Interscena cum Arrecina, Marcus et Rutger | Ein kleiner Rückblick und ein rasanter Zeitflug

  • Es war früh am Morgen (noch im Spätsommer und vor einiger Zeit), die ersten Sonnenstrahlen fielen auf die Tautropfen eines einzelnen Spinnennetzes. Doch die Besitzerin dieser kleinen Unterkunft war schon längst umgezogen, hatte ihr filigranes Werk an einem anderen Dachsims gebaut. Ein lauer Wind ließ das Netz erzittern. Die Fensterläden an jenem Haus wurden aufgestoßen und eine ältere Frau mit einem Tuch auf dem Kopf beugte sich aus dem Fenster, genoß für einen Moment die Sonne auf ihrem Gesicht. Verdutzt sah sie auf die Strasse, die sich dem Haus anschloß. Hufen klapperten über das Pflaster, eine Gruppe von unterschiedlichen Menschen näherte sich vom Süden der Stadt und dem Tor. Auf einem großen, schwarzen Ross war ein Mann, gefesselt und in einem erbärmlichen Zustand, davor eine junge Frau, an der Seite des Pferdes ein gerüsteter Mann, wohl ein Legionär. Dahinter trottete einer, der recht heruntergekommen wirkte, und immer wieder von einem fröhlichen kleinen Hund umsprungen wurde. Das Kläffen vermischte sich mit dem Klappern der Hufen. Die Frau sah der Gruppe hinter her, schüttelte den Kopf und zog sich wieder zu ihren Morgenarbeiten in ihr Haus zurück.


    Einige Stunden später, an einem ganz anderen Ort in Mantua und wieder bei der kleinen Reisegruppe. Ratlos über die gesamte Situation hatte sich Marcus erst mal für eine Zwischenlösung entschieden. Mittels einiger Sesterzen, ein wenig herumfragen, hatte er schließlich nahe des Flußes ein heruntergekommenes Haus ausmachen können, daß er für einige Zeit mieten konnte. Dort verfrachtete er Rutger in einen Keller hinein und auf ein einfaches Strohlager, immer noch gefesselt. Ein schmales Kellerfenster ließ ein wenig Licht in den Raum fallen, der Boden war trocken, die Wände, aus groben Steinen und ungekalkt, waren es jedoch genauso. Die massive Tür, verschlossen, und das sehr schmale Fenster verhinderten jedoch eine Flucht relativ effektiv.


    Vorsorglich jedoch sorgte Marcus dafür, daß Arrecina in einem ganz anderen Haus, in einem höchst respektablen Gasthaus untergebracht wurde. Ein einzelnes Cubiculum mit Blick auf den strömenden Fluß und die dahinter liegende Landschaft der Poebene waren doch ideal für ein wenig Erholung und Beschaulichkeit. Eisig schweigend hatte Marcus mit Arrecina im Zimmer gewartet und Mico ausgeschickt, einige Aufträge zu erledigen. Nach einer weiteren Zeit hatte dieser dann einen Medicus für Arrecina und später auch für Rutger aufgetrieben. Mico sollte derweil bei dem Germanen wachen, während Arrecina von der Gasthauswirtin ummuttert wurde, die die junge Frau gleich in ihr Herz geschlossen hatte. Erst nachdem für all das gesorgt war, konnte sich Marcus aufmachen, um sich im Kastell zurück zu melden. Schließlich war er durch die ganze Angelegenheit einige Tage später erst zurückgekehrt.

  • In der Ferne rauschte leise der Fluß. Tiefe Schwärze erfüllte die Zelle. Nur ein Strahl von bläulichem Mondlicht fiel durch das Kellerfenster, und zeichnete einen scharf umgrenzten Streifen auf den Boden. Der Dunkelheit entrissen glänzte dort Stroh wie lauteres Silber, auch in blutverkrustetem Haar verfing sich der Mondstrahl, und ruhig lag der kühle Schein auf den schmerzerfüllten Zügen des Germanen. Noch immer holte sein geschundener Körper Atem, sog mit nassem Rasseln schwer die Luft ein, peinvoll und immer langsamer.



