• Geduldig wartete Avianus noch immer ab, und wurde zwischenzeitlich etwas nachdenklich. Ob im Anschluss noch ein Besuch bei Sibel drin war? Vielleicht, man würde sehen. Als er an die Lupa denken musste, die für ihn gar nicht so sehr eine Lupa war, begann sein Blick langsam ins träumerische abzudriften, bis er plötzlich bemerkte, dass jemand den Raum betrat. Hastig blickte er auf, registrierte, dass es sich glücklicherweise lediglich um einen Sklavenjungen handelte und glaubte dann erst, es hätte etwas mit dem Essen zu tun, das hoffentlich bald aufgetischt wurde, stattdessen berichtete ihm der Sklave etwas vollkommen anderes:
    "Dominus, ein Mann, der sich Iunius Durus nennt, ist eingetroffen. Er meint, er suche hier nach Hilfe."
    Die meisten seiner Besuche bestanden darin, es sich im Hortus oder Triclinium bequem zu machen, die Vorratskammer um etwas Wein und Essen zu erleichtern und sich im Anschluss wieder auf den Weg zu machen, sodass er den Sklaven zunächst leicht verwundert anblickte. Avianus war so selten da, dass er es überhaupt nicht gewohnt war, sich um irgendwelche Gäste zu kümmern.
    "Äh… na gut, bring ihn her", antwortete er schließlich und setzte sich auf. Er war genauso Teil der Gens wie Axilla, Silanus, Seneca und jedes andere Mitglied der Iunii, und hatte sich genauso wie seine Verwandten um die Angelegenheiten dieser zu kümmern, selbst wenn er manchmal kurz davor war, diese Tatsache zu vergessen.
    Und eigentlich hatte der Gast auch sein Gutes: In Kürze bekam er etwas Gesellschaft, und das würde ihn davor bewahren hier noch vor Langeweile einzuschlafen.

  • Iunius Durus stand eine Weile schweigend vor dem Mann, zu dem er geführt wurde. Durus war nun doch etwas skeptisch, ob er auch in diese gens gehörte oder er nur ihren Namen teilte. Allerdings wollte er den Mann, der ihn hineingebeten hatte, nicht zu lange warten lassen, weshalb er sich zu ein paar Worten durchrang: "Salve. Ich bin Caius Iunius Durus. Ich komme von Weither, um die Hilfe meiner gens zu erflehen. Die Götter habe ich bereits angefleht." Er wiederholte dabei nur das, was er dem Sklaven ebenfalls erzählt hatte, aber da ihn der Ianitor dadurch hineingelassen hatte, hatten wohl seine Bemühungen Früchte getragen. "Ich will meine persönliche Ehre retten, denn meine Eltern - mögen die Götter ihrer Seele gnädig sein - können es nicht mehr. Somit bin ich, meiner Würde beraubt und vielen Gefahren mithilfe des Iupiter Optimus Maximus trotzend, durch die Lande nach Rom gezogen, um meinen Stand wiederherzustellen!" Durus musste sich zusammenreißen, dass er nicht vor dem Mann auf die Knie fiel, um ihn anzubetteln, ihm zu helfen. "So bitte, helft mir, denn ein Schwert schneidet nur, wenn es jung und noch voller Elan ist!"

  • Ein Sklave hatte den Besucher zu ihm geführt, den er nun, während er sprach, eindringlich musterte. Durus' Kleidung sah man den weiten Weg an, den sie hinter sich hatte, und der Mann darin, vermutlich in seinem Alter oder etwas jünger, machte einen verzweifelten Eindruck, der durch den Schwall an flehenden Worten noch einmal unterstrichen wurde.
    Seiner Würde beraubt? War es würdelos, sich ins Herz der Welt zu begeben, um die eigene Gens um Unterstützung zu bitten? Oder war ihm etwas anderes widerfahren? Avianus konnte nicht ganz folgen, weshalb er den neu eingetroffenen Iunius leicht fragend anblickte. Und ganz so schlecht konnte es ihm ja nicht ergangen sein, wenn er – nach eigenen Worten – zumindest die Götter auf seiner Seite wähnte… wenigstens einer von ihnen.
    "Salve, Iunius Durus. Es freut mich, dich kennenzulernen… setz dich", antwortete er zunächst knapp, mit einer flüchtigen Geste zu einer der freien Klinen deutend.
    "Eines nach dem anderen... darf ich nach deinen Eltern fragen? Woher kommst du genau?", bohrte er schließlich neugierig nach. Zweifellos wollte er ein wenig mehr über den Besucher erfahren. Weit her etwa konnte ja von Rom aus gesehen praktisch überall sein: Hispania, Germania oder gar auf der anderen Seite des Mare Nostrum.
    "Und ich wäre kein Iunius, würde ich einem ehrlichen, darum bittenden Verwandten jegliche Unterstützung verwehren. Die Frage ist allerdings, was dir vorschwebt." Denn sein Einfluss hielt sich in Grenzen. Silanus – oder jeder andere Iunius – wäre da wohl eine größere Hilfe.

