dass die Vorfahren der Latiner irgendwo in Norddeutschland die Bronzezeit verbracht haben (dies deutlich auszusprechen, hütet sich Krahe als vorsichtiger Wissenschaftler allerdings). Ob nicht die deutsche Landschaft „Falen“ beiderseits der mittleren Weser (jetzt nur noch in „West-Falen“ erhalten; im frühen Mittelalter nannte man das heutige Niedersachen „Ost-Falen“!) den Namen der kleinen Völkerschaft der Falisker bewahrt, die mit einer dem Lateinischen eng verwandten Sprache sich nach der Wanderzeit in Falerii, 60 Kilometer nördlich Roms, niedergelassen hatte?


    Nach der ersten großen Wanderung müssen Latiner und Falisker für einige Zeit im östlichen Oberitalien Station gemacht haben. Ein nachbarschaftlicher Kultur – und Sprachaustausch mit den illyrischen Venetern ist nachgewiesen (vgl. 16. Kapitel, Eine Stadt vor dem Untergang). Und als die späteren Latiner von dort aus weiter nach Latium in Mittelitalien zogen – vermutlich zwischen 1100 und 1000 v. Chr. -, da scheinen auch kleinere illyrisch-venetische Gruppen sie begleitet zu haben, denn die Sprachforscher identifizierten einzelne typisch venetische Ortsnamen in Mittelitalien.


    In einem abgelegenen Tal der italienischen Alpen, dem Val Camonica westlich des Gardasees, fanden Wissenschaftler vor einigen Jahrzehnten Tausende von in den Fels gekratzten Zeichnungen, die im Stil außerordentlich an die „Felsritzungen“ erinnern, denen wir im 15. Kapitel (Die Schiffe der Nordleute) begegnet sind. Allerdings wurden nicht Schiffe dargestellt, sondern vorwiegend Rinder – der Lebensinhalt von Viehzüchtern. Und aus späterer Zeit, etwa dem 4. bis 1. Jahrhundert v. Chr., aber sicher zum gleichen Volk gehörig, entzifferte man dort Inschriften, die sich zur Verblüffung der Fachleute als altertümliches Latein entpuppten. Dabei hatten zur Entstehungszeit dieser Schriften die Römer sind noch längst nicht bis in diese Gegend ausgedehnt. Es ist im Rahmen dieses Buches nicht möglich, ausführlich auf das „Rätsel von Val Camonica“ einzugehen. Aber es muss sich bei den Urhebern der Felszeichnungen und der Inschriften um einen während der Wanderungszeit abgesplitterten Teil der Latiner gehandelt haben, die dort in weltgeschichtlicher Abgeschiedenheit die ungeheuren Wandlugen des „römischen“ Teils der Latiner nicht mitgemacht haben.


    Die Einwanderung der „verbrennenden Italiker“ (die ihre Toten verbrannten und in Urnen beisetzten) ins mittelitalienische Latium fand bei der Vorbevölkerung offenbar nur geringen Widerstand. Diese „Urbevölkerung“ mittelmeerischer Kultur und Rasse hat jedenfalls später keine eigenständige Rolle mehr gespielt. Vielleicht stammt aber die Anregung, sich in festen Siedlungen niederzulassen – Städte im eigentlichen Sinne waren es zunächst wohl noch nicht -, die die latinischen Hirten in den folgenden Jahrhunderten befolgten, von diesen Vorbewohnern.


    Einige Zeit nach der Einwanderung der „verbrennenden Italiker“ nach Mittelitalien scheint eine zweite Welle indoeuropäischer Hirtenkrieger die Apenninen-Halbinsel betreten zu haben. Es waren die so genannten „bestattenden Italiker“, Gruppe, aus denen sich später die zahlreichen oskisch und umbrisch sprechenden Völkerschaften Italiens – Samniten, Sabiner, Umbrer, Volsker und viele andere – entwickelten. Sie waren wie die Latiner genügsame Berghirten und setzten sich auf den Hochweiden und in den Gebirgstälern des Apenninen-Gebirges fest, das sich ja bis in die Stiefelspitze Italiens hinzieht. Und wieder bald darauf, immer noch vor dem Einsetzen eigener schriftlicher Überlieferungen – das heißt zwischen dem 10 und dem 5. Jahrhundert v. Chr. – wurden große Teile der italienischen Ostküste von illyrisch sprechenden Völkern besiedelt, die vermutlich über die Adria von der Balkanhalbinsel her kamen.


