Irgendwo in den Sabatiner Bergen | Speculum Fatalis oder in den Fußstapfen meines Bruders

  • Anmutig und mit filigranen Flügeln schwebte ein fahlgelber Zitronenschmetterling über die ersten blühenden Knospen der leuchtend weißen Anemonen. Ein milder Wind strich liebkosend durch die Zweige einer Platane, deren borkige Rinde in allen braunen Farben erstrahlte, von hell bis dunkel. Ihre Wurzeln ragten tief in das Erdreich neben dem kleinen Weingut außerhalb von Rom und in den Sabatiner Bergen gelegen. Idyllische und atemberaubende Talschluchten umgaben die noch kargen Weinberge, deren Weintriebe erst in naher Zukunft ausschlagen würden. Zartrosa fiel die Abendsonne auf das ländliche Gut, tauchte alle harten Konturen in einen weichen Schleier und ließ die sonst strahlend weiße gekalkten Fassade in blassen Pastelltönen erstrahlen.
    Doch fiel tiefer, weit unter dem Erdreich, weit unter Sols Scheibe, lag ein hoher Kellerraum, mit einem geziegelten Gewölbedach. Nur durch ein einzelnes vergittertes Kellerfenster fielen die grellen Strahlen der Sonne.



    Auf dem rauen Boden wurde Gracchus unsanft von einem grobschlächtigen Mann heruntergelassen. Seiner Toga war Gracchus schon vor einigen Stunden beraubt, ebenso seiner edlen Calcei Patricii, stattdessen war ihm ein grober Mantel übergeworfen und ein altes paar Caligae angezogen worden, doch der Sack war immer noch über ihn gestülpt, die Fesseln schnürten an seinen Handgelenken ein. Einige Atemzüge war es vollkommen still im Gewölbe, dann näherten sich Gracchus Schritte. Der Sack wurde gelöst und Dardarshi zog den groben Stoff von Gracchus Haupt herunter. „Verzeih, werter Flavius, das alles so gekommen ist.“ Der Parther hatte fast eine ganze Stunde auf seinen Freund eingeredet, doch es hatte nicht viel ausgerichtet. Geschickt, trotz des klobigen Erscheinen seiner Hände, löste Darshi die Fesseln und trat von Gracchus ein Schritt zurück, verschwand schließlich in der Dunkelheit.
    Ein großer Kellerraum, eine Lagerstätte, ein Tisch und zwei Stühle beherbergten diese Räumlichkeiten, ebenso einige Öllampen aus Ton, gebrannt in den Gestalten einiger einfacher Tiere, Katzen, Pferde oder Vögel. Aus ihren Mäulern züngelten die Flammen des brennenden Öls.
    „Bruder, auch ich muss mich entschuldigen. Leider werde ich Dir in den nächsten Tagen nicht den Komfort bieten können, der Dir angemessen wäre.“
    Mit einem sadonischen Lächeln auf den Lippen und einem panurgischen Funkeln in den Augen trat Tullius um Gracchus herum. Doch man hätte ihn nicht mehr für Tullius halten können, es war mehr als ob Gracchus nun wahrlich in das Spiegelbild sehen würde, das ihm noch sein Barbier am selbigen Morgen, ehe die ersten Sonnenstrahlen sich über die Stadt gelegt hatten, vorgehalten hatte. Penibel rasiert, die Haare geschnitten und in einer weißen Tunica, mit Gracchus Toga darüber, gekleidet, war kaum mehr etwas von dem schlichten Mann aus der Subura übrig. Aufrecht, stolz und durchaus erhaben sah Tullius auf seinen Bruder hinab, schien schlechterdings in der Lage zu sein die Toga würdevoll zu tragen.
    „Ich bin Dir zu Tiefst verbunden. Du hast mir wahrlich einen famosen Einfall geschenkt. Ahnst Du es schon, Manius?“
    Tullius trat an Gracchus heran und half ihm auf, sah ihm dabei einlässlich in dessen Augen und Tullius Lippen kräuselten sich zu einem erwartungsvollen Lächeln.

  • Die Dunkelheit, welche Gracchus auf dem Weg in jene Gefilde umfasst hielt, war weitaus schlimmer zu ertragen, als jene, welche ihn nach dem Schlag auf weichem Vergessen hatte gebettet. Er konnte die Welt um sich herum hören, doch gleichsam nicht sehen, er konnte sie riechen und manch feinen Lufthauch spüren, und doch war es ihm, als stecke sein Geist in einem Gefängnis, als wäre ein Spiegel alles, was ihm noch blieb, als würde ihm jener nur fortwährend seine Unzulänglichkeiten vor Augen stellen. Quintus Tullius hatte Recht, keinen Tag hätte er in der Subura überleben können, doch dies wäre auch nicht im Geringsten von Nöten gewesen, und je mehr er darüber nachdachte, so kam er zu dem Schluss, dass Quintus womöglich nichts unmöglich war, dass er sich geirrt hatte in seiner eigenen verblendeten Selbstgefälligkeit, dass es mitnichten schwer war, Manius Gracchus zu werden und dass dies womöglich jene bittere Tat würde sein, welche das Schicksal einmal mehr von ihm würde verlangen, um dem Wohl seiner Familie dienlich zu sein. Er wusste nicht, was ihn mehr erschreckte, der Gedanke daran, dass es für Quintus Tillius würde einfach sein, Manius Gracchus zu sein, oder der Gedanke, dass dies mitnichten so schlimm wäre, wie er zuerst geglaubt hatte, dass dies womöglich gar die beste Alternative wäre, welche ihnen blieb. Irgendwann war Gracchus aufgrund der Eintönigkeit seiner eigenen Gedanken von einem wenig erholsamen Dämmerzustand übermannt worden, wenig erholsam, obleich er von den weiten Fluren Italias träumte, vom Duft der lieblichen Natur in seiner Nase und dem feinen Hauch des Windes, der über seine Wangen strich, doch als er wieder zu sich kam, war er noch immer in Dunkelheit gehüllt und seine Glieder schmerzten. Dem Reisen hatte er noch nie Freude abgewinnen können, nicht einmal ohne einen Sack über dem Kopf, ohne die Fesseln um seine Gelenke und mit weichen Polstern unter seinem Hinterteil. Er wusste nicht, wie lange er die Zeit vergessen hatte, wusste nicht einmal, wieviel Zeit bei Bewusstsein vergangen war, doch als er erneut wie ein Sack Mehl über der Schulter transportiert wurde - von einem überaus robust gebauten Mann, wie Gracchus auch ohne seine sehenden Sinne auffiel - gefiel ihm dies noch minder. Er harrte aus, was blieb ihm überdies anderes übrig, und versuchte sich von den ihn nun wie Furien umkreisenden, völlig unpassenden Gedanken an Aqulius zu lösen, als ihm endlich das hinderliche Stück Stoff vom Kopf entfernt wurde. Noch während der Parther in der Dunkelheit verschwand, welche jedoch nicht nur um Gracchus' Kopf existierte, sondern vielmehr im halben Raum vorherrschend war, blinzelte Gracchus in jene Schwärze hinein im Versuch, seine Augen an die Beleuchtungsverhältnisse zu gewöhnen und ein wenig mehr zu erkennen. Es war ein überaus merkwürdiger Ort, an welchem er sich aufhielt, und er erschien Gracchus viel zu surreal, als dass er ihm Sorge bereiten konnte. Auch jener Mann, der schließlich vor ihn trat, erschien ihm viel zu surreal, denn dies war er selbst.
    "Bei den Göttern, mein Geist ist aus meinem Körper gewichen!"
    Vielleicht war dies tatsächlich die wahrhaftige Erklärung, womöglich war dies nicht mehr die wirkliche Welt, sondern ein Trug.
    "Dies ist des Platons Höhle, ich bin die Idee und du mein Abbild."
    Gracchus konnte nicht verhindern, dass er auflachte, dies alles, dies alles geschehen war völlig absurd. Es hätte ihm längst früher auffallen müssen, allein der Gedanke daran, dass all dies wirklich war, war völlig verrückt.
    "Famos, wirklich Famos, Quintus! Der Sohn, den unser Vater sich immer wünschte, wahrhaftig!"
    Er freute sich wie ein kleines Kind und lachte noch immer, einzig dass er seine Hände nicht frei hatte, um sich den Bauch zu halten, störte Gracchus an dem gesamten Trugbild. Er atmete tief durch, doch noch immer ließ sich das vergnügliche Lächeln nicht von seinem Antlitz vertreiben.
    "Mein lieber Bruder - doch, ich glaube, wir sind nun soweit - ich muss gestehen, du siehst atemberaubend aus. Den linken Arm etwas höher, dann läufst du nicht Gefahr, dass der Stoff über den Boden schleift."
    In einem Reflex wollte er die Hand heben, um dies anzuzeigen, doch seine Hände waren noch immer gefesselt und der Strick schnitt schmerzhaft in Gracchus' Handgelenke. Dass dies alles real war, dass dies alles wahrhaftig war, er wusste nicht, ob dies schrecklich oder erheiternd, oder tatsächlich schrecklich erheiternd war. Von einem Augenblick zum anderen wurde Gracchus Tonfall nachdenklich und ernst.
    "Du hättest es auch auf andere Weise haben können, Quintus, du hättest mich nicht einmal darum bitten müssen. Ich hoffe, es wird dir Freude bereiten, mehr als mir."
    Wieder zog sich ein unpassender Gedanke durch seine Sinne und Gracchus' Blick durchbohrte Tullius.
    "Dir mag es gerecht erscheinen, dass nun ich hier unten sitzen, während dir dies jahrelang beschieden war, und ich mag dir nicht widersprechen. Doch deine Gastfreundschaft lässt wirklich zu wünschen übrig, Bruder, und dies ist es, was ich dir übel nehme. Darum lass mich dir einen Gefallen abringen, diese Schuldigkeit fordere ich. Wenn du die Villa Flavia betrittst, so nimm dir, was dir beliebt, selbst meine Gemahlin mag dir in meinem Namen gehören- was du auch tust, sie könnte ohnehin nur positiv überrascht werden, wenn du dies wünschst, so werde ich sogar meinen Sklaven anweisen, dich zu begleiten, doch ich bitte dich darum, deinen Körper von jedem anderem im Hause fern zu halten."
    Ein unbedarfter Geist mochte vermuten, dass Gracchus die weiblichen Mitglieder der Gens Flavia vor seinem Zwilling bewahren wollte, doch Gracchus Befürchtungen galten einzig und allein seinem Vetter Caius, denn er könnte nicht ertragen, dass was geschehen mochte ohne ihn geschah, dass er am wichtigsten Ereignis zwischen ihnen beiden nicht würde Teil haben.