  • "Lucius Iunius Varus und Tillia Ursicina waren meine Eltern und ich komme aus Alexandria", antwortete Durus, während er die Gelegenheit nutzte und sich zu Avianus setzte. Allerdings beugte er sich ein wenig zurück, denn er erkannte gleich, dass Avianus von seinem Geruch nicht gerade angetan war. "Da ich ein Iunier bin, will ich ein Soldat werden." Dies sagte er mit einem stolzen, vorfreudigen Grinsen. "Kannst du mir etwas vorschlagen? Iupiter wird dich bestimmt belohnen, und belohnt er dich nicht, dann tue ich es, wenn ich die Gelegenheit dazu bekomme..." Dabei wachelte er etwas zu wild mit den Armen und merkte, dass er dadurch eine übelriechende Duftwolke in Avianus' Richtung schickte. Mit entschuldigend blickender Miene musterte er Avianus.

  • Alexandria. Gut, das war weit her, Durus hatte nicht gelogen. Und außerdem machte es ihn noch ein wenig mehr neugierig. Avianus selbst hatte Italia bis auf seinen kurzen Abstecher nach Germania nie verlassen. Doch anstatt weiter wegen Durus' Herkunft nachzuhaken, entschloss er sich, dessen Frage zu beantworten. Die Gründe dafür lagen mehr oder weniger auf der Hand. Beim Essen wollte er das Essen riechen, nicht Durus, wenn er auch so einiges gewohnt war.
    "Da gibt es einige Möglichkeiten. Die einfachsten wären wohl, sich bei den Cohortes Urbanae oder bei der Legio I in Mantua zu melden. Bei ersteren diene ich selbst, und ein weiterer Verwandter von uns bei der letzteren als Tribunus." Wobei er von Seneca schon länger nichts mehr gehört hatte. Wie es dem wohl so ging? Vermutlich blendend, wenn er seine Arbeit nicht schlechter machte als zu seiner Zeit als Centurio. Er schrieb ohnehin ständig Briefe, vielleicht sollte er einmal einen nach Mantua schicken. Aber er schweifte wieder einmal ab… ein kurzes Räuspern folgte, dann setzte er fort:
    "Wofür du dich auch entscheidest, für die nächsten Tage lässt sich hier bestimmt ein Zimmer für dich vorbereiten. Und ein Bad."

  • "Ich danke dir für dein Angebot", erwiderte Durus. Ein Bad kam ihm gerade recht, denn sein Geruch war unter jeder Würde. Dann kam er auf die Militärfrage zurück: Da mir Mantua zu weit weg ist und ich in Rom bleiben will, werde ich zu den Cohortes Urbanae gehen... Ich bedanke mich nochmals. Mögen dir die Götter weiterhin beistehen." Danach führte ihn ein Sklave ins Balneum.

  • Durus hatte sich erstaunlich schnell entschieden, dafür dass es um seine Zukunft ging und um eine der vermutlich wichtigsten Entscheidungen seines Lebens. Wer sich einmal beim Militär meldete, kam dort so schnell für gewöhnlich nicht mehr raus. Es sei denn man war die Art Pechvogel, die sich gleich zu Beginn von irgendeinem Kleinkriminellen abstechen ließ. 16 Jahre verlangten die Cohortes Urbanae... zwar besser als die 20 der Legionen, und dennoch, an dem Tag, an dem er wieder aus der Castra raus kam, würde er selbst vermutlich schon einiges an grauen Haaren haben - wenn er denn wieder rauskam, oder er es dann überhaupt noch wollte.
    Avianus kam also nicht umhin, innerlich ein wenig überrascht zu sein, und hoffte für seinen Verwandten, dass der Grund für Durus' raschen Entschluss weniger Unüberlegtheit als viel mehr pure Entschlossenheit war.
    "Ja ... weiterhin ...", wiederholte er schließlich mit einem leichten Stirnrunzeln, bevor sein Verwandter den Raum verließ. Wobei Durus Wunsch gar nicht mal so fehl am Platz war, wenn er genauer darüber nachdachte. Die letzten Wochen hatte er erstaunlich komplikationsfrei und verhältnismäßig angenehm hinter sich gebracht. "Auch dir, Durus."