    Die Sprachforscher sind sich nicht einig, wie nahe die lateinische Sprache mit den verschiedenen oskischen und umbrischen Dialekten verwandt war, von denen wir heute allerdings nur wenige Beispiele in schriftlichen Dokumenten überliefert bekommen haben. Sicher war das Oskische eine indoeuropäische Sprache. Neben zahlreichen auffälligen Ähnlichkeiten mit dem Lateinischen weist es aber auch ebenso auffällige Unterschiede auf. Sind die Ähnlichkeiten nur auf jahrhundertelange Nachbarschaft mit den Latinern und eine „gesamtitalische“ Sprachangleichung zurückzuführen, oder bestand doch eine ursprüngliche, besonders nahe Sprachverwandtschaft der beiden „italischen“ Sprachgruppen? Dass die Sprache der illyrischen Veneter, Messapier oder Japyger an der Adria hiervon zu unterscheiden war, haben die Sprachwissenschaftler schon früh erkannt.


    Latiner, Osker und Illyrer waren allerdings nicht die einzigen Völker, die sich in den „dunklen Jahrhunderten“ in Italien festsetzten. Seit etwa 750 v. Chr. Erreichten größere Siedlungsgruppen aus Griechenland die Küsten Siziliens und Unteritaliens und gründeten dort Kolonialstädte, die einen wichtigen Einfluss auf die weitere Geschichte der Apenninen-Halbinsel ausübten. So sehr fühlten sich die Griechen dort zu Hause, dass dieses Gebiet bald „Magale Hellas – Großgriechenland“ genannt wurde.


    Ebenso wichtig, ja für das Entstehen des „Phänomens Rom“ noch entscheidender waren allerdings die geheimnisvollen Etrusker. Das seit dem Altertum andauernde Rätselraten über ihre Herkunft ist heute wohl doch zugunsten der Version entschieden, dass sich Auswanderer aus dem nordwestlichen Kleinasien – aber keine Indoeuropäer – über mehrere Zwischenstationen im östlichen Mittelmeer seit dem 9. Jahrhundert v. Chr. in Mittelitalien ansässig machten (vgl. 11. Kapitel, Lydien, Vermittler zwischen Osten und Wesen, S. 260). Eine etruskische Herrenschicht errang dort nach und nach die Oberhand über zahlreiche alteingesessene Völkerschaften und eingewanderter indoeuropäische „Italiker“, gründete mächtige Handelsstädte und verbreitete erstmals Kunst und Kultur im vorher recht primitiven Italien. Dass diese Kultur in weiten Bereichen von griechischen Vorbildern bestimmt war und nur ein geringer Anteil eigener etruskischer Schöpfung entsprang, macht die Erforschung dieses Volkes nicht gerade leichter.


    Die Bewunderung der Etrusker für die griechische Kultur wird es auch gewesen sein, die sie veranlasste, sich als Flüchtlinge aus dem in der „Ilias“ des Homer verherrlichten Troja, als Nachfahren des Äneas, auszugeben. Doch wie dieser Äneas in Beziehung zu Rom geriet, das wird weiter unten beschrieben. Zu der Zeit jedenfalls, in der die obige Episode vom Jahresfest der Latiner spielen soll – etwa um 800 v. Chr. -, waren Etrusker zwar schon in Italien aufgetaucht. Aber sie waren noch weit davon entfernt, fast der ganzen Halbinsel ihren Stempel aufzudrücken. In Latium wird man ihre Ankunft damals vermutlich kaum zur Kenntnis genommen haben.