    Aber sehr weit fort von diesem Ort schritt Rutger durch einen dichten Nebel. Er spürte keine Schmerzen, keine Atemnot - eigentlich spürte er gar nichts, bis auf eine durchdringende Kälte. Bilder und Gestalten waren im Nebel, vage, sie zerflossen wenn er genau hinsah. In der Ferne grollte etwas, dumpf und hungrig, ließ ihn schneller vorwärtsstreben. Ein Licht zog ihn an, ein warmer roter Feuerschein, anfangs gedämpft, dann immer heller. Die Formen um ihn herum wurden deutlicher, während er sich diesem Schein näherte. Er konnte nicht sagen, ob der Nebel sich zurückzog, und so die Umgebung immer mehr enthüllte, oder ob der Nebel selbst sich zu immer festeren Formen kristallisierte...


    Dann sah er es ganz deutlich: das Licht war das Feuer in der großen Halle seiner Eltern. Rutger stand vor dem Tor, und sah hinein, erleichtert, endlich wieder zu Hause zu sein. Die Torflügel standen weit offen, obwohl es Nacht war. Gerade so, als hätte man sein Kommen erwartet. Er spürte dass jemand hinter ihn trat, und hörte die Stimme von Sigmar, seinem ältesten Bruder: "Gehen wir doch hinein."
    Sie traten in die Halle, gingen vorbei an leeren Bänken, an den vertrauten Wandbehängen, am Stamm der großen Esche, die sich durch das Dach hindurch in den Nachthimmel reckte. Brennende Fackeln waren an der Wand der Halle aufgesteckt, eine nach der anderen erlosch, als Rutger und Sigmar an ihnen vorbeigingen. Nur das große Kaminfeuer brannte noch hell. Zweige von Eibe, Mistel und Weißdorn waren zu einem Zeichen geflochten darüber aufgehängt - Rutger wußte, dass dies eine bestimmte Bedeutung hatte, etwas wichtiges wohl, aber er kam gerade nicht darauf.


    An der Tafel vor dem Kamin saß versammelt seine Familie. Sein Vater blickte düster schweigend in das Feuer. Seine Mutter rückte einige dampfende Speisen auf dem Tisch zurecht. Seine Brüder Starkad und Lingwe, sowie dessen Frau und Kinder waren auch dabei, und dann sah Rutger seine Schwester Jorun. Sie trug jetzt das Haar bedeckt, wie es sich für eine verheiratete Frau gehörte. Freudig ging er auf sie zu, er hatte sie sehr vermisst, lächelte und wollte sie in die Arme schließen, doch sie wandte sich von ihm ab, und sagte mit leiser, trauriger Stimme zu den anderen: "Sie sind hier...."

  • "Seid uns willkommen." Die Stimme von Rutgers Mutter war voll Wärme, doch sie sah ihre heimgekehrten Söhne nicht an, als sie auf zwei freie Plätze wies, wo schon gedeckt war. "Verweilt mit uns, und eßt mit uns, bevor ihr wieder gehen müsst."
    "Aber Mutter, warum müssen wir...." setzte Rutger verwirrt an, aber Sigmar schüttelte eindringlich den Kopf, und gebot ihm mit einer Geste zu schweigen. Beunruhigt setzte sich Rutger an den Tisch. Seine Mutter verteilte große Stücke von warmem frischem Brot, legte auch vor ihm ein Stück auf den Tisch. Rutger sah den Dampf aufsteigen, aber er roch nichts davon. Noch immer war er von der Kälte bis ins Mark durchdrungen, auch das Feuer schien da nicht zu helfen, es leuchtete zwar, er spürte aber keine Wärme.
    Die anderen begannen schweigend zu essen. Rutger griff nach verschiedenen Speisen, aber alles schmeckte fade in seinem Mund. Wie Asche. Jorun reichte ihm einen Becher mit Met, Rutger wollte ihn entgegennehmen, doch als er fast ihre Hand berührte schauderte sie, und stellte den Becher schnell vor ihm auf dem Tisch ab.