  • Von seinem ... ihrem Cubiculum kommend, zog es Avianus ins Triclinium und ließ sich dort nieder. Einem Sklaven gab er den Auftrag ein kleines Ientaculum zu bringen. Je länger er wach war, desto mehr hielt die Realität Einzug, nicht die Realität, dass er eine Ehefrau hatte - so weit war er schon -, sondern die, dass damit noch einiges mehr zusammenhing. Noch immer hatte er ihr nichts von diesem merkwürdigen Brief erzählt. Er war versucht es weiter hinauszuzögern, denn mit jedem Tag, an dem er über das Thema schwieg, wuchs der Wunsch, es doch einfach vollends zu meiden, und gleichzeitig sein schlechtes Gewissen. Vielleicht war ja auch alles ein Irrtum, ein simples Missverständnis. Wie groß war schon die Chance, dass dieser Mann, der den Brief geschickt hatte, tatsächlich mit Sibel verwandt war? Das war allerdings längst keine Entschuldigung, ihr das Schreiben gänzlich zu verschweigen. Und das schlimmste war ja, dass er gleichzeitig noch immer glücklich war, nein, nicht nur er, Sibel war es auch, und das wollte er auf keinen Fall zerstören. Eigentlich.
    Glücklicherweise brachte der Sklave bereits frisches Brot, dazu Wasser und anschließend Moretum und etwas frisches Obst, womit sich seine Gedankengänge vorerst hinunterschlucken ließen, damit er ein wenig länger in den Erinnerungen an den vergangenen Abend schwelgen konnte.

  • Noch immer bewegte sie sich mit einer gewissen Vorsicht durch das Haus, welches nun ihr neues Zuhause geworden war. Es gab noch Vieles, an das sie sich erst noch gewöhnen musste. So zum Beispiel auch den Umgang mit den Sklaven des Hauses. Wer wenn nicht sie wusste am besten, wie es war, wenn man unfrei war. Auch wenn es ihr bewusst war, dass die Sklaven in diesem Haus eine gute und anständige Behandlung erfuhren, vermied sie es anfangs nur allzu gerne, deren Dienste in Anspruch zu nehmen. Doch bald schon merkte sie, dass dies nicht immer zu vermeiden war. So war auch an diesem Morgen ihr erster Gang in die Küche, bevor sie sich zu ihrem Ehemann gesellte. Glücklicherweise hatte Sibel inzwischen die Morgenübelkeit überwunden. Wenn sie jedoch am Morgen das Ientaculum vernachlässigte, konnte sich dieses lästige Unwohlsein recht schnell wieder zurückmelden.


    Kaum hatte man sie in der Culina gesichtet, watschelte ihr eine alte Sklavin, die schon seit Jahren in der Küche tätig war entgegen, um ihr zur Hand zu gehen. Letztendlich verließ sie die Culina mit einem Tablett in der Hand, auf dem sich ein Becher mit verdünntem Fruchtsaft, ein Schälchen mit Honig gesüßten Puls, Obst, ein Stück frischgebackenen Brotes sowie etwas Moretum befand. Damit gesellte sie sich zu Avianus, der sich bereits im kleinen Triclinum eingefunden hatte, um ebenfalls etwas zu sich zu nehmen.
    Mit einem freundlichen „guten Morgen“ begrüßte sie ihn, stellte das Tablett ab und nahm neben ihm Platz. „Kaum zu glauben, nach der üppigen Cena habe ich heute Morgen Hunger wie ein Bär… oder besser gesagt, wie eine Bärin,“ scherzte sie grinsend und biss genüsslich in das knusprige Brot, welches sie zuvor mit etwas Moretum bestrichen hatte.