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  • Nur ein sehr schmaler Lichtstreifen fiel in einen benachbarten Keller, mit einem ebenso hohen Gewölbe, zwei Öllampen aus grobem Ton gearbeitet. Ein einsames Lager, ein alter Tisch und ein halbes Fass als Stuhl zierten die Räumlichkeiten. Doch hier hinein wurde dem flavischen Sklaven ein Stoß gegeben, nachdem seine Hände von den Fesseln befreit wurden, und die Tür mit einem lauten Rumpeln hinter Sciurus geschlossen. Durch ein vergittertes Fenster an der massiven, eisenbeschlagenen Tür spähte ein Augenpaar in den halbdunklen Kellerraum hinein. „Zu Essen gib’s später! Decken liegen auf dem Lager.“, verkündete eine raue Stimme, schwere Schritte entfernten sich, ein leises Raunen war noch im Gang zu hören und dann mehrere Füße, die scheinbar eine Treppe erklommen.
    Tiefschwarze Ombragen schlangen ihre Arme um die zahlreichen dunkelgrau bis nebelfarbenen Schattenumrisse des Kellers, entfleuchten vor den sich immer blasser färbenden Strahlen, huschten davon, stoben in die dunklen Ecken und suchten langsam mit gierig dunklen Schattenfingern das Land der Sonne zu erobern.
    Dass sein Bruder auch in dieser Situation die Contenance bewahrte, weder ihn verfluchte, noch jämmerlich jammerte, sogar noch einen gewissen Funken an Humor offenbarte, gefiel Tullius durchaus und sein Bruder erschien ihm weniger erbärmlich als noch die letzten Stunden. Quintus Tullius Lippen kräuselten sich zu einem hauchzarten Lächeln als er seinen Bruder betrachtete, hob verwundert die Augenbraue, glaubte er doch, dass sein Amicus die Fesseln gelöst hatte, aber scheinbar war Gracchus immer noch durch sie behindert. Mithin trat Tullius um Gracchus herum und beugte sich herunter, streifte mit dem linken Arme die Schulter von Gracchus und löste mit einem Ruck die widerborstigen Seile um Gracchus Handgelenke.
    Annährend behutsam ergriff er eine Hand von Gracchus und zog ihn, sich selber aufrichtend, vom Boden hoch. Als sie sich gegenüberstanden, noch nicht einmal einen Finger breit von einander entfernt, lächelte Tullius abermals, legte beide Hände auf Gracchus Schultern und sah ihm durchdringend in die Augen.
    „Bruder, ich nehme mir, was mir gefällt und frage nicht darum. Das war von je her so und das wird auch in Zukunft so sein. Sagen wir, es liegt nun mal in meiner Natur und vielleicht in der unserer Vorfahren. Ob Dein Leben mir gefallen wird? Das werde ich in den nächsten Tagen erfahren. Doch du magst womöglich beruhigt sein, wahrscheinlich verliere ich schon schnell die Lust an diesem kleinen Spiel.“
    Nicht nur sein Aussehen war verändert, auch der Odeur, den Tullius umgab, war ein gänzlich Anderer. Der Geruch nach einem herben und doch verfeinerten Duftwasser, untermalt vom Hauch von Moschus, ging von Tullius aus. Prüfend taxierte Tullius seinen Bruder, blieb weiterhin so nahe bei ihm stehen und versuchte zu eruieren, wen er in der Villa zu schützen versuchte, denn so allgemein seine Rede gehalten war, so sehr stieg wiederum in Tullius der Verdacht auf, dass das Anliegen weniger Grundsätzlich, sondern ganz Speziell gemeint war.
    Immer noch ruhten Tullius Hände auf Gracchus Schultern, Tullius atmete tief ein und streifte dabei Gracchus noch mehr, um seinen Mundwinkel zuckte es amüsiert.
    „Natürlich bist Du verheiratet. Das gebührt einem Patrizier schließlich. Ist sie schön, Deine Frau? Eventualiter werde ich mich ihrer annehmen, allenfalls auch nicht. Doch dich scheint es nicht zu stören, wenn ein anderer Mann, selbst wenn es Dein Bruder ist, oder gerade ebendarum, bei Deiner Frau liegt?“
    Scheinbar ungläubig schnalzte Tullius mit der Zunge, sah Gracchus unverwandt und ungeniert an, während abermals das sadonische Lächeln seine Lippen umspielte. Unter seinen Fingern spürte Tullius den groben Stoff von Gracchus neuer Tunika. Näher auf das Thema Gemahlin wollte Tullius nun doch nicht eingehen, mehr auf das, was Gracchus nicht ausgesprochen hatte und Tullius um so faustischer machte. Unerheblich beugte sich Tullius noch mehr vor, doch es genügte nur einen Hauch von Gracchus Gesicht entfernt zu sein. Bei jedem Wort, was Tullius sprach, strich sein warmer Atem über Gracchus Wange, Tullius Duft wurde umso eindringlicher.
    „Aber Manius, sprich, wen versuchst Du vor mir zu schützen? Eine Konkubine? Eine Verwandte? Einen Verwandten? Wer ist es, der Dir so viel bedeutet, dass Du selbst in dieser desolaten Konstellation darüber betulicht bist. Von wem…“
    Als Tullius Gracchus in die Augen sah, stockte Tullius. Ein Funkeln oder ein Ausdruck, den Tullius nicht deuten vermochte, raubte ihm den Gedanken, den er noch äußern wollte. Was es war, konnte auch Tullius nicht benennen, doch das da etwas schwelgte, dessen war sich Tullius gewiss. Tullius verharrte, sah Gracchus in die Augen und versuchte einzig und alleine mit seinem Blick zu detektieren, was es sein könnte. In jedem anderen Augenpaar hätte er nicht so sehr einen derartigen Ausdruck zu ergründen gewollt, doch hierselbst sahen ihn seine eigenen Augen an, waren mehr ein Spiegel zu seiner eigenen Psyche, war doch Gracchus mehr als ein Bruder, sein Zwilling und somit die Hälfte vom Ganzen, wie sein Amicus dargelegt hatte. War das der Grund, warum Tullius selbst mit den größten Reichtümern, der Macht auf hoher See und seinem eigenem Schiff stets unzufrieden gewesen und von einer seltsamen Leere erfüllt war? Zum ersten Mal in seinem Leben erstarrte Tullius, sah seinem Bruder unverwandt in die Augen.

  • Zitat

    Original von Quintus Tullius
    Nur ein sehr schmaler Lichtstreifen fiel in einen benachbarten Keller, mit einem ebenso hohen Gewölbe, zwei Öllampen aus grobem Ton gearbeitet.


    Ein ganze Weile nun schon saß Sciurus auf dem Boden des dunklen Kellers, blickte versonnen zur Flamme einer Öllampe hin und sah sich einer Situation gegenüber, der er vollkommen machtlos ausgeliefert war. Nicht etwa der Umstand, dass sein Herr womöglich sich in Gefahr befand, nicht die Tatsache, dass er selbst in diesem Loch gefangen gehalten wurde war es, was ihn über die Maßen verstörte und aus seinem tiefen inneren Gleichgewicht brachte, sondern jenes Faktum, dass ihm nun, da er eine Weile tatenlos verharrt hatte, die Gedanken verließen. Sein Leben lang, zumindest soweit er sich erinnern konnte, hatte sein Leben keinen anderen Zweck gehabt, als seinem Herrn oder seiner Herrin zu Diensten zu sein, seine Gedanken galten forwährend diesem Zweck, ständig war er in das Bemühen vertieft, bereits im Voraus zu erahnen, was der Herr sich wünschen würde, noch bevor er es selbst wusste, beständig war er jederzeit bereit diese Wünsche zu erfüllen, selbst im Schlaf blieb er halb wach und stets parat. Ging er seinen eigenen Geschäften nach, so galt seine Konzentration ganz seiner Aufgabe, doch selbst dann drehten sich seine Gedanken meist um Dinge, welche noch zu erledigen sein würden. Dass er jedoch völlig mit sich alleine, sich selbst und seinem Innersten überlassen war, dass er Zeit hatte über etwas nachzudenken, was nicht der Gegenwart oder Zukunft galt, dies hatte er nicht mehr erlebt, seit er ein Kind gewesen war.


    "Wenn die Nacht den Schleier niedersenkt auf Felder, Wald und Tal, erheben sich die Schatten aus den Gräbern grau und fahl." Er lauschte seiner eigenen, leisen, rauhen Stimme, als er die Worte eines Liedes formte, dessen er sich ob seiner Mutter erinnerte. "Und so zieh ich meine Kreise, ehre die Ahnen auf meine Weise, hebe den Blick und lass ihn schweifen, ihr traurig Schicksal zu begreifen." Es schien ihm nun merkwürdig vertraut, obgleich er nie einen Sinn für die Verganenheit hatte, obleich er keine Ahnen vorweisen konnte. Er versuchte die weiteren Zeilen zu memorieren, doch die Worte verblassten in seinen Ohren, verstummten vor seinen Augen. Es war die Beschaffenheit des Raumes, welche diese Erinnerung in ihm aufkommen, aus den Tiefen seines Bewusstseins hinauf kriechen ließ, denn das Gewölbe, die leichte Feuchtigkeit im Raum, die Tür samt dem kleinen, vergitterten Fenster, dies alles war so ähnlich dem Raum, in welchem seine verhasste Mutter das Lied leise gesungen hatte, während sie auf die Wächter wartete, die sie ans Kreuz nageln sollten. Sie hatte ihren Sohn fest umschlungen gehalten, den Sohn, der schon damals nichts als Kälte und Verachtung für sie empfand. Sciurus war nicht dabei gewesen, als sie sie ans Kreuz nagelten, doch er hatte ihre Schreie, ihr Jammern gehört, über Stunden hinweg, und sich geschämt, ihrem Leib entsprungen zu sein. Zwei Tage lang war sie gestorben, zwei Tage während der Sciurus wieder und wieder zu den Vorratskammern neben dem Stall geschickt worden war, so dass er wieder und wieder an ihr vorbei gehen musste. Am dritten Tag wusste er nicht, ob sie noch am Leben war, denn ihre Augen blickten nur starr auf ihn herab, müde und leer, als er vor dem Kreuz stand und emporblickte. Der Vilicus war über den Hof gelaufen, einige Trauben in der Hand, und hatte ihm lachend davon eine hingehalten. 'Die Guten bekommen Trauben, die Schlechten landen am Kreuz.' Sciurus hatte sich die Traube in den Mund gesteckt und war ihm gefolgt. Am nächsten Tag war das Kreuz fort, der Leichnam seiner Mutter irgendwo verscharrt worden.


    Seitdem hatte er viele Trauben gegessen, doch jene Erinnerung war tief in ihm verschwunden, bis zu diesem heutigen Tag, an dem er sich der Untätigkeit gegenüber sah, an dem nichts Gegenwärtiges oder Zukünftiges zu planen war, nur einzig die Vergangenheit blieb.

  • Als die Bänder um seine Hände endlich gelöst waren, rieb sich Gracchus die Handgelenke und ließ sich von seinem Bruder aufhelfen. Der feste Griff, die Berührung der Hände auf seinen Schultern und wieder der durchdringende Blick seines Zwillings, dies alles schein Gracchus so seltsam vertraut, dass es für einen Augenblick seine Sinne straucheln ließ. Die beinahe nicht vorhandene Distanz zwischen ihrer beider Körper, des herbe Aroma, welches Tullius umgab, ließ Gracchus Nasenflügel leicht beben und er musste seine Kiefer aufeinander pressen, musste an sich halten, seine Sinne beisammen zu halten um den Worten seines Gegenübers zu folgen. Gleiches stieß sich einander auf das Heftigste ab, oder es zog sich mit aller Kraft an - er musste nicht lange überlegen, um zu entscheiden, welches Prinzip von beiden in diesem Falle zutraf, und gleich dieser Erkenntnis traf ihn auch jene über die Unmöglichkeit dieser Kraft. Er sog tief Luft durch die Nase um seinen Geist zu klären, doch er sog nur mehr des Duftes ein, schluckte schließlich hart und flüchtete sich in jenes Thema, welches sein Bruder so unbedarft anschnitt, welches doch noch immer jeglich aufkommene Gefühlswallungen in ihm auf einen Schlag beendet hatte.
    "Natürlich bin ich verheiratet, eben aus dem von dir genannten Grund, da es einem Patrizier gebührt und es eine favorable Verbindung darstellt."
    Er legte den Kopf leicht schief, nickte schließlich.
    "Sie hat die Statur einer Venusstatue, ein ebenmäßiges Gesicht, Pfirsichweiche Haut, sie könnte ein Kunstwerk sein, so schön ist sie. Ein äußerst favorable Verbindung."
    Während das sadonische Lächeln die Lippen seines Bruders umspielte, bildete sich spiegelbildlich ein similären Lächeln auf Gracchus' eigenen Lippen ab, nicht ganz so sadonisch vielleicht, mehr berechnend. Würde Quintus Tullius an seiner Statt bei Antonia liegen, so würde dies keinerlei Unterschied für ihn machen, gegenteilig, würde am Ende gar ein Erbe aus diesem Zusammenspiel hervorgehen, so wäre dies der Venuswurf, machte sich Gracchus bisweilen doch schon Gedanken, ob er womöglich nicht fähig war, ein Kind zu zeugen, denn immerhin zeigte Antonia auch nach dem letzen Akt keinerlei Anzeichen dafür, seinen Erben unter ihrem Herzen zu tragen. Ein Kind aus Tullius' Samen würde nicht nur seinem vermeintlichen Vater mehr als genügend ähnich sein, sondern die Blutlinie ebenso fortführen, wie dies sein eigener Spross tun würde. In dieser Hinsicht würde Gracchus äußerst freigiebig über etwaige Bedenken hinweg sehen.
    "Aber nicht mehr als das, nur eine Verbindung. Wenn du mein Leben nimmst, so gehört sie dir, so hast du nicht nur ein Anrecht auf sie, sondern gleichsam eine eheliche Verpflichtung."
    Er verzog das Gesicht zu einer gleichgültigen Mine.
    "Dieses Leben bietet so viele leidliche Pflichten und Verpflichtungen, da magst du wenigstens an dieser einen deine Freude haben. Weiters versuche ich nur mein eigenes Leben zu schützen, Quintus, denn ich gedenke es durchaus zu gegebenem Anlass wieder zu übernehmen. Was du auch tust, es wird auf mich zurück fallen. Was du in der Stadt tust - wen schert das schon, Roma ist groß, nur ein Bruchteil ihrer Bewohner wird mich kennen, und selbst wenn, Roma vergisst schnell. Es braucht nur einen Consul, der auf den patrizischen Stand schimpft, und schon ist alles andere nichtig, vergeben und vergessen. Aber die Familie vergisst nie, Quintus, niemals. Verdrängen, oh ja, darin sind wir wahre Meister, Verbergen, auch das; doch kein Vergeben und kein Vergessen, wenn du in der Familie einen Fauxpas begehst."
    Während der Ernst zurück auf sein Antlitz gleich der Stille zurück in den Raum kehrte, konnte Gracchus spüren, wie der eigentümlich durchdringende Blick seines Zwillings durch seine Augen hindurch in seinen Geist eindrang und jede Kammer seines Bewusstseins zu durchsuchen suchte. Er konnte die Schritte durch die Gänge hallen hören, fühlen, wie das gesamte Gebäude unter diesen Schritten erzitterte, spürte den Odem, welcher jener Türe immer näher kam, hinter welcher sich Caius verbarg. In einer harrschen Geste zog Gracchus eine Hand seines Bruder von seiner Schulter - er war längst nicht der verweichlichte Patrizier, den Tullius in ihm sehen mochte, obgleich seine Kondition durchaus gelitten hatte, seit er das Ringen nicht mehr mit solcher Begeisterung zu tun vermocht hatte, mit welcher er dies gemeinsam mit Aquilius getan hatte. Mit einem Schritt war er aus Tullius Reichweite, dann verharrte er, ihm den Rücken zugewand, war dies doch seine einzige Intention, seines Zwillings Reichweite, seiner Nähe und seinem Blick zu entkommen.
    "Was interessiert es dich, wem meine Sorge gilt? Du nimmst dir doch ohnehin, was dir gefällt. Für dich mag es ein Spiel sein, doch jedes Spiel hat seine Grenzen."
    Zornig starrte Gracchus in die dunklen Schatten auf den Boden des Raumes hinab, gleichsam wissend, dass jener Zorn nicht lange würde vorhalten, was ihn nur um so zorniger auf sich selbst machte. Quintus Tullius hatte ihn niedergeschlagen, hatte ihn wie ein Stück Vieh durch die Gegend transportiert, hielt ihn in einem Keller gefangen und eignete sich sein Leben an, und dennoch konnte er ihm keinen Zorn, keine Wut und keinen Hass entgegen bringen, nur dieses Gefühl, welches jeglicher Grundlage entbehrte, entbehren musste, ob dessen er über sich selbst indigniert war.