    „Sieben – fünf – drei: Rom kroch aus dem Ei“, so lernte man früher in der Schule, um sich das legendäre Gründungsdatum Roms – 753 v. Chr. – zu merken. Aber die Spatenforschung hat inzwischen festgestellt, dass es Siedler – und zwar vermutlich bereits latinische Hirten – auf dem Kapitol- und Palatinhügel Roms schon lange vorher gegeben haben muss. Und Rom war auch keineswegs die erste Stadt, die in dieser Gegend entstand. Andere Städte der Latiner (und vermutlich schon der mittelmeerischen Vorbevölkerung9 wie Alba Longa, Ardea und Lavinium waren älter und in der Frühzeit erheblich bedeutender als das Hirtendorf am Tiber. Rom war sicher zuerst nur eine der dreißig Stammesabteilungen des Latinerstammes, und keineswegs die wichtigste.


    Von der schönen Sage, wie die Zwillinge Romulus und Remus die zur Weltherrschaft vorherbestimmten Stadt Rom gründeten, bleibt nicht viel übrig. Aber warum sollen nicht diese beiden Männer tatsächlich Menschen von Fleisch und Blut gelebt haben? Für die bekannte Sage, dass die von einer Wölfin gesäugt worden seien, gibt Andreas Alföldi eine einleuchtende Erklärung. Wie wahrscheinlich die meisten frühen indoeuropäischen Völker führten auch der Stamm der Latiner und seine einzelnen großen Geschlechterverbände ihren Ursprung auf tiergestaltige Gottheiten zurück, die dann als „Totemtiere“ verehrt wurden; deutlicher Hinweis auf die östliche, halbasiatische Herkunft der Abkömmlinge der Kurgan-Hirten. Bei den Latinern insgesamt war das Totemtier ein weibliches Wildschein, bei der Gruppe um Romulus und Remus eine Wölfin. Von dem Sinnbild Roms, dem weltbekannten archaischem Standbild der „kapitolinischen Wölfin“, weiß man längst, dass die beiden kleinen Kinder unter dem Tierleib erst eine spätere Zufügung waren. Diese Zufügung stammte aus einer zeit, als die Römer die ursprüngliche Bedeutung dieses Tierbildes nicht mehr kannten und sich die rührende Sage von der Wölfin als Ziehmutter der vom bösen König ausgesetzten Zwillinge als rational-mythische Umdeutung zurechtgemacht hatten.


    Auch die Geschichten vom Streit zweier feindlichen Brüder um die Herrschaft – Romulus gegen Remus, Amulius gegen Numitor -, die Livius und andere Schriftsteller als Sagen wiedergeben, zeigen, dass die Römer der klassischen Zeit keine Ahnung mehr davon hatten, dass jede Gruppe ihres Volkes in der vorgeschichtlichen Periode in zwei getrennte und von verschiedenen Anführern regierte Einheiten zerfiel. Trotz dieser Teilung blieben aber beide Hälften auf das engste miteinander verbunden, denn die Männer durften ihre Frauen immer nur aus der anderen Hälfte wählen. Einen ähnlichen Zustand sind wir bereits im 8. Kapitel (Das Opfer des Akrisios, S. 167) begegnet. „Exogames Zweiklassensystem“ nennen die Völkerkundler diese von vielen Naturvölkern bekannte Einrichtung. Zur Zeit der klassischen römischen Republik kannte man zwar noch einige Namen solcher Doppelherrschaft aus der Vorzeit, konnte sich aber nicht mehr vorstellen, dass sie friedlich nebeneinander regierten, ohne sich gegenseitig totzuschlagen oder zu verdrängen.


    Sim-Off:

    Quelle: Reinhard Schmoeckel: Die Indoeuropäer - Aufbruch aus der Vorgeschichte, 4. Auflage, Juni 2004, Bastei Lübbe, Bergisch Gladbach, Kapitel 18, S. 433 - 443.

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