  • "Guten Morgen", sagte auch er und lächelte unwillkürlich wieder. Sibel wirkte so unfassbar glücklich, dass selbst der Gedanke an den seltsamen Brief das nicht zu verhindern vermochte. Und glücklich war natürlich auch er, er befürchtete nur, dass es mit der sorgenlosen, harmonischen Zweisamkeit gleich wieder vorbei sein könnte. Denn dass Sibel es gefasst nehmen würde, wenn sie von dem Brief erfuhr, daran wollte er nicht so recht glauben, selbst wenn er sich schon hunderte Male gesagt hatte, dass er Sibel nicht mehr wie zerbrechliches Glas sehen und behandeln sollte. Genau das war sie aber jahrelang gewesen und nur langsam wurde es besser. Zudem wurde man alte Gewohnheiten nur schwer wieder los. Und das sie erst jetzt von Tychon und seiner Nachricht erfahren würde, kam noch hinzu.
    "Du musst ja auch für zwei essen", scherzte er, biss von seinem Brot ab und nahm sich noch etwas mehr Moretum. Währenddessen kehrte ein nachdenklicher Ausdruck auf seine Züge zurück. Er wusste nicht recht, wie er das bevorstehende Gespräch beginnen sollte. "Wenn ich dich danach fragen darf … möchtest du mir ein wenig von deiner Familie erzählen? Was ich meine ist … erinnerst du dich an deine Eltern? Oder andere Verwandte?", fragte er vorsichtig nach. Vielleicht sagte sie ja einfach, es gab keinen Onkel, alles entpuppte sich als Missverständnis und damit wäre die Sache erledigt. In erster Linie wollte er aber einfach nicht mit der Tür ins Haus fallen.

  • Wie herrlich das frische Brot schmeckte! Erst recht wenn man es in solch gemütlicher Zweisamkeit zu sich nahm. Noch einmal biss sie herzhaft zu grinste ihm zufrieden entgegen. Ja, sie musste für zwei essen. Bei dem Gedanken, dass sie bald schon zu dritt waren legte sich ein warmes Lächeln auf ihre Lippen und ihre Gedanken schweiften ab, hinüber zu dem, was sie als kleine Familie alles erwarten würde. Dabei bemerkte sie zunächst nicht, wie sich das Lächeln aus Avianus Gesicht allmählich verflüchtigte und jenem nachdenklichen Ausdruck, den sie nur zu gut kannte, Platz machte.
    Erst als er sie erneut ansprach, kehrte auch sie ins Hier und Jetzt zurück. Zunächst verstand sie nicht recht. Die Frage nach ihrer Familie war wohl das Letzte, womit sie gerechnet hätte.
    Das sorglose Lächeln verschwand mit einem Mal. „Meine Familie?“ fragte sie zögernd. „Wieso? Ich meine wieso fragst du mich danach? Du weißt doch… meine Eltern sind tot“ Sie hatte es ihm doch erzählt, was damals vor so langer Zeit geschehen war und wie ihr Unheil seinen Anfang genommen hatte. Doch offenbar gab es einen triftigen Grund, weshalb er sie gerade jetzt so genau danach fragte. „Natürlich erinnere ich mich an meine Eltern. Mein Vater war der gütigste Mensch, den du dir vorstellen kannst. Er hätte alles für mich getan. Er und meine Mutter…“ Sie zögerte. Ihre Augen begannen, bei der Erinnerung an sie langsam feucht zu werden. „Ich habe noch Verwandte in Rhodus… glaube ich. Von dort stammte meine Mutter. Und nach ihrem Tod wollte mein Vater mich dort hinbringen. Allerdings kenne ich davon niemanden. Außerdem gab es noch einen Onkel in Myra. Der Bruder meines Vaters... aber warum fragst du das alles?“Schon lange hatte sie nicht mehr an ihren Onkel und ihre Vettern gedacht. Im Laufe der Zeit waren sie unerreichbar für sie geworden, wenn sie denn überhaupt noch lebten.