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  • Das hauchzarte Band, was sich zu seinem Bruder einen Weg bahnen wollte, sich mit seinem Gegenüber verbinden und zu einem feinen, geistigen Netz von Sympathie und Brüderlichkeit verbinden wollte, zerriss jäh als Gracchus seine Hand abstreifte und sich von Tullius fort drehte. Vielleicht hätte es den Samen der Schwäche in Tullius Seele ausgestreut, hätte die Pflanze von familäre Banden wachsen lassen können, doch so erstarb der Keim, ehe er auch nur die Gelegenheit erhielt zu sprießen. Tullius wandte sich ebenso von Gracchus ab und runzelte über sich verärgert die Stirn, in den letzten Wochen gab er sich immer wieder schwächelnden Gefühlen hin, ließ sich von ihnen beherrschen und kontrollieren, dabei war es stets sein Vermögen, solch ein Negativum zu entgehen, worauf er stolz gewesen war. Wer schwach war, verdiente zu sterben, so einfach war es für Tullius und dieser Grundsatz prägte sein ganzes Leben. Noch ehe mehr von diesen maladen Seelenregungen in ihn hinaufdrängen wollten, verschloss er abermals sein Innerstes tief, verbot sich solch eine sentimentale Anwandlung. Nur ein kaum hörbares Seufzen war der letzte Ausdruck der aufschreienden Leere in ihm, die danach suchte gefüllt zu werden. Kalt lächelnd, seine Miene erneut beherrscht, wandte er sich zu Gracchus, betrachtete schweigend dessen Rückenseite und das Schattenspiel auf seiner groben Tunika.
    Prüfend sah er ihn an, sinnierte darüber, warum, sollte sich jene Patrizierin als Schönheit erweisen, Gracchus nicht leidenschaftlicher von ihr sprechen konnte. Hernach schien es wohl zu sein, dass jene Frau zu der Sorte unterkühlte Patrizierin gehören würde, die Art von Frauen, die Tullius wenig schätze und die ihn schnell langweilten. Aber vielleicht würde er sein Vergnügen mit ihr haben, eine Nacht und sie dann negieren und sich anderen Aspekten von Gracchus Leben widmen, ebenso herausfinden, was Gracchus so sehr fürchtete, dessen er, Quintus Tullius, habhaft werden und zerstören könnte.
    Langsam schritt Tullius an Gracchus heran und blieb an seinem Rücken stehen, sah über dessen Schulter hinweg auf den verlöschenden Lichtschein, deren orangeroten Facetten in zahlreichen Perlmutfarben über den Boden strich und das Profil von Gracchus erleuchtete.
    Jammernde und weinende Männer und Frauen waren Tullius von je her ein Graus gewesen. Und die Art, in der Gracchus von seinen Pflichten und seiner Familie sprach, dünkte ihm gleichermaßen. Tullius Lippen verzogen sich zu einem verächtlichen Lächeln, unsägliche Despektion stieg in Tullius auf und er beherrschte sich eisern, sich nicht mit einem abfälligen Schnauben von seinem Bruder abzuwenden. Der Mann vor ihm war in einem der reichsten Familien des Imperiums geboren, hatte sich nie darum sorgen müssen, ob der nächste Tag den Hungertod für ihn bedeuten würde, nie die Frage, wo er als nächstes schlafen würde. Und ebendies war der Grund warum Tullius die Patrizier noch mehr verachtete, obwohl sie sich ihres Glückes bewusst sein sollten, hielten sie sich mit ihren armseligen Selbstmitleid und Sorgen auf.
    „Bruder, Du solltest Dich glücklich schätzen, dass Du eine Familie hast. Und gerade diese Familie, wie mir scheint. Du ergehst Dich zu sehr in den Nachteilen Deines Daseins. Das nenn ich wahrhaft deplorabel, Manius.“
    Tullius sah zur Seite und hob marginal seinen linken Arm, in der Tat saß die Toga noch vortrefflicher und behinderte ihn sehr viel weniger. Aber dass sein Bruder ihn in solchen Dingen haushoch überlegen war, daran zweifelte Tullius nicht. Einige Atemzüge lang fragte sich Tullius, wie es wohl gewesen wäre, hätte sie das Schicksal nicht derart grausam entzweit, doch solcher Art Gedanken nachzuhängen war bei Weile mehr als müßig und somit wenig sinnig, also schob Tullius diese beiseite.
    „Das Leben ist immerzu ein Spiel, warst Du Dir dessen nicht schon vorher bewusst? Ein Spiel ist immer ein Ringen um das Obsiegen oder Verlieren. Ein ständiger Kampf, der die Menschen fordert, formt oder in den Abgrund stößt. Und in dem Spiel namens Leben finden sich nur die Regeln, die die Stärkeren vorgeben und sie auch durchzusetzen vermögen. Im Moment, Manius, bist Du nicht in der Lage Regeln aufzustellen. Vielleicht ändert sich das in der Zukunft und Du wirst mich das, was ich in den nächsten Tagen tue, sühnen lassen, womöglich auch nicht. Es wird sich zeigen, wie stark Du Dich in diesem Wettkampf erweisen kannst. Ich muss zugeben, von den meisten Patriziern Deines Schlages halte ich nicht viel, sie sind schneller durch meine Hand gestorben als sie ein Gebet an die Götter schicken konnten. Aber, mein lieber Bruder, ich hoffe sehr, Du machst es mir nicht derart einfach. Aber darum werde ich Dir auch die Gelegenheit geben, Deine Würfel in das Ringen um Leben und Tod der Göttin Fortuna hinzuwerfen.“
    Genüsslich lächelnd wandte sich Tullius um und trat zu dem Tisch, zog eine Öllampe heran, deren Schein nun ein hölzernes Brett beleuchtete. Aus einer tönernen Karaffe goss Tullius Wein in zwei Becher hinein.
    „Ich breche erst in einigen Stunden auf! Vielleicht essen wir noch gemeinsam und Du erzählst mir einige Belange Deiner Familie?“

  • Langsam kroch der Schatten seines Bruders über den Boden, näherte sich seinem eigenen und es entlockte Gracchus ein feines Lächeln, dass selbst ihr Schatten gleich wirkte, obgleich Tullius die Toga um sich trug und er selbst nur jene schäbige Tunika, dass die Bewegungen seines Bruders ihm so ähnlich, so vertraut waren. Doch der Tonfall, mit welchem der Zwilling in seinem Rücken sprach, brachte erneut Ärger in Gracchus hervor. Er drehte sich um und bedachte Tullius mit kaltem Blick.
    "Dein Leben mag ein Spiel sein, Quintus Tullius, doch das meine ist es nicht. Ich habe ein Pflicht, ein Pflicht gegenüber dem Imperium und gegenüber meiner Familie, und ich nehme diese Pflicht sehr ernst. Vielleicht ergibt das für einen Herumtreiber keinen Sinn. Die meisten von uns können nicht halb so leichtfertig sein, wie sie es gerne wären. Aber auch das dürfte für dich recht schwer zu verstehen sein, der du dein Leben ..."
    Er stockte kurz, legte die Stirn in Falten, doch er wusste nicht, was Quintus Tullius überhaupt je in seinem Leben getrieben hatte.
    "... als Spiel spielst, dir nimmst, was dir gefällt. Die Stärksten stellen die Regeln auf, dies mag die einzige Gemeinsamkeit sein, welche wir in unserem Leben teilen, zusätzlich zu unserem Äußeren, doch darüber hinaus wirst du nie verstehen können, was mein Leben ausmacht. Und das, Quintus, das nenne ich wahrhaft deplorabel, denn es vergeudet alles, was du in dir trägst, alles, was du hättest werden können. Schon deine oberflächliche Betrachtungsweise der Welt schmerzt mir, Schwarz und Weiß, stark und schwach, Patrizier, Nicht-Patrizier, dies scheint augenscheinlich alles zu sein, was du siehst. Wenn dies alles ist, was dein Leben ausmacht, so verwundert mich dein Verbitterung wahrlich nicht, und ich hoffe für dich, ja, ich hoffe dies tatsächlich, dass du eines Tages aus diesem schablonierten Dasein ausbrechen werden kannst."
    Die Tatsache, dass Quintus Tullius von Männern sprach, die durch seine Hand gestorben waren, von Patriziern, dies verwunderte Gracchus nicht mehr, was ihn um so mehr verwunderte, doch es betrübte ihn zutiefst. Er wusste nichts über ihn, nicht das Geringste, wie tief also mochte dieser Abkömmling seines Vaters gesunken sein, womöglich tiefer noch als Animus? Er folgte seinem Zwilling, denn wie fatal diese Situation auch sein mochte, etwas zu Essen im Magen war niemals verkehrt.
    "So ist es denn doch das Spiel um Leben und Tod, welches zwischen uns steht? In diesem Fall kannst du den Gewinn einstreichen, Quintus, denn ich werde dieses Spiel nicht spielen, nicht mit dir. Du magst auch dies nicht verstehen, magst es mir als Schwäche auslegen, doch ich habe bereits einen Bruder verloren, mit dir zwei, und drei sind mir zu viel."
    Er sprach in einem beiläufigen, Tonfall, als würde ihn dies alles nur marginal tangieren, doch im Grunde war er sich nur eines Gefühles sicher, dessen, dass er sich seiner Gefühle nicht sicher war. Womöglich gärte dort ein wenig Furcht unter seiner Oberfläche, ein wenig subkonsziente Wut noch immer sicherlich, vielleicht sogar Verzweiflung neben Verwunderung, Zweifel und Zwiespalt allemal, ebenfalls Hader und Besorgnis, doch dort in ihm drin fand sich noch eine weitere, nur einem äußerst sublimen Gespür zugängliche Emotion, die nicht im Geringsten zu dieser Situation passen wollte, eine Spur von Amüsement, welche partout nicht weichen wollte.
    "Doch wenn es dir eine Freude bereitet, so werde ich darauf verzichten zu versuchen ein Gebet an die Götter zu schicken, ich stand ohnehin lange genug im Dienst des Cultus Deorum um zu wissen, dass auch die Götter nichts mehr ändern können, wenn die Würfel bereits gefallen sind."

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  • Tief in seinem Inneren ruhte ein Vulkan oder viel mehr glich Tullius in gewissen Maßen auch äußerlich einem Feuerberg. Von Außen hatte er etwas schroffes, wirkte an manchen Stellen mit der blühenden Natur dann mehr lieblich, durch den trügerischen Schlaf sogar friedfertig und schien in einem seligen Schlummer zu ruhen. Doch manchmal erbebte er und das rot glühende Magma suchte seinen Weg an die Oberfläche, um alles um sich herum zu zerstören und zu verbrennen, nur Asche und eine öde Mondlandschaft zurück lassend. Als Quintus Tullius den Worten seines Bruders lauschte, entstanden haarfeine Risse im schwarz erkalteten Magma, die die Oberfläche des Kraters bildete. Gleich der Nebel der Hitze aus den Ritzen hervordrang, erbebten Tullius Nasenflügel als Zeichen seines Unmutes und wachsenden Ingrimms. Als schon das erste Magma durch die Lücken quoll, der Druck im Berg immer stetiger wurde, erzitterte der Wein in seinem Becher marginal. Doch mit der üblichen Selbstkontrolle verbot sich Tullius den Ausbruch seines Zornes und zog einen Stuhl heran, auf dem er, außen ruhig und gelassen wirkend, Platz nahm.
    An einem Wort alterierte sich Tullius am Meisten: Herumtreiber. Gelassen, wenn das auch nur Trug und Schein war, trank er vom Wein und lächelte verächtlich. Schweigend lauschte Tullius seinem Bruder, schob das Brett mit dem Essen an den freien Platz weiter und blieb stumm bis Gracchus zu Ende gesprochen hatte.
    „Wenn Du das meinst, mein lieber Bruder, dann wird das wohl so sein. Ich möchte nicht dem Patrizier von uns Beiden widersprechen, sicherlich hast Du eine philosophische Ausbildung genossen, was sollte ich armer Mann aus der Subura in dieser Hinsicht entgegnen können?“
    Triefend vor Hohn sprach Tullius, seine Mundwinkel zuckten dabei im höchsten Maße amüsiert und der Vulkan erlosch in ihm abermals, der Zorn war gebändigt.
    „Dennoch möchte ich, meines ahnungslosen und doch eingeschränkten biographischen Hintergrundes zum Trotz, eines anmerken. Ein Spiel kann sehr wohl höchst diffizile sein und eine Komplexität erzeugen, die einen meisterhaften Denker und Analytiker des Lebens erfordert. Darum heißt es nicht, dass das Spiel um Leben und Tod nur einem Schema, dem Wurf von einigen Knochenstücken gleichend, folgen muss. Im Gegenteil, dies langweilt mich doch oftmals maßlos. Außerdem, Manius, ist es durchaus möglich, die Pflichten in diesen ganz extraordinären Wettkampf einzubinden, bedeuten sie doch nur eine weitere fordernde Schwierigkeit in dem Kampf, den man sich in seinem Leben nun mal stellen muss.“
    Mit einem Arm stützte sich Tullius auf dem Tisch auf und spitzte nachdenklich seine Lippen und begann unbewusst mit einer Hand seine Unterlippe zu kneten. Nur einen kaum merklichen Atemzug vollführte er die Geste ehe er seine Hand sinken ließ und Gracchus betrachtete.
    „Du bist also ein Priester?“
    Nicht sonderlich angetan von dieser Eröffnung lehnte sich Tullius zurück und betrachtete sinnend sein Spiegelbild. Der Gedanke an den Fluch keimte in ihm auf, vielleicht hätte er Gracchus in dieser Hinsicht um Hilfe bitten können, wenn Tullius nicht zu sehr stolz darauf war, derer nicht zu benötigen.
    „Vielleicht wird doch eines Tages der Moment kommen, an dem Du meinen Tod herbei wünschst, mein lieber Bruder. Mir dünkt, es wir schlechterdings so geschehen. Und Manius, ich werde es Dir nicht so einfach machen, dass Du mich durch einen Lakaien beseitigen lassen kannst. Oh nein, so nicht. So nicht…“
    Die letzten Worte murmelte Tullius mehr, sah an Gracchus vorbei und auf die düsteren Schatten, die sich zu Mäulern und Klauen verformten und nach ihm zu greifen schien. So würde es mit Sicherheit nicht passieren, denn der Fluch würde ihn ereilen oder das Kreuz, womöglich war auch das Kreuz der Fluch oder vielmehr Gracchus Ausdruck des Fluches in der Gestalt der personifizierten Rachegötter. Tullius Miene verhärtete sich und er ließ den Becher in seiner Hand kreisen.
    “Erzähl mir doch ein wenig von unserer Familie. Wer von ihnen lebt in Rom zurzeit?“

