Der Wein, den ich den Ahnen angedacht hatte, war nur zu einem verschwindend geringen Teil in der Opferschale gelandet. Den größten Teil der stattlichen amphora hatte irgendwie seinen Weg in meinen Magen gefunden, wo er nun hin und her schwappte und meinen Geist benebelte. Auch stand ich ganz und gar nicht in betender Pose vor dem Altar, sondern saß mit einem Bein aufgestellt neben dem Gabentisch aus Stein und Holz im Dunkeln. Nun gut, ganz und gar Dunkel war es nicht, da waren schon die paar Kerzen, die ich entzündet hatte, und auch der verkohlte Weihrauch, der seit über einer Stunde darauf wartete, nicht umsonst verbraucht worden zu sein. Seit dieser Zeit befand ich mich nämlich im Raum und suchte nach Antworten, ohne sie zu finden. Oder waren sie es, die mich nicht fanden? Ursprünglich hatte ich die Ahnen um einen Tipp, einen winzigen Hinweis bitten wollen. Gesagt hatte ich allerdings nichts, abgesehen von "Verdammte Scheiße", als mir eine der Holzfigürchen in den schmalen Ritz hinter dem Altar gefallen war, weil meine Hände so sehr zitterten. Zu allem Unglück war das auch noch Großtante Apollonia gewesen, die eh immer schon eine Furie gewesen war. Das war ihr Pech, denn ich ließ sie einfach hinter dem Altar liegen und achtete nicht weiter auf das kleine Figürchen.
Mit der amphora, die guten Falerner enthielt, hockte ich also auf dem recht kühlen Boden und starrte Löcher in die Luft, als wäre sie Ziegenkäse. Die Vorstellung an sich war schon recht witzig, so ein durchlöcherter Ziegenkäse. Wer hätte auch ahnen können, dass man viel später wirklich Käse mit Löchern erfinden sollte? Vor meinem inneren Auge (und in den Ziegenkäse, der mich umgab) erschien immer wieder die Situation, in der ich mich vorhin noch befunden hatte. Deandra, wie sie mit dem Rücken zu mir vor dem Fenster stand, wie ich auf sie zuging und sie frech überrumpelte, sie einfach küsste, ohne nachzudenken und ohne auch nur im mindesten das Gefühl von Schuld oder Reue zu empfinden. War ich deswegen nun ein schlechter Mensch, weil ich der Frau nahe gekommen war, die einst meine Schwester gewesen war? Vielleicht war ich eines jener Ungetüme, die sich selbst nicht kontrollieren konnten und alle anderen damit unweigerlich verdammten. Dieser Gedanke schmerzte, und ich ertränkte den Stich rasch mit einem tiefen Schluck aus der Amphore.
Ich schloss die Augen, mein Blick war ohnehin verschleiert und in diesem schummrigen Licht konnte sowieso ich kaum etwas erkennen. Wie sehr wünschte ich mir jemanden, den ich mit dieser Last beladen konnte, die schwer wie ein Mühlstein auf meiner Brust lag. Aber da war niemand außer Camryn, und die hatte ich fort geschickt, um allein sein zu können. Vater und Mutter waren nicht im Haus, Merkur allein wusste, wo sie waren. Mein Bruder war ebenfalls absent, und damit gab es niemanden, der sich um mich scherte und um den ich mich scheren musste. Das hatte durchaus auch Vorteile, wenngleich die Nachteile doch erheblich überwogen. Wenn niemand anwesend war, konnte man mit niemandem reden. Das war das Hauptrpoblem, und ganz nebenbei löste das mein Problem in keinster Weise, sondern verursachte nur, dass es sich noch tiefer in mich hineinfraß.
"Wenn...wennsch nur wü...wüsse was in deim' Kopff..f..f...vorgeht", lallte ich in die Stille. Der Klang meiner eigenen Stimme ließ mich erschaudern, und so trank ich mir mit einem neuerlichen Schluck etwas Mut an. Vielleicht war es auch Leichtsinn. In zwei Tagen gab Vesuvianus das Bankett. Bis dahin musste zumindest ich wissen, was ich wollte. Der Ausdruck auf ihrem Antlitz kam mir in den Sinn, als ich mir die Freiheit nahm und sie küsste. War das nicht Erwartung gewesen, Freude, Verlangen? Ich schüttelte den Kopf und stieß ihn mir an einem hölzernen Teil des Altars zu meiner Rechten.
"Blöder Mist, blöder", knurrte ich und rieb mir den Schädel. Auf diese Weise etwas ernüchtert, dachte ich noch einmal über die Szenerie nach. Hatte ich wirklich von ihr verlangt, sich zwischen Bruder und entfesseltem Etwas zu entscheiden? Ich grinste ziemlich blöd und war zum ersten Mal an diesem Abend irgendwie froh, dass ich allein war, weil so niemand das lächerliche Gesicht sah, das ich gerade hatte. Ich war ja nun kein Monster, auch wenn ich gern nahm. Bei Deandra war das allerdings schon immer anders gewesen, auch als sie noch meine Schwester gewesen war. Unsere Beziehung war immer schon besonders gewesen. Denn wer sagte denn, dass besondere Beziehungen stets aus bedingungsloser Liebe resultieren mussten oder sie erforderten? Nein, man konnte auch besonders sein, wenn man...wenn man....eben besonders war. Verwirrt stellte ich das Grinsen ein und blinzelte einer Kerze zu, die eben aufgrund von Wachsmangel abgedankt hatte. Was machte Besonderheit aus? Dass man für den anderen da war, wenn er Hilfe oder einfach nur ein offenes Ohr brauchte? Auf jeden Fall. War es die Freude, wenn man jemand bestimmten sah oder auch nur etwas in schriftlicher Form von ihm oder ihr erhielt? Auch das. Dass man sich verstand, ohne große Worte zum Erklären zu verwenden? Ganz bestimmt.