    "Jorun! Was ist los?! Was habt ihr denn nur alle?" Aufgebracht hieb Rutger mit der Faust auf den Tisch. Das Feuer sank in sich zusammen, und es wurde deutlich dunkler in der Halle.
    "Das ist ... Rutger, glaube ich." flüsterte Jorun, schien den Tränen nahe, und Sigmar machte Rutger wieder Zeichen zu schweigen.
    "Sigmar. Rutger." Die tiefe Stimme ihres Vaters erfüllte den Raum. "Heute Nacht seid ihr hier willkommen. Aber stört nicht den Frieden meiner Halle. Sigmar, du warst mir ein tapferer Gefolgsmann, und wärst ein würdiger Nachfolger geworden. Ich verfluche den Tag, an dem du dich entschieden hast, mit den Hermunduren zu ziehen. - Rutger, du scheinst zornig. Ja, du wurdest uns zu früh entrissen. Aber dies war dein Schicksal. Trage es wie es einem Hallvardungen gebührt!"
    "Wir vermissen euch, alle beide." Rutgers Mutter klang traurig aber gefasst.
    "Ich wünschte..." Jorun kämpfte um ihre Fassung, "...ich wünschte, ihr wärt nicht..." Sie brach ab, und warf einen trotzigen Blick in die Runde. "Wir können nicht sicher sein! Vielleicht irren wir uns, vielleicht ist Rutger noch am Leben!"
    Warum sollte ich denn ... tot sein, fragte sich Rutger bestürzt, sah erschrocken auf, und blickte in Sigmars Gesicht. Sigmar - der in der großen Schlacht gegen die Römer gefallen war - lächelte Rutger traurig an. Und dann fiel es Rutger wieder ein, wie er gekämpft hatte, gegen Flavius Aristides, wie seine Waffe zerbrochen war, wie der Römer ihm das Schwert zwischen die Rippen gestochen hatte...
    "Nein..." flüsterte er ungläubig.


    "Jorun, sei vernünftig," bat Lingwe kühl, und stellte fest: "Du weißt, es macht keinen Unterschied. Entweder er hat gekämpft, und ist ehrenvoll gestorben! Oder, die Alternative ist: er hat sich den Römern unterworfen, sein nacktes Leben gerettet und uns Schande bereitet. Ich will das nicht beschwören, aber..., nun ja, du weißt dass Rutger sich schon früher manchmal scheute in unserem Kampf alle Konsequenzen zu ziehen. In jedem Fall ist er - für uns! - gestorben."
    "Sprich nicht so über ihn!" verteidigte Jorun ihn wütend, aber Rutger hörte das kaum noch.
    "Gestorben." wiederholte er tonlos. "Ich bin gestorben..."
    Hilflos sah er zu Sigmar. Die Halle um ihn herum begann an Substanz zu verlieren. Nebel wogte durch die Ritzen, die Gesichter seiner Familie verblassten, Joruns Stimme verklang. Dann standen er und Sigmar alleine inmitten der grauen Schleier.
    "Was soll ich tun? Kann ich bei dir bleiben?" Ihm war so kalt.
    Sigmar schüttelte langsam den Kopf. "Du bist zäh, kleiner Bruder...." Auch ihn konnte Rutger nur mehr undeutlich sehen. "...noch bist du nicht tot. Hör nicht auf Lingwe."
    Dann war da nur noch Nebel.



    Und mit einem mit einem gequälten Aufkeuchen erwachte Rutger aus - der Bewußtlosigkeit? Einem Traum? Oder war er wirklich Gast gewesen beim dem Fest zu dem man alljährlich die Toten lädt? Wer weiß. Jedenfalls durchfuhren ihn erneut die Schmerzen, kämpfte er weiter um jeden Atemzug, starrte er blicklos in das Mondlicht und krallte sich mit grimmiger Verbissenheit weiter am Leben fest....

  • Tage kamen und vergingen, dehnten sich zu Wochen, dann zu Monaten. Rutger ging es langsam besser. Zu Anfang war ein paarmal ein Medicus zu ihm gekommen, ein gütig wirkender alter Mann, der seine Wunden versorgt und seinen Arm geschient hatte, und ehrlich überrascht schien, als Rutger sich tatsächlich zu erholen begann. Der Medicus hatte wohl damals auch Mico davon überzeugt, daß in seinem halbtoten Zustand keine Fluchtgefahr bestand, und ihm so die ständigen Fesseln erspart.
    Dafür war Rutger ihm dankbar. Aber er machte sich keine Illusionen: Flavius Aristides sorgte sich gewiss nicht aus Nächstenliebe so um seine Gesundheit, und einige aufgeschnappte Fetzen, aus einem Wortwechsel zwischen Mico und dem Medicus, bestätigten seine Vermutung - der Flavier wollte ihn am Kreuz sterben sehen. Was sonst.