  • Als wäre dies eine ehrbare Villa, der Raum ein vornehmes Triclinium und Quintus Tullius ein honoriger Gastgeber zog Gracchus in einer unbeschwerten Bewegung den Stuhl zurück und nahm an dem einfachen Tisch Platz, auch wenn das Mahl nicht unbedingt als frugal gelten konnte. Die Verhöhnung seines Lebensweges jedoch, gleichsam seines gesamten Daseins verstimmte ihn erneut.
    "Du pauschalisierst schon wieder, mein lieber Bruder, und ich assekuriere dir, ich finde keinen Gefallen daran, wenn du mich dieserart sekierst. Es mag in deinem Ermessen liegen, dies zu tun, doch es wird schlussendlich zu nichts anderem führen, denn Schweigen."
    Er brach ab, als sein Zwilling begann für einen unmerklichen Augenblick an seiner Unterlippe zu kneten, denn dies war eine Gestik, die ihm von sich selbst solchermaßen vertraut schien, dass sie ihn beinahe schon allein durch das bloße Zusehen zum Nachdenken bewegte, und so folgte denn seine Antwort mehr unbewusst und beiläufig.
    "Derzeitig habe ich das Amt eines Decemvir litibus iudicandis inne. Aufgrund der Gesetzesänderungen hole ich mein Vigintivirat nach, nachdem ich bereits zuvor die Quaestur abgeleistet habe. Zwischenzeitlich und auch zuvor stand ich jedoch im Dienst des Cultus Deorum."
    Um dem sinnierenden Blick seines Spiegelbildes zu entgehen, nahm Gracchus einen Schluck Wein, betrachtete forschend die rotfarbene Flüssigkeit in dem einfachen Gefäß und kam schließlich doch nicht umhin, seine Aufmerksamkeit wiederum Tullius entgegen zu bringen und über dessen Worte nachzudenken. Wie oft hatte er seinem Bruder Animus den Tod gewünscht, war fest davon überzeugt gewesen, ihm selbst den Dolch in sein Fleisch stoßen zu können, wäre er ihm vor Augen getreten, doch tief in seinem Inneren wusste Gracchus sehr genau, dass er niemals fähig dazu gewesen wäre, dass es eine große Erleichterung gewesen war, dass Fortuna selbst dafür Sorge getragen hatte, gleichsam spürte er noch immer den leichten Schmerz über den verlorenen Bruder, nicht nur verloren an die verderbliche Sekte, doch gleichsam verloren an das Leben, obwohl er ihn kaum gekannt hatte. Auch Quintus Tullius kannte er nicht, doch was immer er auch tun würde, allein der Gedanke an Brudermord - mochte er im Blut der Römer auch fest verankert sein - war ihm ein Gräuel und die Tatsache, dass er sich über seinen eigenen Anblick würde hinwegsetzen müssen, unvorstellbar. Womöglich würde er dafür Sorge tragen, dass Quintus Tullius nicht mehr Manius Gracchus sein konnte, würde sein individuelles Abbild einzig für sich allein fordern, doch es gab andere Wege dies zu erreichen, als den Tod.
    "Vielleicht ...",
    war darum sein einziges diesbezügliches Wort, obleich es 'niemals' hätte lauten sollen, bevor er zu dem weichen Fladenbrot auf dem Brett vor sich griff und sich ein Stück davon abriss. Stille legte sich über den dunklen Raum, nur fern war das schwere Schlagen einer Türe aus einem der Gänge zu vernehmen und Gracchus hörte die kauenden Bewegungen seiner Kiefer in seinen Ohren, dann das Schlucken und schließlich vollkommene Stille. Die Villa Flavia war kein Ort des hektischen Lebens, viele ihrer Bewohner traf man höchst selten auf einem der Gänge an, einzig der junge Serenus belegte sie ab und an mit lautem Kinderlärm, doch gleichsam wie sehr sich die vielen Sklaven bemühten, niemals war es völlig still, immer waren von irgendwo Fußtritte zu vernehmen, immer raschelte es, rauschte es von irgendwo her und wenn dies nur aus der hektischen Stadt vor ihren Toren hinein wehte. Einen Augenblick darum saß Gracchus nur da, blickte über den tanzenden Lichtschein auf dem Tisch, sog die Stille in sich ein, die so sehr nach Achaia klang, und ein feines, wehmütiges Lächeln begann seine Lippen zu kräuseln, denn die Remineszenz an einen fernen Abend tat sich in ihm auf, einen Abend auf dem kleinen Landgut, beinahe zu klein um als Gut zu gelten, beschlossen von einem kargen Mahl mit Brot, Käse und einfachem Landwein, ein Abend mit Caius. Es stieg die Frage in ihm auf, ob wohl Quintus diesen Platz hätte eingenommen, nicht in identischer Weise, doch similär, wären sie nicht einander entrissen worden, ob es wohl jener Umstand gewesen war, der jene Leere in ihm geschaffen hatte, dass das Drängen in ihm diese Leere zu füllen so gewaltig gewesen war, und es war dieser Gedanke, der ihn dazu brachte, von seiner, von ihrer Familie zu berichten. Doch seine Stimme blieb nachdenklich, sein Blick mied den seines Zwillings, war auf einen Punkt gerichtet, der weit unter der Tischplatte lag und wenig mit ihr gemein hatte, der nur in seinem Geist existierte.
    "Deplorablerweise wirst du unsere Schwester Minervina nicht antreffen, sie ist erst vor einigen Tagen zu einer Reise nach Hispania aufgebrochen. Auf deine Schwester Agrippina dagegen wirst du nur treffen, wenn du dich zum Tempel der Vesta begibst, sie ist die Virgo Vestalis Maxima."
    Die Erwähnung des Amtes brachte wie immer ein wenig Stolz in Gracchus' Stimme, war Agrippina doch die einzige, derentwegen er sich in der Familie keinerlei Sorgen machte, da sie längst mehr erreicht hatte, als alle ihre Geschwister zusammengenommen. Nun war es an ihm, in unbewusster Manier die Hand zu heben und an seiner Unterlippe zu kneten.
    "Sie ist nur unwesentlich älter als wir beide und wurde schon früh in den Dienst der Vesta bestellt, doch womöglich ..."
    Er stockte, in seinen eigenen Erinnerungen gefangen. Es gab einige verschwommene Fetzen in seinem Gedächtnis, Erinnerungen an gemeinsames Spiel mit seiner Schwester, obgleich sie beide noch sehr jung gewesen waren. Ein Bruder tauchte dabei nicht auf, doch womöglich war jener nur aus dieser Erinnerung gefallen, da es später keine Erklärung mehr für ihn gegeben hatte. Doch Sracchus schüttelte nur leicht den Kopf, und fuhr fort.
    "Deinen Bruder wirst du im Haus antreffen, Quartus Lucullus. Er wuchs in Oberitalien auf, trat schließlich dem Cultus Deorum bei, wie unser Vater dies für ihn vorsah. Wir kennen uns wenig, nur aus belanglosen Briefen und kurzen Gesprächen. Er wird kaum etwas bemerken, manchesmal hege ich den Verdacht, er nimmt es mir übel, dass ich ..."
    Wieder stockte er, blickte für einen winzigen Augenblick auf und Tullius nachdenklich an, schüttelte jedoch wieder nur den Kopf und winkte ab.
    "Belanglosigkeiten. Es wird ihm nicht auffallen, dass ich nicht mehr ich selbst bin. Dies war schon die Familie, ich... wir hatten noch einen Bruder, wesentlich älter als wir beide, doch er verstarb vor Jahren. Weiters lebt in der Villa unser Vetter Secundus Felix, sicherlich wirst du seinen Namen kennen, er ist der Herr des Hauses, doch er lebt recht zurückgezogen. Seine beiden Söhne, Lucius Furianus und Titus Milo, sieht man beinahe ebenso wenig. Furianus wurde erst kürzlich in den Senat erhoben und hat darum viele Pflichten, sein Bruder verreist immer wieder für mehrere Tage. Die Kinder unseres Vetters Marcus Aristides, Felix' Bruder, leben ebenfalls in Rom während ihr Vater seinen Dienst in der Legion in Mantua verrichtet. Dies sind seine Tochter Arrecina und sein Sohn Lucius Serenus. Von all diesen wird ebenfalls niemand Verdacht schöpfen, wenn du ihnen gegenüber trittst, die Bindungen innerhalb der Flavia sind nicht sonderlich ausgeprägt. Vorsehen musst du dich vor unserer Base Leontia, eine äußerst kluge, eloquente junge Frau, und wenn du ihren Argwohn weckst, so bin ich sicher, wird sie urgieren und einen äußerst unauffälligen Weg finden, ihren Verdacht zu prüfen. Und schließlich Caius Aquilius, mein ... unser Vetter."
    Seine Stimme wurde von einem sublimen sanften Hauch unterwandert, der einem feinsinnigen Geist wohl auffallen würde.
    "Er ist derjenige, der deinem Spiel die meiste Gefahr bringt, denn er ist es, der mich von allen am besten, der mich von allen einzig kennt, meine Sprache, meine Gestik, meine Gedanken. Wir wuchsen zusammen auf, wurden gemeinsam in Achaia erzogen, er kennt jedes Detail meines Wesens. Die übrigen magst du täuschen, doch ihn ... wenn du ihn überzeugen kannst, ich zu sein, dann kannst du wahrlich mein Leben behalten."
    Allein der Gedanke daran, dass Caius dieser Täuschung würde erliegen können, zog ihm das Herz zusammen. Er war versucht Tullius zu bitten, Aquilius aus dem Weg zu gehen, doch was würde diesem eine Bitte schon bedeuten, vermutlich würde ihn dies nur um so mehr dazu antreiben, die Konfrontation mit Aquilius in sein Spiel einzubinden. Er hatte bereits zu viel gesagt, so griff Gracchus erneut nach dem Brot.