  • Die Mutter tot, die Reise nach Rhodos, das Schiffsunglück, selbstverständlich kannte er die Geschichte. "Ja, natürlich habe ich das nicht vergessen", stellte Avianus gedankenverloren klar und blickte auf das Stück Brot in seiner Hand. Nein, er hatte vorerst keinen Hunger mehr. Sibels Augen glänzten bereits, und das ausgerechnet heute, was allerdings nicht verwunderlich war. Darin sie zum Weinen zu bringen, war er leider schon immer ein Experte gewesen.
    Was aber in diesem Augenblick für ihn viel wichtiger war, als ihre Eltern, waren ihre restlichen Verwandten. Die Informationslage war recht dürftig, aber eine Aussage seiner Frau ließ ihn die Brauen noch etwas nachdenklicher zusammenschieben. So unglaubhaft und bizarr die Geschichte noch gewirkt haben mochte, als er die Nachricht immer und immer wieder durchgelesen hatte, - dass irgendein Mann aus Myra seine jahrelang verschollene Nichte in Rom ausfindig gemacht haben könnte - es tauchten keine Widersprüche auf. Alles passte zusammen. "Der Bruder deines Vaters also …", murmelte er mehr zu sich selbst, rieb sich kurz die Schläfe und sah wieder zu Sibel auf. Warum musste bei ihnen immer alles so verflucht kompliziert sein? Wenn dieser Tychon recht hatte ... er musterte den Ausdruck in ihrem Gesicht, um irgendwie einschätzen zu können, wie sie reagieren würde und tat es nach wie vor, als er weitersprach:
    "Warum ich frage? Ich sollte dir wohl erzählen ... ich habe einen Brief erhalten. Von einem Tychon, der seine Nichte Cibele sucht", überwand er sich zu erzählen, "Sibel … kann es sein, dass dein Vater Philipos hieß, und dein Onkel Tychon?"

  • Sibel ließ das letzte Stückchen Brot sinken. Ihr war nun wirklich nicht mehr nach frühstücken zumute. Nicht etwa das Avianus sie mit seinen Fragen gekränkt hätte. Eigentlich sprach sie nicht gerne über dieses schmerzhafte Kapitel in ihrem Leben. Immer wenn sie an früher dachte und ihr wieder bewusst wurde, was sie alles verloren hatte und was man ihr alles genommen hatte, kam diese unendliche Trauer über sie. Diese Wunden würden wohl nie wirklich ganz verheilen.


    Dennoch war ihre Trauer inzwischen einer regen Neugier gewichen. Avianus‘ Gesichtsausdruck und seine seltsamen Bemerkungen waren mehr als kurios. Doch endlich hörte er damit auf, sie weiter auf die Folter zu spannen. Er erzählte ihr von dem seltsamen Brief, den er erhalten hatte, von einem gewissen Tychon und dessen Nichte Cibele. All diese Namen schwirrten plötzlich in ihrem Kopf herum. Zwar klangen sie vertraut und doch irgendwie fremd. Schon vor langer Zeit waren die Gesichter ihrer Eltern und ihrer Verwandten allmählich verblasst. Ebenso der Klang ihrer Stimmen. Nur einige wenige Erlebnisse waren haften geblieben und hatten die Zeit überdauert.„Was…? Einen Brief?“, fragte sie verstört. Das war ja äußerst seltsam! „Ich … ich weiß es nicht…“ stammelte sie und zermarterte dich krampfhaft den Kopf, wie ihre Mutter ihren Vater immer genannt hatte. War es Philipos? Oder vielleicht doch ein anderer Name? Und was war mit dem Namen Cibele? Das klang wie Kybele oder aber auch wie Sibel… Plötzlich fiel ihr wieder ein, wie wichtig die Göttin Kybele für ihre Mutter gewesen war. Das hatte ihr Vater ihr immer wieder erzählt. Regelmäßig hatte sie ihr geopfert und sie um ein Kind gebeten und als sie – Sibel geboren war, opferte sie aus lauter Dankbarkeit bis zu ihrem Tod.
    „Mein Onkel hieß… ich weiß es nicht mehr, wie er hieß.… Ne … Nerie…, nein Nereos… so hieß mein jüngster Neffe. Daran kann ich mich noch erinnern. Er war in meinem Alter und wir spielten oft als Kinder zusammen…Aber mehr weiß ich nicht…“ Betrübt sah sie an sich herab. Wie hatte sie nur alles vergessen können? Sibel war damals gerade mal acht Jahre alt gewesen, als das Unglück über sie gekommen war und aus dem wohlbehüteten Mädchen erst eine Schiffbrüchige und wenig später eine Sklavin wurde.