    "Noch bin ich nicht tot!" sagte Rutger sich immer wieder trotzig, "Noch nicht!".
    Aber die Vorstellung des elenden Sterbens am Kreuz drängte sich ihm immer wieder unbarmherzig auf. Würde er standhalten? Sein Schicksal unerschüttert tragen?
    Einmal, er war noch jünger gewesen, hatte er einen Gekreuzigten gesehen, der schon seit Tagen tot war, und ganz von Krähen bedeckt, die sein Fleisch frassen. Als er näher gekommen war, waren die Vögel aufgeflogen, und hatten den zerfetzten Kadaver offenbart. Dieses Bild sah er nun wieder und wieder vor sich.
    Rutger hoffte, dass er stark sein würde, dass er mutig und als wahrer Hallvardunge sterben würde - aber er hatte Angst. Angst vor einem endlos in die Länge gezogenen Verrecken. Angst den Schmerzen nicht standhalten zu können. Angst, dass die Krähen sein Herz in einem fremden Land fressen würden, und aus ihm ein rastloser Wiedergänger würde.


    Seine Götter waren nicht mehr mit ihm. Wodan zürnte, er hatte ihn nicht als Opfer angenommen, er hatte seinen Speer bersten lassen. Kein Wunder. Rutger hatte sich von einer Römerin den Kopf verdrehen lassen und seine Rache vergessen. Arrecina... es schien ihm alles wie ein verrückter Traum. Er dachte viel an sie, sorgte sich um sie. Ob ihr Vater sie sehr bestrafen würde? Es war doch nicht ihre Schuld was geschehen war.
    Endlose Stunden lag er grübelnd auf dem Stroh, ging, als er wieder besser atmen konnte, ruhelos in der Zelle umher, drei Schritte hin, vier zurück, drei hin, vier zurück...immer wieder.
    Mico, sein Bewacher, sprach nicht mit ihm. Der Medicus kam schon lange nicht mehr. Die Tage wurden kürzer. Er verlor das Zeitgefühl. Sagte sich leise Lieder vor, und Verse aus den Sagas, um wenigstens seine eigene Stimme zu hören. Irgendwann verschmolz alles zu einem einzigen endlosen ungewissen immergleichen Tag, und er wünschte sich schon beinahe seine Hinrichtung herbei. Damit es endlich vorbei wäre.


    Dann wieder fasste er Fluchtpläne, kratzte sich mühselig einen Stein aus der Mauer, grub im Boden bis er auf Fels traf. Schließlich - es war schon Winter, kalt und dunkel - schüttelte er noch einmal die Apathie ab, und griff mit eben jenem Stein in der Faust Mico an, als der ihm das Essen brachte. Doch der war darauf gefasst, zog ein Messer und erwehrte sich seiner.
    Danach legte er ihm wieder Fesseln an. Und wieder lag er brütend, grübelnd auf dem Stroh. Ob sie zu Hause schon das Julfest feierten? Das Wissen, dem Tode geweiht zu sein, erdrückte ihn. Die Einsamkeit zermürbte ihn. Er hoffte, dass es bald vorbei wäre.

  • Es war im Morgengrauen, die Sonne sandte ihre ersten lichten Strahlen durch das kleine Fenster hinab in die Zelle des Germanen. Schritte näherten sich leise und doch beständig der Tür, die ewig verschlossen schien. Ein Schlüssel wurde herumgedreht und die Tür öffnete sich, schabte leise über den sandigen Boden. Ein großgewachsener Mann mit breiten Schultern erschien ihm Türrahmen, wurde von hinten von einer kleinen Fackel beleuchtet. Nur seine Konturen waren vage zu erkennen. Marcus Flavius Aristides betrat den Raum. Sein im Schatten verborgenes Gesicht war finster, seine Hände hinter dem Rücken verschränkt. Die dunkelrote Paenula fiel in weichen Falten um seine Schultern und über seine Rüstung herum, verschmolz am Rand mit seiner rostroten Tunika. Mit seinen schwarzen calcei patrici ging er tiefer in den Carcer hinein. Sein Blick ruhte auf Rutger, durchdringend und undurchschaubar. Seine ganze Haltung drückte Abneigung und Kälte aus, aber sonst ließ sich Marcus keine Regung anmerken. Doch in seinem Inneren sah das ganz anders aus.


