Giftig sah sie Lanas Silhouette hinterher und griff nach dem Brief. Sie ahnte nicht im Geringsten, was hier für ein MIssverständnis vorlag. Für sie war Lana in diesem Moment einfach nur wahnsinnig hysterisch. Sie hatte Kopfschmerzen. Sie griff mit der anderen Hand an ihren Kopf und sah sich kurz im Raum um. Hinter der Ecke, an der sie saß, müsste noch eine Öllampe brennen - sie hatte erst vor kurzem nachgießen lassen. Mühsam stand sie auf. Ihre Glieder waren durch die nächtliche Kühle und das lange Sitzen etwas steif geworden und eben so unbeholfen sahen ihre kleinen Schritten in Richtung jener Öllampe auch aus. Sie entfaltete das Pergament und überflog die geschriebenen Zeilen.
Rediviva Minervina, Villa Tiberia, Roma
Decemvir litibus iudicandis Manius Flavius Gracchus Redivivae Minervinae s.d.
Tiefes Mitgefühl über den Verlust deiner Verwandten Tiberia Claudia sei dir mit diesem Schreiben versichert. Die Erinnerungen an jene Zeit, welche wir mit ihnen teilen durften, sind sicherlich das Wertvollste, was die Verstorbenen uns zurücklassen. Doch obwohl es dir im Augenblicke womöglich unerheblich erscheinen mag, so hat deine Verwandte dennoch gleichsam weltliche Güter hinterlassen, deren Verteilung unter den Erben meine Aufgabe als Decemvir litibus iudicandis ist. Tiberia Claudia hat für die Verteilung ihres Erbes durch ein Testament Sorge getragen, hinterlegt im Tempel der Vesta und in Kopie diesem Schreiben beigefügt, in welchem sie dich durch einen Anteil von einem Drittel ihres Barvermögens bedachte.
Nach den Gesetzen der lex Iulia bist du als unverheiratete Bürgerin jedoch nicht dazu berechtigt, dieses Erbe anzutreten, da dich keine ausreichend nahe verwandtschaftliche Beziehung mit Tiberia Claudia verband. Es bleibt dir daher eine Frist von 100 Tagen, bis ANTE DIEM XI KAL SEP DCCCLVII A.U.C. (22.8.2007/104 n.Chr.), eine Ehe nach den Gesetzen des Imperium Romanum einzugehen und dahin folgend im Sinne des Gesetzes die Hälfte des dir zugedachten Erbes zugesprochen zu bekommen. Der dir in diesem Falle zustehende Betrag beläuft sich auf 101,21 Sesterzen. Natürlich steht es dir ebenso frei, das Erbe abzulehnen.
Aufgrund des baldig anstehenden Wechsels der Amtszeit des Cursus Honorum muss die Meldung über eine geschlossene Ehe in der Basilica Ulpia eingehen.
Zum Trost über den Verlust eines geliebten Menschen bleiben letztlich einzig die Worte der Weisen unserer Welt, so sprach denn schon Seneca: »Der Tod ist die Befreiung und das Ende von allem Übel, über ihn gehen unsere Leiden nicht hinaus, der uns in jene Ruhe zurückversetzt, in der wir lagen, ehe wir geboren wurden.«
M.F.G.
Nachdem sie ihre Hand sinken ließ, glomm die Wut förmlich in ihren Augen. Nun musste sie sich auch noch um das Erbe von Claudia kümmern, zu der sie wohl von der gesamten Familie mit die engste Bindung gehabt hatte. Und warum? Weil diese angeblich nicht bestand. Eigentlich ging es ihr auch nicht im Geringsten darum, dass sie das Geld haben wollte. Nein, eher im Gegenteil. Es ging nur darum, dass es eine Hinterlassenschaft ihrer Tante war. "Verfluchter Dreck!" schimpfte sie ganz undamenhaft und schmiss das Pergament gen Boden. Ihr Blick streifte kurz Lana, doch nun befand sie doch, dass sie ihr hier keine Bestrafung geben sollte. Sie war schließlich nur die Überbringern. Sie wandte sich ab und ging zu einem der Fenster, um davor stehen zu bleiben und in die Nacht hinauszusehen. Am liebsten würde sie direkt aufbrechen. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und lockerte den Griff wieder. So ging es eine ganze Weile, während ihr Leib nur leicht im Feuerschein zu sehen war. Wut und Trauer wechselten sich gleichermaßen ab.