  • "Es tut mir leid, dass ich dir all diese Fragen stelle", sagte er mit einem leichten Kopfschütteln. So recht würde er es wohl nie fassen können und bis Sibel sagte, dass dieser Tychon ihr Onkel war, würde er sich vermutlich immer wieder einreden, dass das alles Unsinn war. Er setzte sich auf, strich ihr über die Wange und machte eine kleine Pause. Nachdenklich biss er sich auf die Lippe. Sibel musste sagen, was sie davon hielt, dazu musste sie wissen, was noch in dem Brief stand, und dann musste ein Plan her, wie sie mit dieser Situation umgehen würden.
    "Was er mir von seinem Bruder und Cibele schrieb … das ist genau dieselbe Geschichte, die du mir immer erzählt hast … von einer Verwandte auf Rhodus, die das Mädchen nach dem Tod der Mutter aufnehmen sollte, und dem Schiff, das sank. Vor sechzehn Jahren", fuhr er betont ruhig fort. Auch das passte zu Sibels Alter. "Sag' mir was ich davon halten soll, Sibel … und was ich diesem Mann sagen soll, falls er irgendwann wirklich vor meiner Tür steht." Sie sollte selbst entscheiden, ob sie ein solches Treffen wollte oder nicht. Es ging um ihre Vergangenheit, um ihre Familie. Avianus würde lediglich darauf bestehen, dabei zu sein, falls sie diesen Tychon kennenlernen wollte.
    "Er will nach Rom kommen, er will dich treffen und wenn er zu dem Schluss kommt, dass du seine Nichte sein musst, wird er dich möglicherweise mitnehmen wollen." Das war das eigentliche Problem. Der Mann konnte nach Rom reisen, wann und sooft er wollte, er konnte Sibel – in seiner Gegenwart – treffen, sofern er keine Zweifel daran aufkommen ließ, dass seine Absichten gut waren, und wenn es sein musste, konnte er in ihr auch seine Nichte sehen, solange seine Frau sich wohl dabei fühlte, aber wenn jemand seine Frau und das Ungeborene aus Rom fortbringen wollte, fand seine Gutmütigkeit verständlicherweise ganz schnell ihr Ende.

  • Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr begann sich in ihrem Inneren etwas zu rühren. Es war eine Art Wut, die in ihr aufzukeimen begann, je mehr sie versuchte, sich an „damals“ zu erinnern. Schließlich sah sie es wieder direkt vor sich. Die ersten Tage, nachdem man sie mehr tot als lebendig irgendwo am Strand aufgelesen hatte. Ja, man hatte sich um sie gekümmert, hatte sie nicht einfach sterben lassen. Sie war damals froh gewesen, überlebt zu haben. Doch diese Freund wich sehr schnell wieder, als man sie dann ein paar Tage später nicht ihrer Familie zurück gegeben hatte, sondern sie an einen Sklavenhändler verschachert hatte. Die folgenden Wochen und Monate hatte sie noch gehofft, ihre Familie würde nach ihr suchen lassen du sie früher oder später finden. Es wäre nur eine Frage der Zeit, bis sie wieder zu Hause sei, glaubte sie fest. Damit hatte sie sich immer getröstet, wenn sie nachts vor lauter Trauer nicht einschlafen konnte. So verging die Zeit. Selbst als man die dann nach Italia verschleppt hatte und auf einem Sklavenmarkt feilbot, rettete die Hoffnung auf eine baldige Rettung sie vor der Verzweiflung. Als schließlich aus Wochen und Monaten Jahre wurden und auch sie älter wurde, begann sie langsam zu begreifen, dass niemand mehr kommen würde. Denn die Aufgabe, sie zu finden, glich wohl derer, eine Nadel im Heuhaufen zu finden. Genau so musste es sich anfühlen, wenn man lebendig begraben wurde. Die Zeit ließ sie abstumpfen und sie unterließ es, sich an früher zu erinnern. Nur so konnte sie ihr Los ein wenig besser ertragen.


    Doch nun, sechzehn Jahre später, ein Tag nach ihrer Hochzeit, die sie in eine neue Zeit katapultieren sollte, holte sie das nun alles wieder ein. Alles was Avianus nun erzählte, klang so unglaublich und doch irgendwie auch plausibel. Auf erschreckende Weise passte alles zusammen, wie die einzelnen Mosaiksteinchen die im Ganzen ein Bild darstellten.
    „Warum ist er nicht schon früher gekommen?“ antwortete sie ihm nur vorwurfsvoll auf seine Frage. Natürlich „Viel früher! Warum erst jetzt?!“ Ihre Stimme war in Verzweiflung umgeschlagen, denn sie sah sich plötzlich einer unlösbaren Aufgabe gegenüber gestellt. Jedoch begriff sie, dass Avianus´Frage berechtigt war. Und als er fortfuhr, begann sie plötzlich zu verkrampfen. Alles, was in den letzten Tagen geschehen war, ja ihr ganzer Kampf, zusammen zu kommen und zusammenbleiben zu können, wurde plötzlich in Frage gestellt. Aber das, was sie erreicht hatten, wollte sie nun nicht einfach so wegwerfen. „Nichts und niemand wird mich von dir fortbringen können, Aulus! Nicht einmal dieser Mann, der behauptet, mein Onkel zu sein,“ sagte sie schließlich mit fester verbitterter Stimme. „Soll er nur kommen! Aber er hat kein Recht, mich mitzunehmen! Dafür ist er eindeutig einige Jahre zu spät.“