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  • Kleine wilde Strudel bildeten sich in der weinroten Flüssigkeit in Quintus Tullius Becher. Schatten glitten über die Wände und verwoben sich zu einem komplexen Spiel, während die Flammen der Öllampen durch einen kaum spürbaren Luftzug hin und her tanzten. Einem Strudel Neptuns gleichend drehten sich die Strudel im Wein und zogen Tullius Gedanken hinfort wie die hilflosen Planken eines treibenden Schiffes, der Wind seines eigenen Zornes, der maßlosen Arroganz seines Bruders wegen, trieb die zerfetzten Segel seines Gedankenschiffes noch voran. Noch ehe ein Atemzug verging, richtete Tullius seine geistige Aufmerksamkeit wieder auf einen einzigen Fokus, seinen Bruder, den er in keinem Momente unterschätzen durfte oder ihm gegenüber eine Schwäche offenbaren, dies war Tullius sehr wohl bewusst.
    Mit einem wachen Ausdruck in seinen Augen lauschte Tullius seinem Bruder, während der Groll in ihm stetig anwuchs. Ein kleiner Funke in ihm, den er bis dato nicht bemerkt hatte, schwoll an, erhielt die Gestalt einer winzigen lodernden Flamme, die noch mit Nahrung versorgt werden musste, oder in einem starken Windhauch eingehen würde. Doch der Keim: Hass war in ihm bereits jetzt zu finden, eine Animosität darauf, dass Gracchus stets die einfachere Möglichkeit im Leben erhalten hatte.
    Der Stuhl knarrte marginal unter Tullius Gewicht als er sich zurück lehnte und seinen Arm äußerlich ruhig auf dem Tisch ablegte und Gracchus unverwandt besah.
    Über seinen Posten, den von Gracchus, musste Tullius doch ein wenig länger sinnieren, hatte er selten viel Augenmerk auf die Amtsträger der Hauptstadt gelegt, doch ihm schwante, er widmete sich dem letzten Willen der Verstorbenen, was Tullius wohl mehr als ermüdend empfinden würde.
    Jede Geste, jede Regung und das feine Mienenspiel von seinem Zwillingsbruder beachtend studierte Tullius ihn, ähnlich ein Raubtier seinem Opfer gegenüber. Doch noch während Gracchus die Worte über die Familie sprach, Tullius merkte am Rande, wie maßlos wohl Gracchus ihn mit der Behauptung der engen Familienbanden am Morgen irreführen wollte, erkannte Tullius, dass dieses Studium nur für wenige Flavier von Nöten sein würde, dennoch befand er die Herausforderung so gänzlich anders zu sein als immer noch sehr reizend.
    Jedoch gleich stieg in Tullius der Keim des Verdachtes auf, ob Gracchus ihn nicht einfach belog, vortäuschend sein eigener Bruder kenne Gracchus nicht, ebenso wenig seine Frau. Doch Tullius würde weder sich auf ein Glatteis begeben, was sein Bruder für ihn bereitete oder welches aus Unvorsichtigkeit heraus entstand.
    Durchdringend Gracchus taxierend lächelte Tullius kühl, schwieg sich einige Atemzüge aus und sann über jene letzten Worte nach. Den Sklaven von Gracchus mitzunehmen war durchaus eine Versuchung für Tullius, doch die Gefahr, die dieser barg, Tullius würde ihn nicht ständig im Auge behalten können, war zu groß als dass es durch den Nutzen des Mannes, ihn die Familienverhältnisse zu offenbaren und besonders, ihm die Gesichter zu den passenden Namen aufzuführen, aufgewogen wurde.
    Im Geiste ging er nochmalig alle Genannten durch, Lucullus, Felix, Furianus, Milo, die beiden Kinder, Serenus und Arrecina, und die beiden Wichtigsten, Leontia und Aquilius. Bei dem letzten Namen meinte er bei Gracchus eine etwas andere Stimmlage wahrgenommen zu haben, doch es war ein Verdacht, der sich an den Rande seines Bewusstseins fest haftete, nicht greifbar war und somit von Tullius als belanglos zur Seite geschoben wurde. Niederschreiben brauchte sich Tullius das Gesagte wahrlich nicht, mal davon abgesehen, dass er nur rudimentäre Schreibkenntnisse besaß und dies stets verborgen hielt. Aber so war immerhin sein Gedächtnis sehr viel stärker geschult worden.
    „Bruder, erneut bin ich Dir wohl zu Dank verpflichtet, was deine bereitwillige Auskunft betrifft. Dennoch hoffe ich durchaus, dass Du mit Deinen Worten und Deiner Aufklärung mir eine Falle zu stellen versuchst. Alles andere würde mich durchaus enttäuschen, schließlich solltest Du es mir in diesen Belangen nicht allzu leicht machen.“
    Tullius erhob sich und schob den Stuhl an den Tisch heran, mit dem Hauch eines feinen Lächelns kräuselten sich seine Lippen unerheblich, seine Augen blitzten unternehmungslustig auf.
    „Aber nun, werter Bruder, so sehr ich auch Deine Gesellschaft genieße, muss ich leider aufbrechen. Benötigst Du Dinge, die Du hier nicht zu finden vermagst, wird Dir mein Amicus das womöglich beschaffen können. Auf bald, Bruder!“
    Den linken Arm marginal höher gehoben wandte sich Tullius ab und verließ, ohne einen Blick zurückwerfend, den Raum, ein schwerer Riegel schob sich vor die hölzerne Tür. Im Gang angekommen blieb Tullius stehen, sah auf die kleinere Gestalt, die dort geduldsam wartete.
    „Du brauchst nichts zu sagen, Darshi!“
    Der Parther sah stumm zu Tullius und zuckte mit der Schulter. „Das habe ich nicht vor. Wenn Du diese Posse betreiben willst, ist das Deine Angelegenheit. Nur solltest Du Dich nicht endgültig mit den Göttern verderben, wenn Du Deinen Bruder tötest.“
    Ein höhnisches Lächeln glitt über Tullius Lippen.
    „Dafür ist es zu spät, Amicus. Wir sehen uns in einigen Tagen wieder.“
    Ehe Tullius die Treppen erklimmen konnte, hielt ihn Darshi am Arm fest. „Was darf er erfahren?“ Verwundert wölbte sich Tullius Augenbraue in die Höhe, doch schon sank sie herunter und Tullius dachte einige Atemzüge über jene Frage nach.
    „Was Du als richtig erachtest, mein Freund!“
    , gab Tullius schließlich zur Antwort und trat auf die erste Stufe, zögerte nur einen unbedeutenden Augenblick und verschwand in der sich stärker abzeichnenden Dunkelheit. Der letzte Hauch der untergehenden Sonne zeichnete sich über den Bergen ab, einige Schwalben flogen am Himmel und fingen elegant im schwindenden Licht die Fliegen aus der Luft ein. Tullius genoss den Ausblick über die Talschluchten um das einsame Weingut und wandte sich an einen Mann, der Süßholz kauend, auf einigen Holzscheiteln saß.
    „Danke!“
    , sprach Tullius schlicht aus, ein Wort, was er selten nutzte. Der Mann, breitschultrig und mit Wetter gegerbter Haut nickte kurz. „Keine Ursache, ich stehe eh noch in Deiner Schuld, Kapitän.“
    Tullius Mundwinkel verzogen sich schief und schweigend wandte er sich zu dem Pferd um, was bereit stand.
    Als das letzte Licht entschwunden war, hatte auch Tullius das Weingut verlassen, ließ seinen Bruder in dem nur von Öllampen erleuchteten Raum, der zudem sehr spartanisch eingerichtet war, zurück.

  • Tiefe, bedrückende Leere, schummrige Dunkelheit und sich langsam vor alle Empfindungen schiebende Kälte blieben zurück in dem kargen Kellerraum, Gracchus' neuem Zuahuse, und während er noch auf dem letzten Bissen des Mahls herumkauend sich umsah, wurde sich Gracchus dessen Gewahr, dass dieser Raum bis auf marginale Abweichungen genauestens sein Innerstes widerspiegelte. Es beschlich ihn das dumpfe Gefühl, dass nichts, was er gesagt hatte, seinen Zwilling auch nur im Mindesten hatte erreicht, augenscheinlich war es ein Fluch, dass er keines seiner Geschwister mit seinen Worten erreichen konnte, nicht Minervina, nicht Tullius und Lucullus vermutlich ebenso wenig, er war offenkundig nicht dafür geschaffen, der Familie in irgendeiner Weise vorzustehen, wie er nur allzu oft immer wieder feststellen musste. Doch nicht dies war es, was ihn zu tiefst bedrückte, er hatte dies ohnehin niemals gewünscht, es war die Art und Weise wie Tullius ihm zu Verstehen gegeben hatte, dass er nicht sein Bruder, dass er stattdessen sein Feind war, ein Feind auf Leben und Tod. Gracchus wusste, dass es klüger würde sein, gegen jenen Mann zu arbeiten, ihm vor allem anderen zu misstrauen, doch gleichsam wusste er, dass er dies nicht würde tun können, denn er brachte es nicht über sich seinem eigenen Anblick zu misstrauen, weniger noch, als dies sonst irgendwem gegenüber zu tun. Vermutlich war dies seine größte Schwäche, größer noch als jene unbotmäßigen Gefühlswallungen gegenüber Angehörigen des gleichen Geschlechtes, größer noch als jene Affinität zu Caius, doch Gracchus konnte nichts dagegen tun, denn sein Leben galt der Wahrheit, der Schönheit, Gerechtigkeit, Ästhetik, Eleganz und Harmnoie, und in dieser Welt gab es keinen Platz für Lug und Betrug. Die ersten Erfahrungen mit der Disharmonie der Schändlichkeit hatte er auf Creta erfahren und sie hatten sein Weltbild bis in die Grundfeste erschüttert, doch waren sie nicht schwerwiegend genug gewesen, um es zu zerbrechen. Misstrauen widerstrebte seinem Verlangen nach Wahrhaftigkeit, denn es bedeutete gleichsam, einer Person zuzutrauen, dass jene die entgangenen Genüsse der Ästehtik durch die Lüge bewusst würde auf sich nehmen, und dies war für Gracchus unvorstellbar. Doch gleichsam war er sich dessen bewusst, dass es einfach war aus seiner Position heraus auf diese Weise zu handeln, zu denken, ungleich einfacher, als dies in der Subura der Fall sein mochte, die, so nah sie auch an die besseren Viertel der Stadt grenzte, doch eine solch ferne Welt darstellte, deren Leben Gracchus nicht fähig war nur anzudenken, gleichsam er nicht fähig war, das dortige Leben des Quintus Tullius anzudenken, so sehr er sich auch darum bemühte. In diesem Augenblicke wurde Gracchus bewusst, wie unglaublich egozentrisch seine gesamte Welt war, denn während Tullius sich um Gracchus' Vergangenheit und Leben bemüht hatte, so hatte er selbst es vermieden, die Vergangenheit des Zwillings auch nur anzuerkennen, geschweige denn, sich danach zu erkundigen. In einem Akt der Hybris war er so besessen gewesen von der Idee, dass Tullius nichts lieber würde tun, als das patrizische Leben einzunehmen, welches ihm vorenthalten worden war, dass ihm nicht einmal in den Sinn gekommen war, dass dies nicht der Fall sein könnte, dass er nicht im entferntesten angenommen hatte, dass dies für Tullius tatsächlich nur ein Spiel würde sein, ein Spiel, welches es sich lohnte eine Zeit lang zu spielen, doch aus welchem man hernach in sein eigenes, geliebtes Leben zurück kehrte. Quintus Tullius konnte das Leben des Flavius Gracchus nach belieben ruinieren und hinterher glücklich und zufrieden in jenes des Quintus Tullius zurück kehren, ohne eine Spur von Bedauern, während Gracchus hernach vor den Scherben seiner Existenz würde stehen - und was, bei allen Göttern, hätte er anderes verdient? Verdrießlich schob Gracchus den leeren Teller von sich und schämte sich zutiefst seiner selbst, nicht zum ersten Mal in seinem Leben, doch statt mit gewohntem Selbstmitleid viel eher mit ungewohnt selbstkritischer Reflektion garniert.
    "Ach, Vanitas Vanitatum. Wer von uns ist auf dieser Welt ganz glücklich? Wem werden alle seine Wünsche erfüllt? Und wenn sie uns erfüllt werden, sind wir dann wohl zufrieden?"
    Von einem tiefen Seufzen begleitet verschränkte er die Arme vor sich auf dem Tisch und ließ langsam seinen Kopf drauf nieder sinken. Sein Leben war mitnichten schlecht, respektive sicherlich mit eines der besten Leben, welches man im Imperium Romanum leben konnte. Die Magistratur verlief nicht schlecht, seine Quaestur hatte er tadellos hinter sich gebracht, womöglich würde er die Ziele, die sein Erbe ihm auferlegt hatte, ohne größere Probleme erreichen, doch zu welchem Preis? Jeder Tag, der verstrich, machte ihn mehr und mehr zu einem Abbild dessen, was sein Name ihm diktierte, was seine Herkunft von ihm verlangte, doch jeder Tag entfernte ihn mehr und mehr von jener Person, die er im Grunde seines Herzens mit sich trug. Zudem stürzte er immer wieder die Menschen um sich herum ins Unglück, gleichsam mit sich selbst. Der alte Sciurus hatte seine Nähe mit dem Leben bezahlt. Caius, den einzigen Menschen, den er jemals geliebt hatte, hatte er verstoßen, würde er niemals gewähren, was ihm zustand. Claudia Antonia musste um seinetwillen eine Ehe leben, die ihr tagtäglich das Unglück vor Augen hielt, in welcher sie niemals würde glücklich werden können. Und Quintus Tullius - was aus Quintus Flavius Tullius ohne ihn nicht alles hätte werden können, darüber wollte er besser nicht allzu tief sinnieren. Mochte es ein Spiel um Leben und Tod sein, in diesem Falle wusste Gracchus, welche Seite er zu wählen hatte, nicht aufgrund dessen, was sein Name, seine Herkunft ihm diktierten, sondern einzig aus sich selbst heraus.

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  • Weit, weit entfernt hatte längstens Gracchus' Bruder die Villa Flavia betreten, die ersten Schritte auf den Wegen von Gracchus Leben getätigt, um mit jedem Fuß, den er vor sich setzte, mehr und mehr in die Gestalt von Flavius Gracchus zu schlüpfen, es zumindest zu versuchen. Doch in jenem Carcer schien die Zeit quälend langsam zu verstreichen, die Nacht strich über das Weingut, legte den dunklen Umhang über alle Menschen dort und schien den Moment in die Ewigkeit ausdehnen zu wollen. Erst der nächste Morgen durchbrach jene quälenden Augenblick der Endlosigkeit, der stets das Ungewisse zu begleiten schien. Die Sonne strahlte blendend weiß in den Kellerraum hinein, draußen krähte kräftig ein Hahn, immer wieder drangen Geräusche von weiteren Hühnern, Schritten von Menschen, mal das Lärmen einiger Kinder hinab in den Keller. Doch obwohl schon längstens die Sonne an den Himmel gestiegen war, ließen die Wärter von Gracchus in dem kleinen Carcerraum auf sich warten. Erst einigen Stunden nach Morgengrauen ertönten Schritte und schließlich öffnete sich vorsichtig die Tür zum Carcer.
    Dardarshi betrat den Raum, hinter ihm schloss jemand anderes die Tür, der Rigel wurde fest vor das Holz geschoben und verhinderte den Ausbruch von Gracchus, sollte dieser es überhaupt beabsichtigen.
    Auf seinen Armen trug der ,von Narben gezeichnete, Mann ein hölzernes Brett mit einer Schüssel voll mit heißem Weizenbrei mit Honig, dazu warmes, frisches Brot und einem Krug mit Ziegenmilch. Schweigend stellte er das Frühstück auf den groben Holztisch und wandte sich schließlich an Gracchus, verneigte sich mit einem respektvollen Ausdruck. „Guten Morgen, verehrter Flavius Gracchus.“
    Noch während er die Worte sprach, griff Dardarshi in einen kleinen Segeltuchsack und holte einige Schriftrollen hervor, legte sie sorgsam neben das Frühstück. „Ich bin mir sicher, Dir bedarf es nicht nur der Nahrung für den Körper, sondern auch für den Geist.“ Darshi hatte sich die Schriftrollen noch in Rom gekauft gehabt, sie für sein eigenes Vergnügen erworben, und gab sie nun durchaus ohne Zögern an Gracchus weiter. Dazu legte er auch einige leere Papyri und ein Schreibset, was er sich eigentlich für einige Gedichte, die er noch zu verfassen gedachte, aufgehoben hatte. Fragend hob Dardarshi sein Gesicht an und sah zu Gracchus. „Möchtest Du lieber ungestört sein oder darf ich Dir Gesellschaft leisten, verehrter Flavius?“

  • Auch Sciurus bekam in seinem gemütlichen Einzelzimmer mit Vollverpflegung am Abend etwas frisches Wasser mit einem Spritzer Wein, eine Schüssel mit einem nicht näher spezifizierbaren Eintopf und ein Stück Fladenbrot. Er war selten so froh um etwas zu Essen gewesen, nicht etwa da er Hunger verspürte, sondern da es ihn eine Zeit lang von seinen Erinnerungen abhielt. Die Untätigkeit schlug sich weiter auf seine Gedanken nieder, obgleich er versuchte, seinen Kopf zu leeren, krochen die Schatten der Vergangenheit stetig aus den Tiefen ihrer Verbannung hinauf und blockierte ihm den Geist. Es war ein sinnloses Unterfangen, nicht nur, dass Vergangenes immer würde vergangen bleiben, ein Sklave brauchte keine Vergangenheit und Sciurus wollte sie zudem nicht, genügte es ihm doch, diese Tage bereits ein mal durchlebt zu haben. Nachdem das karge Mahl viel zu schnell beendet war, stand er auf und lief durch den Raum, auf und ab, wie eine Raubkatze vor ihrem großen Auftritt in der Arena, ebenso bereit jederzeit denjenigen in Fetzen zu reißen, der es wagen würde, die Käfigtür zu öffnen. Doch niemand kam um die Türe zu öffnen, so fand schließlich denn auch der Sklave inmitten der Nacht seine Ruhe im Schlaf.