    Warum waren die Götter ständig gegen ihn- Marcus Flavius Aristides? Warum haben sie den Germanen nicht in die Unterwelt geschleudert, seinen Lebensfaden zerrissen und den Sklaven seinen germanischen Göttern geschickt? Immer und immer wieder hatte Marcus gehofft, Mico würde ihm die Kunde von dem Tod Rutgers bringen. Vielleicht würde dann auch der Fluch über seine Tochter enden und ihr Geist wäre wieder frei. Ihn selber töten? Oftmals hatte Marcus darüber gegrübelt, stand schon am Treppenabsatz zum Keller und war versucht gewesen, es zu beenden. Doch immer wieder hielt ihn sein Wort, sein verflucht schnell gegebenes Wort davon ab, den letzten Schritt zu tun. Die Wege der Götter vermochte Marcus noch nie zu durchschauen, dafür waren Männer wie Gracchus zuständig. Marcus Gesichtsausdruck wurde etwas nachdenklicher. Grübelnd betrachtete er den Germanen, der noch zu schlafen schien. Doch vielleicht tat er auch nur so! Trotzdem fragte er sich, warum sich ihre beiden Schicksale immer wieder so verflochten hatten. Warum?


    „Germane!“


    Unbewegt sah Marcus auf ihn runter, hörte hinter sich Mico und seinen kleinen Hund. Mico scharrte unruhig mit den Füßen und sah Rutger angespannt an, wußte er doch allzu gut, wie unberechenbar jener Sklave war und welcher Kampfgeist in diesem steckte. Jeder andere Mann hätte sich schon längst dem Tod ergeben. Auch Marcus gingen ähnliche Gedanken durch den Kopf. Zwar haßte er Rutger auf eine Weise, andererseits bewunderte er jedoch seine Zähigkeit, seinen Mut, seine Ausdauer und Entschlossenheit. Diese Eigenschaften würden so manch einem Römer gut tun, besaßen doch einige Männer diese nicht.


    „Deine Götter scheinen immer noch auf Deiner Seite zu sein, Germane! Wenn dem so ist, vermag auch ich nichts daran zu ändern. Wir brechen auf! Los, steh auf, Rutger!“


    Das war wohl das erste Mal, daß Marcus ihn bei seinem Namen genannt hatte. Er selber bemerkte es nicht.

  • Sie hatte es nicht gemocht, dass man sich so um sie kümmerte als wäre sie ein kleines Kind und hin und wieder hatte sie sehr barsch auf ihre Umgebung reagiert, die Frau angemeckert die sich um sie sorgte und sie letzten Endes aus ihrem Zimmer verwiesen.
    Ihr kamen keine Informationen zu Gute die sie wissen ließen wie es Rutger ging. Ununterbrochen musste sie an ihn denken und wie er da gelegen war mit dem ganzen Blut. Sie würde es sich niemals verzeihen, dass ihm etwas geschehen sein mochte. Er musste einfach leben, denn den Tod hatte er sicher nicht verdient.


    Ihre Wunden heilten über die Tage hin, es waren aber nur die äusserlichen Wunden, denn innerlich tobte ein Sturm der Gefühle und der Gedanken und sie konnte ihn nicht aufhalten. Es waren verwirrende Bilder aus einem Leben zu dem sie keinen Bezug hatte, Bilder der vergangenen Tage und dann wieder Bilder die sie mochte, aber keine Worte für fand.


    Ruhelos war sie immer wieder in dem Zimmer hin und hergelaufen und hatte es nie verlassen. Es war ihr Wunsch gewesen, denn alles andere hatte ihr ungeheure Furcht bereitet, also war sie lieber ihre eigene Gefangene. Die war sie ja sowieso. Nervös, nachdenklich und schreckhaft war sie geworden. Sie konnte immer noch nicht verstehen, dass der Mann ihr Vater sein sollte, war sie doch vor vielen Tagen noch jemand ganz anderes. Es machte sie einfach nur fertig zu wissen, dass sie eigentlich nichts wusste.