Ich kratzte mich gedankenverloren am Hinterkopf und tastete dann über das gefurchte Holz des Altars, um eines der Püppchen zu greifen, die dort standen. Es stellte Maxentius dar, und ich fühlte einen schmerzlichen Stich. Abwesend drehte ich das Holzfigürchen zwischen den Fingern und fragte mich, was er wohl sagen würde, wenn er von dem wüsste, was ich mit Deandra angestellt hatte. Der Gedanke erinnerte mich an einen Abend im Sommer, an dem wir beide im hortus gesessen und uns Dinge über die Zukunft ausgemalt hatten. "Marcus", hatte er gesagt, "Du wirst einmal ein Herzensbrecher werden." Wie recht er damit hatte! Denn auch wenn es nicht Deandras Herz war, was ich gebrochen hatte, so war es dennoch das Band, das sie und Sophus immer noch verbunden hatte. Beschämt senkte ich den Kopf. Ja, ich hatte etwas zerstört, obwohl ich davon wusste und bei vollem Bewusstsein war. Und doch keimte die Frage in mir auf, ob es nicht auch an Deandra gewesen war, einzuschreiten und mich zurückzustoßen wenn...ja, wenn sie es denn nicht gewollt hätte? "Bitte geh nicht", hatte sie gesagt, und ich war ihrer Bitte nur zu gern nachgekommen. Herrje, das war a eine verzwickte Angelegenheit!
Im Grunde hatte ich mich nun zu entscheiden, wie ich mich ihr gegenüber verhalten wollte. Wollte ich so tun, als sei das alles nicht passiert und ihr und mir die Möglichkeit geben, das Tuch der Verhüllung darüber auszubreiten? Nebenbei bemerkt würde das ein recht großes, robustes Tuch sein müssen, dessen Enden fest verknotet sein mussten. Oder war es besser, mir ernsthaft Gedanken darüber zu machen, wie eine Zukunft mit Deandra aussehen würde? Ich lachte trocken auf.
"Du sch...spinnst!" redete ich mir selbst ein, leider erfolglos. Verrückt war ich nämlich nicht. Zumindest glaubte ich das. Ein Schluck Wein brachte Gewissheit und die Erkenntnis, dass ich etwas unternehmen musste. So ging es ja nicht weiter. Ich begehrte sie und....Moment, hatte ich das eben tatsächlich gedacht? Schockiert starrte ich eine Kerze an, die empört flackerte. Ich senkte den Blick auf die Maxentiusfigur, die meinen Bruder verkörperte, lächelte wehmütig und tippte ihr dann stichelnd auf den Holzkopf. "S-sach schon was da...suuuh", forderte ich, doch die Figur blieb stumm. "Wah ja klar. Immer wennsss um die..die Wursss geht, bissu lieber sch...still." Ich seufzte vernehmlich und stellte das Figurchen wieder zurück zu den anderen, die ich nur ertasten, aber nicht sehen konnte. Allmählich wurde ich müde. Zu allem Übel ging mir auch langsam der Wein aus. Mürrisch versuchte ich im Dunkel zu erkennen, wie viele Schlucke noch in dem Tongefäß vorhanden sein mussten. Traurig, bald würde ich gezwungen sein, aufzustehen und Nachschub zu holen. Oder ich blieb einfach hier sitzen.
Traurig war auch Deandra oft gewesen. Ich mochte es nicht, wenn sie weinte. Und noch weniger mochte ich, wenn ich der Grund dafür war, dass sie weinte. Das war schon damals so gewesen, als sie noch hier in der villa gewohnt hatte. Irgendwie fühlte ich mich stets als schlechter Mensch, wenn sie weinte. Nur dieser Tage zeigte ich ein erstaunliches Geschick dafür, ihr Tränen zu entlocken, die sie einzig und allein wegen mir vergoss. Ich war zwar selbstbewusst und nach außen hin zeigte ich das auch, ebenso wie meinen Ehrgeiz, aber dass Deandra wegen mir weinen musste, ließ mich klein und unnütz fühlen. Wie ein Niemand. Ich hatte schließlich nicht das Recht dazu, sie zum Weinen zu bringen. Trübselig und langgezogen seufzte ich, immer noch hatte ich keine Eingebung bekommen, die auch nur annähernd zu einer Entscheidung geführt hätte. Mir kam die Reaktion meines Körpers auf die innige Umarmung in den Sinn, und damit wieder das Verlangen, das ich in ihrer Nähe spürte.
"M-ma-marcus alter Junge, dasss kann schlimm end’n", seufzte ich kopfschüttelnd und malte mir bereits aus, was für eine Tortur das Bankett werden würde. Vermutlich sprach sie nicht ein einziges Wort mit mir uns würde mir aus dem Weg gehen. Ich hoffe es nicht, aber ich sollte Recht behalten. Mit einem gewaltigen Schluck leerte ich die amphora und stellte sie weg. Hohl kollerte sie über den Steinboden, weil ich sie nicht richtig aufgestellt hatte. Schmatzend streckte ich mich, dankbar dafür, dass die Dunkelheit sich allmählich nicht nur des Raumes, sondern auch meines Verstandes bemächtigte, der klaren Denkens einfach nicht mehr fähig war.