    Die wahrhaftige Gestalt des Raumes als Unterkunft der oberen Luxusklasse offenbarte sich dem Sklaven erst am folgenden Morgen, als einige Zeit nachdem er erwacht war ein fahles rotorangefarbenes Schimmern durch den Fensterspalt unterhalb der Decke fiel. Aufgeregt, gleichermaßen erregt schob Sciurus eilig den alten Tisch an die Wand, stellte schließlich das halbe Fass obenauf, kletterte die Konstruktion hinauf und hielt mit Leichtigkeit darauf das Gleichgewicht. Sein Herz pochte schnell, viel schneller als er ihm dies für gewöhnlich selbst in Gefahrensituationen erlaubte, nervös blickte er aus dem Fenster hinaus und als er den schimmernden Halbkreis über den Weinhängen in der Ferne erblickte, kostete es ihn Mühe, nicht laut zu jubeln. Ohne Sciurus' Zutun weiteten sich seine Augen, sein Mund öffnete sich leicht und blieb so in Staunen, während um ihn herum die Welt an Bedeutung verlor.


    Bedächtig, wie eine dicke Schnecke, schob sich der rotfarbene Feuerball langsam über den im Westen sicherlich noch tiefdunklen, doch im Osten um den Strahlenring herum bereits hellblaufarbenen morgendlichen Himmel. Das Rot war unvergleichlich, nicht verlgeichbar mit jeglicher Farbe, welche die Welt preisgab, nicht Gold, nicht Purpur, es hatte nichts von tönerner Erde, nichts vom dunklen Farbton des Opferblutes, auch nichts von menschlichem Blut, nicht die Farbe des Weines, nicht die Farbe des Obstes, ob Kirschen, Melonen oder Beeren, nichts von den Blüten der Rosen, und auch nichts von rotem Gemüse wie Zwiebel oder Radischen. Jene Farbe, welche dort den Himmel bedeckte, durchzogen von Gelb und Orange, gemischt im Farbtopf der Sol, des Helios, des Sol invictus, Ra, Schamasch oder wie auch immer es heißen mochte, jene Farbe war vollkommen und einzigartig, würde es immer sein, immer bleiben, und war doch bereits im Augenblick des Anblickes längst vergangen.


    Sciurus stand auf dem Fass und beobachtete beglückt die Sonne dabei, wie sie die Nacht verdrängte und den Himmel zurück eroberte, und ein erregtes Funkeln brannte in seinen Augen, fast wie die Spiegelung des Feuerballes selbst. Es war Sciurus' siebter Sonnenaufgang. Sieben war eine gute Zahl und er erinnerte sich noch an jeden der sechs vorherig gesammelten noch sehr genau. Er hatte sie in sich bewahrt, detailgetreu, jede Sekunde, jedes einzelne Bildnis, jeden Strahl der sich in seinen Augen sammelte. Es war das einzige, was seine Mutter ihm außer Zorn und Hass hinterlassen hatte, das einzige, was er je von ihr angenommen hatte. Wieder war es der Tag gewesen, an welchem die Wärter sie geholt hatten, jener unbedeutende Tag im Lauf der Welt, an welchem sie an das Kreuz genagelt worden war. Sie hatte nicht nur gesungen an diesem Tag, sie hatte geweint, immer wieder war sie in Tränen ausgebrochen, und Sciurus Empfinden für sie, Ekel und Abscheu, war gestiegen mit jeder einzelnen Träne. Als die Wärter die Türe aufschlossen war sie jedoch verstummt, jedes Geräuscht hatte sich in dem kargen Raum an den Wänden gestoßen, der Schlüssel, welcher sich im Schloss drehte, das Knarzen der Türe, als sie sich öffnete, die Schritte der Männer, welche gekommen waren, sie zu holen. Mit großen Augen hatte Sciurus die Männer beäugt, hatte das Geschehen aufmerksam verfolgt ohne genau zu wissen, was es genau würde bedeuten, und war sich schließlich des Blickes seiner Mutter bewusst geworden. "Bewahre die Erinnerung, Zorn meines Leibes, denn was immer sie dir auch nehmen, die Erinnerung wird dein sein, dein allein für immer." Zorn meines Leibes, Ultor, so hatte sie ihn gerufen, in der Hoffnung, er würde eines Tages den Tod seines Vaters rächen, vielleicht auch in, letztlich begründeter, Befürchtung, dies würde für sie ebenso notwendig sein. Ihr Sohn hatte bereits nach zwei Sommern aufgehört, auf diesen Namen zu reagieren, doch bis zu ihrem Tod hatte sie dies nicht davon abgehalten, ihn zu verwenden. Der kleine Sciurus hatte beobachtet, wie sie seine Mutter fort brachten, die Männer grinsten stupide, bevor sie die Türe schlossen, den Schlüssel drehten und er allein in jenem Raum zurück geblieben war. Doch die Worte seiner Mutter hatten sich ihm zuvor für immer ins Gedächtnis gebrannt, wenn auch vermutlich nicht ganz in jenem Sinne, welchen sie beabsichtigt hatte.


    Sechs Sonnenaufgänge hatte Sciurus seit diesem Tag in seiner Erinnerung aufbewahrt, dies, in jenem kleinen Kellerraum unter einem Weinberg Italias, war nunmehr der siebte. Er genoss ihn in jeder Einzelheit, sog ihn tief in sich auf, konservierte ihn Stück um Stück. Sciurus mochte Sonnenaufgänge nicht nur, weil ihr Genuss führ ihn eine Seltenheit darstellte, er mochte die Farbe der glühenden Sonne, er mochte die Erhabenheit, Gemächlichkeit und Behäbigkeit, mit welcher sie sich von der Erde löste und an den Himmel empor stieg, unbeeindruckt von jeglichem Weltgeschehen, und es stimmte ihn zufrieden, dass diese Sonne jeden Tag aufs Neue die Dunkelheit aus der Welt vertrieb, denn dies war etwas, auf dass man sich verlassen konnte, selbst wenn alles andere zerbrach. Womöglich waren Sonnenaufänge tatsächlich das einzige, was Sciurus in seinem unbedeutenden Leben überhaupt je gemocht hatte.

  • Der Abend brachte keinerlei szenischen oder tänzerischen Darbietungen, keinerlei Musestunden in Wort und Schrift, keine kurzweilige Unterhaltung, geschweige denn ein geruhsames Ausklingen in vertrauter Zweisamkeit. An einer bereitgestellten Schüssel mit eisig kaltem Wasser wusch sich Gracchus und hatte hernach nicht sonderlich viel zu tun in dieser trüben Isolation. Er setzte sich vorerst ein wenig an den Tisch und betrachtete die grobe Holzmaserung, verfing sich in dunklen Astlöchern und den Vertiefungen abgesplitterter Spreißel, irrte durch das Labyrinth der feinen Linierung, vermied dabei jedoch all zu tief in das Labyrinth seiner eigenen Gedanken einzudringen und über den vergangenen Tag zu sinnieren - war dies tatsächlich erst ein einziger Tag? Als das Öl in der Lampe sukzessive zu versiegen begann, erhob sich Gracchus schließlich und ordnete die Decken auf dem Boden, welche augenscheinlich sein Bett für diese Nacht repräsentierten. Doch alles Ordnen und Ausschütteln half nicht dies Lager bequemer zu machen als es denn nur mäßig war, und so gab er dies Unterfangen schlussendlich auf und legte sich nieder. Es dauerte nicht all zu lange, da spürte er bereits den Erdboden unter sich, denn bis auf wenige Ausnahmen hinsichtlich zurückgelegter Reisewege war er durchaus komfortablere Schlafplätze gewohnt. Dennoch führte die beinahe vollkommene Dunkelheit alsbald dazu, dass er in einen tiefen Schlaf hinüberschlummerte. Er träumte von seinem Bruder, welchem zwei konsularische Liktoren voran schritten, und von seinem Vater, welcher ihm mit einem einzigen missbilligenden Blick zu verstehen gab, dass dies der Flavius war, den er gezeugt hatte, bevor er ihn wieder mit Missachtung strafte.

    * * *


    Obwohl auch Gracchus im Allgemeinen eher zu den verweichlichten Patriziern gerechnet werden konnte, so war er nie prätentiös genug, sich selbst gegenüber nicht hart zu sein, gar in öffentliches Wehklagen zu verfallen. Seine Knochen knacksten, als er sich am Morgen erhob, er spürte einen einzelnen schmerzhaft im Schulterbereich, von dessen Existenz er bisweilen nichts geahnt hatte, doch er streckte und dehnte sich nur, erleichterte sich an dem für diesen Zweck bereitstehenden Eimer in der Ecke, wusch sich mit dem abgestandenen Wasser vom Vorabend und ging klagenlos im Zimmer auf und ab, um seinen Körper und Geist in Antrieb zu nehmen. Keine Rasur erwartete ihn, kein Sklave der seinen Körper würde waschen, abstriegeln und ölen, kein langes Einkleiden, kein Weg in die Basilica, keine Pflichten, keine Aufgaben, keine Erwartungen. Verwundert musste er feststellen, dass all diese Gedanken ein Lächeln auf seine Lippen legte, so marginal, dass es kaum zu erkennen war, und doch vorhanden. Das einzige, zu dessen Bedauern er fähig war, war jene Tatsache, dass es ihm trotz des Rollentausches würde verwehrt bleiben Quintus Tullius zu sein. Nur all zu gerne hätte er sich in dessen Umfeld bewegt, dessen Leben erkundet und dessen Person angenommen, so wie jener sein eigenes Leben an sich genommen hatte. Eine Zeit lang blickte er hinauf zum Abschluss der Mauer, hinaus durch das schmale Fenster, durch welches das Licht des aufsteigenden Tages in den Keller drang, hörte dem die Stille verdrängenden Treiben dort draußen zu, zeigte jedoch keinerlei Anstalten, sich in irgend einer Weise bemerkbar machen zu wollen. Als Dardashi das Frühstück brachte, war Gracchus bereits hellwach und bereit etwas zu tun, was auch immer dies sein mochte, inklusive der Bereitschaft ein kleines Mahl zu sich zu nehmen und den vermeintlichen Sklaven in seiner Anwesenheit mehr als nur zu dulden, um etwas über seinen Zwilling zu erfahren, wenn auch nur aus zweiter Hand. Denn obwohl Sklaven allgemein nicht zu den Dingen gehörten, von welchen Gracchus großartig Notiz nahm, so wusste er doch ebenso, dass gerade die Leibsklaven meist mehr über ihre Herren berichten konnten, als deren eigene Familie, da zu jenen oftmals engere Bindungen bestanden, mochten diese körperlicher, geistiger oder auch nur temporärer Natur sein. Darum nahm Gracchus an dem kleinen Tisch Platz und nickte mit einer unscheinbaren Miene zu dem zweiten Stuhl hin.
    "Ich danke dir."
    Interessiert griff er nach der mitgebrachten Lektüre, überflog die ersten Zeilen und legte sie vorerst bei Seite, um sich dem Frühstück und dem Besucher zu widmen. Er tunkte den Holzlöffel in den Getreidebrei und kostete ein wenig davon, befand ihn für zu süß, legte den Löffel neben die Schüssel und wollte sich eben dem Brot widmen, als er stockte. Er blickte den vermeintlichen Sklaven an und haderte mit sich selbst, denn er wollte sich nicht undankbar oder gar überheblich zeigen, indem er das Mahl verschmähte, doch abgesehen davon, dass er für gewöhnlich ohnehin nur äußerst spärlich frühstückte, war sein Geschmack Süßem gegenüber noch nie sehr aufgeschlossen gewesen und er aß selbst die meisten Süßspeisen bei größeren Banketten nur äußerst widerwillig, wenn denn keine Alternative geboten wurde. Entschlossen griff er schließlich nach dem Brot.
    "Erzähle mir etwas über meinen Bruder. Wie lange dienst du ihm schon? Wie verbringt er für gewöhnlich, ... nun, ich meine vor dieser ganzen Causa, wie verbrachte er seine Tage? Welcher Tätigkeit geht er nach? Was für ein Mensch ist er, abgesehen von seiner skrupellosen Spielernatur?"