  • Avianus blickte sie ein wenig irritiert an, als sie ihm auf seine Frage zunächst nur mit einer weiteren, vorwurfsvollen Frage antwortete, als wäre er in irgendeiner Weise verantwortlich. Was wusste er schon? Er hatte lediglich den Brief. Nicht mehr, nicht weniger. Gleichzeitig verstand er irgendwie, dass ihr Zorn gar nicht ihm galt, sondern ihrer Familie – eine Familie die jahrelang, als Sibels auf sich warten ließ und anscheinend ausgerechnet dann wieder auftauchen wollte, als Sibels Leben sich wieder ordnete.
    "Ich weiß es nicht", gab er knapp zurück, "Vermutlich wusste er nicht, wo du bist … er meinte, er habe nach dir gesucht, aber nie gefunden und sein Sohn wäre dir erst kürzlich auf den Märkten begegnet ..." Er brach seine Erklärungen ab, als ihm auffiel, was er gerade tat: Er verteidigte einen Fremden, dessen konkrete Absichten er nicht kannte. Deshalb schlug er Sibel das seiner Meinung nach in dieser Situation einzig sinnvolle vor: "Am besten fragst du ihn selbst, falls er hier auftaucht."
    Wie Sibel ohne den geringsten Augenblick des Zögerns zu ihm und ihrem neuen Leben hielt, erfüllte ihn sogar ein wenig mit Stolz. Dabei begriff er auch, dass er nichts zu befürchten hatte. Er hatte erwartet, sie würde vielleicht erst den Brief lesen oder diesen Tychon treffen wollen, oder dass sie zumindest darüber nachdenken würde, aber das schien sie alles nicht zu brauchen. Sie war sich vollkommen sicher und das entlockte ihm ein leichtes Lächeln. Wie hätte er ahnen können, wie sie reagierte, wenn er nicht einmal wirklich begreifen, sondern sich allerhöchstens vorstellen konnte, wie sich anfühlte, was sie gerade durchmachte. Abgesehen davon, dass er seinen Vater nicht kannte, war er recht behütet aufgewachsen und es gab kaum etwas – oder sogar gar nichts, das ihm wichtiger war als seine Familie.
    Doch Sibel hatte seine Bedenken vorerst gekonnt fortgewischt. Was konnte schon passieren, solange sie auf derselben Seite standen. Sie wollte nicht gehen, und er würde nicht zulassen, dass irgendwer sie ihm wegnahm. Und wer es doch versuchte, würde sich anschließend die Zähne aus dem Rachen pflücken müssen, dachte er sich amüsiert, wurde kurz darauf aber wieder ernster:
    "Ich hatte nie vor, dich einfach aufzugeben, und gegen deinen Willen wird dich erst recht niemand von hier fortbringen", versicherte er ihr.