  • Nach einer weiteren zergrübelten Nacht war Rutger gegen Morgen in einen unruhigen Schlaf gefallen. Er erwachte von der Stimme seines Feindes, und als er die Augen aufschlug, sah er den Flavier über sich stehen. Eine kalte Hand legte sich um sein Herz, die Kehle war ihm wie zugeschnürt, und er wußte mehr denn je, dass er nicht sterben wollte. Nicht so... Krampfhaft krallten sich seine Hände in das Stroh, er atmete langsam ein und aus, versuchte seiner Todesangst Herr zu werden, sie hinter einer Maske der Gleichmut zu verbergen.
    Wenn etwas ist, gewaltger als das Schicksal, sagte er sich wieder und wieder, so ist's der Mut, der's unerschüttert trägt, und mit versteinerter Miene setzte er sich auf. Ohnmächtige Wut glomm in seinen dunkel umschatteten Augen. Da er auf die Festigkeit seiner Stimme noch nicht gewettet hätte, schwieg er.


    Die Götter sollten mit ihm sein? Was redete der da? Aufbruch? Wollte er ihn woanders hinrichten lassen? Mit zusammengebissenen Zähnen richtete Rutger sich auf. Sein Blick hatte etwas Unbestimmtes bekommen in den letzten Wochen, schien durch die Dinge hindurchzugehen, richtete sich nur kurz auf Flavius Aristides als der ihn seltsamerweise beim Namen nannte. Dann, als Rutger langsam an ihm vorbei auf die Türe zuging, schien er schon wieder weit in die Ferne zu reichen.

  • Nachdenklich musterte Marcus den Germanen vor sich. Er hatte allen Grund den Sklaven zu haßen, er tat es mit einem Teil seiner Selbst durchaus, verachtete den jungen Mann und war sehr wütend auf diesen. Doch ein anderer Teil von ihm war einfach nur müde und geistig erschöpft, gestand sich selber ein, daß er- Marcus Flavius Aristides- einfach damals einen großen Fehler mit Rutger begangen hatte. Er hätte ihn niemals zu Flavius Aquilius schicken dürfen, er hätte ihn frei lassen oder einfach töten sollen. Das Letztere wäre wohl für die Römer das Beste gewesen. Stumm und mit Resignation in den Augen wandte sich Marcus ab und schritt aus dem Raum hinaus, seine genagelten Calcei pochten auf dem Steinboden und sein Handlanger packte Rutger, zerrte ihn grob hinter dem Patrizier hinter her. Erhobenen Hauptes, so viel Würde und patrizischen Benehmens wie sonst selten beweisend, schritt Marcus die Treppen nach oben. Als er in die kühle Dämmerung trat erfasste der Wind seinen Umhang, ließ ihn um ihn herum wogen wie ein Meer, offenbarte darunter seine lorica segmenatata. Die Pferde standen schon vor dem Haus bereit. Mico zerrte Rutger nach draußen und zu einem der Pferde, hievte ihn- immer vorsichtig, er kannte ja Rutgers Heimtücke- auf das Pferd und band ihn dort fest.


    Marcus schwang sich auf das schwarze Roß, daß er noch aus der Villa Flavia hatte, sein Gesicht war im Schatten der Dämmerung verborgen. Seine Fersen stießen in die Flanke und der kleine Troß bewegte sich bis zum Gasthaus. Dort schwang sich Marcus vom Pferd herunter, warf Mico einen mahnenden Blick zu und betrat die Taberna, wo Arrecina nächtigte. Die Wirtin hatte schon die wenigen Habseligkeiten seiner Tochter zusammen gepackt, Marcus hatte ihr in der Zeit in Mantua einiges gekauft, um sich zu bemühen sie- vergeblich- aufzumuntern. Marcus lächelte zu Arrecina und strich ihr sanft über die Wange.


    „Komm, Kleines, wir kehren nach Rom zurück. In der Villa wirst Du es besser haben als hier!“


    Marcus griff nach den Taschen und führte Arrecina hinaus, bepackte das Pferd und half seiner jungen Tochter auf das vierte Pferd. Erst dann stieg auch Marcus wieder auf sein Pferd, griff nach Arrecinas Zügeln und strebte mit den Dreien bei sich auf das Stadttor von Mantua zu. Die Sonne trat weit hinten in der Ebene mit ihren ersten Strahlen hervor, verdrängte die Farben der blauen Stunde. Es ging Richtung Roma, zu den Saturnalien.

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