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  • Eine kleine Nuss kullerte in eine erdiges Loch, der Wind strich über die dunkelbraune bis gräuliche Erde, wehte eine kleine Staubfahne in die Höhe, wirbelte umeinander und bildete aus einigen alten und trockenen Blättern eine kleine Windrose, zu klein, um sogar einem einzelnen Strauch zu schaden und zu sanft, um nicht schon von der nächsten Windböe, die über die Berge strich, zerstoben zu werden. Ein kleines Mädchen in einer braunen, kurzen Tunica erhob sich, rannte zu dem Loch und griff mit ihren zierlichen Händen nach einer Reihe von Haselnüssen, die ihr als Murmeln dienten. „Gewonnen!“ krakelte das kleine Mädchen und lief zu ihrem Bruder zurück. Kinderlachen mischte sich in den Wind, der dies bis hinab in den Keller trug.


    Im Dämmerlicht, dem ewige Zwielicht, was in dem Keller herrschte, verriet nichts von dem strahlenden Frühlingstag, der mit voller Pracht sich über die atemberaubenden Täler um das Weingut herum ergoss.
    Ein einzelner hölzerner Stuhl kratzte über den steinigen Boden und Dardarshi nahm vorsichtig, hinsichtlich seiner alten Verletzungen immer noch sehr gehemmt, Platz. Keine Unfreundlichkeit war auf seinem Gesicht abzulesen, jedoch eine gewisse Vorsicht, aber auch Respekt gegenüber Gracchus, denn Dardarshi hatte schnell gemerkt, dass er gegenüber Gracchus, dessen Genius durchaus sehr ausgeprägt war, eine gewisse Sorgsamkeit in seiner Wortwahl angebracht war, um ihn weder zu kränken, noch die Situation im Allgemeinen mit Quintus Tullius zu verschlimmern. So kamen ihm die Fragen von Gracchus nicht sonderlich recht, er schwieg einige Atemzüge und dachte über die Formulierungen nach. Kein Honigbrei am nächsten Morgen, das war noch eine geistige Randnotiz, die sich Dardarshi machte ehe er zu einer Antwort ansetzte.
    „Mein Herr, ich diene nicht Quintus Tullius und habe das auch nie getan. Es sind freundschaftliche Bande, die mich dazu bewegen, seinen Allüren Unterstützung zu gewähren. Außerdem auch die Verpflichtung, dass mein Leben vor dem Tod durch seine Hand entronnen ist. Eine Pflicht, die tausend Mal schwerer wiegt, als jede Sklavenkette es vermag.“


    Außerdem war Dardarshi, nebst seinem Ehrgefühl als Parther, auch noch ein Anhänger des orientalischen Sonnengottes und somit einem Schwur und einem Versprechen noch sehr viel mehr unterworfen und verpflichtet. Doch bis auf einem sanften Lächeln, was sein narbiges und verunstaltete Wangen bewegten und seine mehr dicklichen Lippen aufwölbten, zeigte er nichts von seinen wahren Gedanken dazu.


    „Seine Tage verbrachte er auf einem Schiff. Ich habe Deinen Bruder an den Ruderbänken der Classis kennen gelernt. Das ist schon viele Jahre her, was er vorher getan hat, kenne ich nur aus Erzählungen. Aber seit seinem ersten Tag bei der Classis saßen wir Seite an Seite, ich damals Gefangen von den Männern Deines Volkes und er als Freier genauso angekettet, wie alle Soldaten der Classis auf jenem unsäglichen Schiff. Später hat er dann ein eigenes Schiff befehligt, bis es vor einigen Wochen leider im Sturm versunken ist. Wir sind Beide knapp mit dem Leben davon gekommen.“


    Natürlich verschwieg Dardarshi bei den ersten Sätzen über Tullius die wahre Natur seines Kommandos auf dem Schiff und warum sie gesunken waren, aber Dardarshi wollte Gracchus die Zeit geben, Stück für Stück zu begreifen und die Vergangenheit zu erahnen. Außerdem durchzuckte ihn abermals eine seelische Pein als er an die Nacht des Sturmes sich entsann.


    „Seine Spielernatur hatte er schon vom ersten Tag an, wo ich ihn kennen gelernt habe, doch mit den Jahren ist sie immer ausgeprägter geworden. Doch ich kenne ihn als einen sehr entschlossenen Mann, mir gegenüber hat er stets sein Wort gehalten, wenn er es gibt, dann bricht er es nicht. Es sei denn, er sieht es als Kriegslist an. Er ist es gewöhnt zu befehligen und zu führen.“


    Ein wenig von der Erde über dem Kellerloch rieselte hinab als sich eine kleine Gestalt an das Fenster beugte, Schatten tanzten auf dem Boden und schnell verschwand die kleine Person von der schmalen Fensterlücke hoch oben im Keller.


    „Er ist stets zu allem entschlossen gewesen, vielleicht mag er das eine oder andere Mal schon gezaudert haben, doch wenn er sich zu einem Entschluss durchgerungen hat, dann hat er diesen stets bis zum Ende verfolgt. Er kann sehr grausam und kalt sein, womöglich will er jedoch nur so wirken, doch davon solltest Du Dir besser selber ein Bild machen. Nur solltest Du ihn nicht unterschätzen. Und auch nicht, was sein Tun für ein Schatten auf Dich werfen könnte.“

  • Der laue Wind trug das Lachen eines Kindes in den Keller hinab und beinahe hätte Gracchus glauben können, er befände sich im Vorrats- und Weinkeller neben dem Carcer der Villa Flavia, denn nicht selten war auch im Garten der Villa das Kinderlachen Serenus' und seiner Spielgefährten zu hören, obgleich jener viel besser daran getan hätte, sich seinen Studien zu widmen, statt die Tage im Garten zu vertun. Doch auf der anderen Seite konnte Gracchus' Neffe natürlich nichts für jene deplorablen Umstände, war es doch sein Onkel, welcher sich unfähig dazu sah, ihm einen geeigneten Lehrmeister beizuschaffen. Doch selbst, da Gracchus bisweilen äußerst häufig über seine Unfähigkeiten nachsann, da sie sich augenscheinlich äußerst häufig offenbarten, selbst ob dieser Tatsache dachte er in diesem Augenblick im Keller unter dem Weinberg nicht über solcherlei nach, sondern war mit seinen Gedanken ganz bei seinem Zwilling und dessen Gefährten. Die Erwähnung der freundschaftlichen Bande zwischen dem Parther und seinem Bruder verwunderte Gracchus doch ein wenig, doch die Ehrenschuld des Dardashi trug wiederum zu seinem Verständnis bei, weswegen er ein unscheinbares verständiges Nicken zeigte.
    "Er war also Kommandant bei der Classis? Bei der Misenensis? Nauarchus oder Tribunus?"
    Ein marginales Lächeln kräuselte seine Lippen.
    "Dies erklärt zumindest, warum er mir bisher in Rom nicht aufgefallen ist. Doch trotz allem scheint es mir noch immer so unglaublich, dass wir beide völlig aneinander vorbei lebten, dass wir gleichsam zwei Leben lebten ohne jegliche Verbindung, ohne das Wissen umeinander. Natürlich ist die Ausdehnung des Imperium gewaltig und womöglich sollte ich froh sein, dass die Möglichkeit besteht, dass er dorthin zurückkehrt, wo er hergekommen ist und wir weiter so leben wie zuvor, dennoch ist der Gedanke mehr als faszinierend."
    Ein Schatten drang in den Keller ein, flackerte durch das sonnengeflutete Rechteck auf dem Kellerboden und verschwand außerhalb der Sichbtbarkeit. Gracchus jedoch bemerkte ihn nicht einmal, denn er war weiterhin ein Gefangener des Quintus Tullius, nicht nur körperlich. Entschlossen, ehrvoll, doch gleichsam grausam und kalt - Quintus kam viel mehr nach ihrem Vater als er selbst. Ob Vespasianus sich zu seinen Lebzeiten manches mal gefragt hatte, wie sein zweitgeborener Sohn - denn Gracchus war sich sicher, dass Tullius der erste von ihnen beiden war - wohl geworden wäre?
    "Welch eine Schande, welch deplorable Wirrung des Schicksals."
    Nachdenklich sprach Gracchus diese Wort aus, nicht für Dardashi und auch nicht darüber sinnierend, dass sie für jenen völlig aus dem Zusammenhang gerissen waren. Er hob die Hand zu seinem Mund und begann seine Unterlippe zu kneten, über seinen Schatten nachdenkend, über Tullius' Schatten nachdenkend. Nach einer Weile ließ er die Hand sinken und blickte den Freund seines Zwillings an.
    "Ich ... wir ... hatten einst einen weiteren Bruder, um einiges älter als Quintus und ich. Er sollte der Stammhalter der Familie werden, er war der Stolz, der Erbe und die Zukunft. Doch er ließ die Familie hinter sich, schloss sich den Christen an, gab sein Leben dafür hin und verstarb schließlich irgendwo im Osten. Ich zürnte ihm lange dafür, denn er hinterließ mir nicht nur die Verpflichtung seiner Zukunft, sondern gleichsam die Verantwortung über unsere Familie, und dennoch war auch er ein Teil dieser Familie. Du magst dies nicht verstehen und Quintus mag es ebenso wenig verstehen, doch in all diesem Leben zwischen Trug und Schein, zwischen Macht, Geld, Gier und Villen, zwischen Politik und Einfluss, Öffentlichkeit und Ehre, dort gibt es wenig, was es sich für einen Menschen persönlich zu schützen, zu bewahren und zu pflegen lohnt. Die Familie gehört hier hinzu. Wäre Quintus ein Bastard meines Vaters, womöglich würde ich ihm aus Pflichtgefühl einen Obolus zukommen lassen, womöglich würde ich seine Existenz völlig ignorieren. Doch er ist, er war nicht nur anerkannter Sohn des Flavius Vespasianus, er ist zudem familiär enger mit meiner Existenz verwoben, als irgendeine Person dies sein könnte. Er mag einen Schatten über mich ausbreiten, doch ich kann ihm dies nicht verwehren. Ich kann es nicht. Was er auch tut, es wird sein angestammtes Recht sein, und wenn er tatsächlich so entschlossen ist, wie du sagst, und daran zweifle ich nicht, und sein Streben bis zum angedrohten Ende erfolgt, so wird es enden wie Rom begonnen hat. In diesem Falle brauche ich mir ohnehin keinerlei Gedanken darüber zu machen, welche Schatten er wirft, denn im Elysium scheint keine Sonne, dort gibt es auch keine Schatten."
    Es war merkwürdig dies auszusprechen und eine seltsame Ruhe legte sich über Gracchus. All die Geschehnisse der vergangenen Wochen wurden in diesem Augenblick so völlig unwichtig, marginal, beinahe nichtig, denn im Anblick des eigenen Endes war das tägliche Treiben des Lebens, die Entführung seiner Schwester, der Paedagogus seines Neffen, das verlorene Vermögen seiner Gattin, dies alles war völlig bedeutungslos, denn das Leben würde weitergehen. Das Leben würde immer weiter gehen, was auch geschah, wie sehr man sich darum sorgte, wie sehr man es ignorierte und wie viele Gedanken man sich auch darum machen würde. Es gab nur eine einzige Tat in seinem eigenen Leben, welche Gracchus bedauern würde nicht getan zu haben, doch diese würde er auch bedauern, wenn er noch hundert Jahre und älter würde werden, denn er würde niemals zulassen können, dass dies geschah, so sehr er sich auch danach sehnte.
    "Im anderen Falle bleibt mir einzig zu hoffen, dass die Scherben, welche er hinterlassen mag, groß genug sind, um das Gefäß zu kitten. Dies mag uns unterscheiden, doch es scheint mir, dass die Parzen für den Nachkommen unseres Vaters nur eine Portion unumstößliche Entschlossenheit festlegten und als die Natur sich entschied, ihm gleich zwei Söhne zu schenken, so konnte nur auf einen von beiden dies übergehen. Du magst mich nicht kennen, doch da du ihn kennst, weißt du nun, woran es mir in meinem Leben schon immer am meisten mangelt. Ich kenne ihn nicht, doch da ich mich kenne, soweit es einem Menschen vergönnt ist sich überhaupt selbst zu kennen, so weiß ich nun endlich, wo all diese mangelnde Entschlossenheit geblieben ist, die in meinem Vater doch so reichhaltig vorhanden war. Mag es eine Schwäche sein, doch was würde es nun noch nützen, sie versuchen zu leugnen?"

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  • Während in Rom der Wolf unter der friedlichen und kultivierten Maske von Manius Flavius Gracchus seine Untriebe beging, bis jetzt zeigten sie sich noch nicht all zu schlimm, war davon auf dem Gutshof in den Bergen fern von Rom kaum zu spüren. Idyllisch und warm liebkoste die Sonne das Land, die Kinder tollten weiter hin vergnügt auf der Oberfläche. Nur in den tiefen Kellerlöchern, in denen zwei gefangene Männer, einer ein Sklave und ein anderer ein edler Patrizier, der langsam den Gipfel seiner Macht erklimmen wollte und dem Senat entgegen strebte, wussten und ahnte um das, was in der Villa Flavia wohl vor sich gehen konnte.