  • „Ja, natürlich,“ gab sie resigniert zurück, „vermutlich ist das so.“ Avianus so anzugehen, war mit Sicherheit das Letzte, was sie nun weiterbringen konnte. Wohl oder übel musste sie sich diesem Mann, der behauptete ihr Onkel zu sein, stellen. Dass dadurch alte Wunden wieder aufgerissen wurden, musste sie einfach in Kauf nehmen. Doch dann sah sie abrupt auf, denn etwas, was Avianus erwähnt hatte, ließ sie stutzig werden. „Du sagst, sein Sohn wäre mir erst kürzlich auf den Märkten begegnet? Wann soll das gewesen sein? Ich kann mich gar nicht erinnern, dass mich irgendjemand…“ Sibel stockte, dann fiel es ihr wieder ein. Der Tag, an dem sie gemeinsam einkaufen waren, kurz vor Senecas Hochzeit. Der alte Mann, der sie angerempelt hatte und der Gewürzstand! „Der Gewürzstand!“, murmelte sie plötzlich geistesabwesend. „Der Verkäufer, der mich am Gewürzstand bedient hat. Erinnerst du dich noch? Er kannte doch noch meinen Namen und ich kann mich auch entsinnen, dass er mir sagte, ich erinnere ihn an jemand. Dann fragte er mich auch, ob ich aus Rhodus stamme. Worauf ich ihm sagte, meine Mutter käme von dort.“ Mit einem mal wurde ihr heiß und gleichzeitig kalt. Sie sah Avianus eindringlich an, als habe sie soeben das Rätsel auf all ihre Fragen gelöst. Doch was nützte ihr nun diese Erkenntnis? Sie trug nur noch mehr dazu bei, dass sich zu bewahrheiten begann, was sie einst so sehr gehofft hatte und sie nun nur zu gerne verdrängt hätte. Ihre Familie - sie hatte sie all die Jahre über gesucht. Eigentlich hätte sie sich nun darüber freuen müssen, doch das Gegenteil war der Fall. Denn wem war sie mehr verpflichtet? Ihrem Mann oder ihrer Familie, die ihr so fremd war. Sie wollte einfach nicht vor solch eine Wahl gestellt werden, denn für Sibel gab es da nur eine Antwort, die sie ohne zu zögern unterschreiben konnte. Sie ergriff seine Hand und zog sie an sich. „Ja, soll er nur kommen!“, sagte sie nun wesentlich gelassener. „Doch falls er mich vor die Wahl stellt, dann werde ich nicht mit ihm gehen, denn…“ Sie zögerte einen Moment, dann küsste seine Hand „…mein Platz ist hier bei dir und bei unserem Kind.“

  • Als Sibel den Gewürzhändler erwähnte, machte alles noch ein Stück mehr Sinn als zuvor. Der, der ihn für Sibels Ehemann gehalten hatte. Auch wenn Avianus damals nur mit halbem Ohr zugehört hatte, hatte er die seltsame Unterhaltung selbstverständlich nicht vergessen. Während er noch nachdachte nahm sie seine Hand, küsste sie und versicherte ihm erneut, dass sie nicht gehen würde. Selten hatte Sibel in der Vergangenheit den Eindruck gemacht, dass sie sich einer Sache derart sicher war, sodass in ihm keine Zweifel zurückblieben.
    "Ja … natürlich erinnere ich mich", antwortete er verspätet, "Aber dass du bleiben willst, ist ohnehin alles, was ich wissen muss." Er schenkte ihr ein ehrliches Lächeln, strich ihr sanft über die Wange und schloss seine Finger wieder um ihre. So selbstbewusst, wie sie jetzt dasaß kannte er sie kaum … oder doch? Vielleicht war diese junge Frau, die so entschlossen seine Entscheidungen traf, dieselbe, die damals einen kleinen Miles der Cohortes Praetoriae und einen claudischen Patrizier gegeneinander ausgespielt hatte, um ihre eigene Haut zu retten, die, die sich ganz ungeniert mit demselben Miles in den Gärten traf, Scherze machte, Wein und Kekse mitbrachte, und keinen Digitus zurückwich, wenn besagter Miles sich dazu hinreißen ließ, sie zu küssen. Möglicherweise nicht vollkommen, aber doch stets ein kleines Stückchen mehr, und dieser Gedanke brachte ihn dazu, noch ein wenig breiter zu lächeln.
    "Ich gebe zu, ich habe mir Sorgen gemacht … ein wenig ..." Ein wenig? Wohl eher so sehr, dass er ihr den Brief verschwiegen hatte, bis sie durch den Ehevertrag an ihn gebunden war. Nein, so mochte es vielleicht aussehen, dabei hatte er sie nur schützen wollen … redete er sich jetzt jedenfalls ein. Doch all das spielte im Grunde keine Rolle mehr, denn Sibel musste klar sein, dass ihn der Brief nicht erst heute Morgen erreicht hatte.
    "Aber wer weiß, vielleicht verläuft ja alles ganz anders. Dieser Mann weiß nicht einmal, dass du inzwischen meine Frau bist und ein Kind unterwegs ist. Wir sollten uns nicht weiter unnötig die Köpfe darüber zerbrechen", hoffte er, das Thema vorerst zu beenden.

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