    Wie ein Beichtvater seinem Schützling, ein Priester seinem verlorenen Schaft, lauschte Darshi den Worten des Flaviers, des edlen Patriziers, der so unpassend zu seiner Herkunft gefangen gehalten wurde und nun die raue Tunika eines Landsklaven trug. Darshi, der Gracchus aufmerksam musterte, durchfuhr den Gedanken, dass ein Patrizier und ein Sklave wenig zu trennen vermochte, wenn man den äußeren Schein entfernte. Natürlich blieb immer noch das Verhalten übrig, selbst wenn ein Patrizier nackt war, welches ihn noch von dem Unfreien abhob, doch der erste Blick würde Gracchus nicht mehr als das offenbaren was er war, ein reicher Flavier.


    „Nein, er war kein Trierarchus oder ein Tribun, bei weitem nicht. Er hat das Schiff der Classis entrissen und wir sind als Piraten über das Meer gesegelt. Er hat Sklaven, Räuber und Diebe kommandiert, er hat gemordet, gebrandschatzt, gestohlen und die Classis immer wieder an der Nase herum geführt, bis es eines Tages nicht mehr gut ging. Und so führte das Schicksal uns nach Rom und zu Dir. Oder Dich zu ihm?“
    Darshi seufzte leise und dachte noch mal über Gracchus viele Worte nach, worin er seinem Bruder doch gänzlich unähnlich war, denn dieser hatte selten die Angewohnheit etwas aus seinem Inneren preis zu geben. Und Gracchus schien sich, sein Leben, seine Art vor ihm rechtfertigen zu wollen. Dennoch hob sich das Ansehen des Flaviers in Darshis Augen, denn die Schweigsamkeit und die Verschlossenheit war kein Zug, den er an Tullius sonderlich zu schätzen wusste.
    „Mir scheint, Du warst vor kurzem das erste Mal in einer Insula in der Subura oder überhaupt in jenem Viertel. Selbst wenn Du und Tullius in Rom zur selben Zeit aufgewachsen wäret, hätte ihr euch vielleicht niemals begegnen können. Doch er ist schon seit gut zehn Jahren Rom fern geblieben und war die letzten Jahre nur auf den Meeren als Pirat zu finden. Ich glaube kaum, werter Flavius, dass die Diebe des Meeres der Kreis Deiner Bekannten sind.“


    Nachdenklich drehte Darshi den Becher in seiner Hand und stellte ihn auf das Holzbrett zurück.
    „Tullius wird es noch vermögen Dich vielleicht zu überraschen, sind die Dinge doch nicht immer so, wie sie sich zeigen. Wie Du! Meinst Du wirklich, es wäre gut einen Mann wie Tullius an der Macht zu wissen. Sicherlich ist er entschlossen und skrupellos genug, um dies, als Flavier mit Sicherheit, zu erreichen, dennoch wäre es eine Katastrophe. Ihm fehlt die Weitsicht, die Du besitzt. Und auch die Weisheit gefunden in dem Schatz der Bildung. Nicht ohne Grund spricht Platon davon, dass die Philosophen die Geschicke des Staates lenken sollen. Nicht die Krieger. Und ein solcher Philosoph bist Du, Flavius Gracchus. Und deswegen musst Du dafür sorgen, dass die Verantwortung in Deiner Hand liegt und Du darfst sie nicht Quintus Tullius überlassen. So ungern ich das sage, schließlich ist er mein Freund, aber er würde Deiner Familie sehr schaden und die Scherben würden nicht mehr zu kitten sein, wenn Du ihn nicht aufzuhalten vermagst. Ich kann es nicht, da mein Versprechen und meine Freundschaft mich binden, aber den Rat will ich Dir geben. Zudem: Unterschätze ihn und seine Grausamkeit nicht, er schreckt vor keinem Mord zurück!“
    Darshi stand auf und neigte höflich den Kopf.
    „Wenn Du mich nun entschuldigst, werter Flavius. Und verzeih mir noch mal die Unannehmlichkeiten, die Du hast. Es wird sicherlich nur ein paar Tage währen, so gut kenne ich meinen Freund durchaus.“
    Das Bein nachziehend verließ Darshi wieder den Raum und ließ Gracchus zurück.


    Stille herrschte die nächste Zeit, kein Kinderlachen, kein Tollen war zu hören, welche nur unterbrochen wurde von dem Herbeischaffen des Essens, was Gracchus von einem schweigsamen Darshi in den Carcer getragen wurde, der sich nicht noch mal zu einem längeren Gespräch hinreißen ließ. So vergingen die Stunden, die Nacht brach herein und auch die nächsten Tage strichen ins Land. Am vierten Tag nach der ersten Nacht im Carcer öffnete sich die Tür abermals quietschend und Darshi trat hinein. Sein Gesicht war noch verschlossener als sonst, dennoch schien er sehr unglücklich zu sein. In seinen Händen trug er einen groben Sack und ein Seil.
    „Werter Flavius, ich muss euch bitten, eure Hände auf den Rücken zu legen, zudem werde ich euch den Sack über den Kopf ziehen müssen, damit ihr nichts mehr sehen könnt. Es wird nur von kurzer Dauer sein, das verspreche ich euch!“

  • Es war jenes einzelne Wort, welches Gracchus bis in seine Grundfeste hinein erschütterte. Zwar war er bereits in den letzen Tagen durchaus des Öfteren erschüttert worden, und dass er überhaupt noch stand, verdankte er nur der Härte seiner Erziehung, doch gänzlich spurlos war all dies bereits nicht an ihm vorüber gegangen, so dass sein Gemüt sicherlich schon ein wenig labil war. Doch jenes eine Wort, die Eröffnung über die Profession seines Zwillings, die Ernsthaftigkeit, mit welcher der Parther dies aussprach, die Beiläufigkeit, mit welcher er Mord und Totschlag erwähnte, dies führte dazu, dass sich das Wort Pirat in Gracchus' Kopf niederschlug wie Volcanus' Hammer auf den Amboss. Doch es war weniger Bestürzung, war weniger Entsetzen, welche von Gracchus' Besitz ergriffen und die Contenance ihm raubten, es war tiefes Bedauern, grenzenloser Kummer, endlose Traurigkeit und unermessliche Enttäuschung, welche sich schwer und drückend über ihn legten wie ein Leichentuch. Seine Schultern sanken herab und es schien als würde sein gesamter Körper gar in sich zusammen fallen, sein Mund öffnete sich ein wenig im Ansinnen des Protestes, musste doch auf halber Strecke kapitulieren und blieb einen Spalt weit offen stehen, während die Worte Dardashis an Gracchus vorüber zogen. Sein Blick ging am Freund seines Bruders, am Freund eines Piraten, vorbei, suchte den Boden, einen Punkt sich daran festzuhalten, einen Halt. Ein Pirat. Quintus Tullius war ein Pirat. Sein Bruder war ein Pirat. Sein Zwilling. Was war schlimmer, der Pontifex Maximus der Christen oder ein Pirat? Der eine brachte die Menschen um ihren Verstand, der andere um ihr Leben. Lag es im Blut? War dieser Wahnsinn in ihren Wurzeln begründet? Würden auch Lucullus und er auf ähnliche Weise enden? Ein Pirat - weshalb nicht einfach ein Tagelöhner, Arbeiter, Bauer oder Handwerker, ein Mann der einfacher, doch ehrlicher Arbeit nachging? Warum, bei allen Göttern, ein Pirat, ein Gauner und Mörder, der sich über die Gesetze des Imperium Romanum, über die von den Göttern gegebenen Gesetze hinweg setzte, über alles, an was Gracchus je geglaubt hatte? Keine Ehre, keine Pflichterfüllung, keine Tugenden, nur ein Pirat. Er teilte sein Antlitz mit einem Piraten. Er teilte seine Wurzeln mit einem Piraten, seine Geburtsstunde, seine Familie, seine Herkunft. Ein Pirat war noch weitaus schlimmer als ein Christ. Animus mochte den Verstand verloren haben, doch Quintus Tullius hatte bewiesen, dass der seine äußerst scharf arbeitete. Die Worte des Parthers über die Katastrophe Quintus Tullius rauschten durch Gracchus' Ohren, Worte über fehlende Weitsicht, Philosophen und Krieger, das Drängen ihn aufzuhalten. Er musste seine Familie schützen, zweifellos hatte Dardashi Recht, doch wie sollte er, Manius Flavius Gracchus, wie sollte er gegen einen Krieger etwas ausrichten, er, der er noch nie in seinem Leben irgend einen Kampf gewonnen hatte, er, der er keiner Fliege etwas zu Leide tun konnte, außer sie war als Opfer für die Götter bestimmt, er, der er im Hinblick auf Konfrontation lieber den Rückzug antrat, als der Schlacht entgegen? Wie hatte er nur so töricht sein können, so blind vor Freude über den verlorenen Zwilling? Er hatte seine Familie einem Monster ausgeliefert, nicht einem Bruder, keine moralische Pflicht band ihn noch, keine familiäre Pflicht. Womöglich würde er zurückkehren in eine Villa voller Leichen, so denn er überhaupt zurück kehren würde. Er hatte diesem Mann sein Leben gegeben und das seiner Familie obendrein. Dardashi hatte den Raum längst verlassen, als Gracchus sich erhob, zu dem schmalen Fenster hin trat und mit leerem Blick in den so trübe scheinenden Tag hinausstarrte.
    "Warum, ihr Götter? Wie konntet ihr dies nur geschehen lassen? Warum gebt ihr mir Brüder, nur um sie hernach aus meinem Herzen zu reißen? Warum ...?"
    Kälte umfasste seine Glieder, doch eine Antwort blieb aus, einzig Stille residierte neben ihm in dem leeren Keller, umschlang ihn mit ihren Armen wie ein tröstender Freund. Gracchus reagiert nicht auf das Essen, welches der Parther später am Tag brachte, denn wie sollte er noch einen Bissen herunter bringen? Am Abend saß er auf dem Lager aus Decken, eine davon fest um seine Schultern geschlungen, starrte in die Dunkelheit hinein und versucht den Schlaf aus seinen Gliedern zu vertreiben, denn schloss er die Augen, so sah er nur ein einziges Bild vor sich, den Körper des toten Sciurus vor dem Landhaus auf Creta, die dunkelrotfarbenen Tropfen des Blutes auf seinem Rücken, das matte Glänzen des Messers, doch lag der Körper nicht auf Creta, sondern im Hof der Villa Flavia zu Rom, war zigmal vervielfacht und trugt nicht den Kopf eines Sklaven, trug an dessen Statt den Kopf seiner Familie, Caius' Kopf, Leontias, Serenus', Minervinas, Aristides', Arrecinas, Lucullus', selbst Furianus', Milos und Felix', nicht zuletzt Antonias. Über all dem stand ein Mensch mit dem Kopf eines Wolfes oder Schakales, ähnlich dem ägyptischen Gott Anubis, doch gleich Ianus zeigte sich sein zweites Gesicht, sobald der Mensch sich drehte und dies war Gracchus' eigenes Gesicht, verzerrt zu einem höhnischen Lachen, Quintus Tullius' Gesicht. Irgendwann übermannte Gracchus der Schlaf, doch auch in den kommenden Tagen fand er keine Ruhe vor dem rastlosen Piraten, der sich wieder und wieder seiner Familie bemächtigte, sie in seinen Abgrund riss und letztlich zurückkommen würde, um mit Gracchus den letzten seiner Familie auszulöschen. Als der Parther mit Sack und Seil kam und seine Bitte äußerte, starrte Gracchus entgeistert auf das Material. Tief in seinem Inneren wusste er, dass er einen Plan brauchte, denn nicht alle Schlachten wurden mit dem Schwert geschlagen und es gab sicherlich durchaus die Möglichkeit, Quintus Tullius mit den Waffen des Geistes zu schlagen, doch Gracchus fehlte seit dem Wissen um die Piraterie des Tullius' jegliche Ruhe und Muse, sich jedweden klaren Gedanken zu widmen. Gravitas und Severitas waren Tugenden, doch gerade in jenen Situationen, in welchen sie am notwendigsten waren, hatte Gracchus sie noch nie zu den seinigen zählen können, allzu schnell verlor er seinen Kopf, vor allem dann, wenn es um die Familie ging. Widerstandslos legte er seine Hände auf den Rücken, versuchte gleichsam das Zittern daraus zu vertreiben, und presste die Augen zusammen, als der Parther den Sack über seinen Kopf zog. Er musste sich zusammenreißen, er musste an Caius denken, an die Familie, denn womöglich war nicht alles zu spät.

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  • Der Wagen polterte ruckelnd über einen groben Feldweg. Die Sonne brannte heiß auf die Männer hernieder, die auf dem Wagen saßen. Es war Dardarshi, der schweigsam seine Hände gefaltet hielt und starr auf die schroffe und bergige Landschaft sah, dann ein einfacher Landarbeiter, dem egal war, was für eine Fracht er dieses Mal kutschierte und ein Gracchus, der einen Sack über den Kopf gezogen trug. Gefesselt und ohne Sicht war Gracchus aus dem Weingut heraus geführt worden, damit er das Haus nicht sehen und den Besitzer gar wieder erkennen würde. Das hatte Tullius seinem ehemaligen Piratenfreund versprechen müssen, der lange Zeit auf seinem Schiff gedient hatte. Die Grillen zirpten idyllisch und verstummten kurzweilig, wenn der Wagen an ihren trockenen Grashalmen vorbei fuhr und Steine in das Gebüsch schleuderte. Obwohl es noch am Vormittag war, zeigte sich der Tag doch schon mit der italischen Hitze, die vielleicht auch für diese Gegend untypisch war, dennoch lastend auf den Männern und den beiden Ochsen, die das Gefährt zogen, hernieder drückte.
    Ein Greifvogel zog geschmeidig seine Bahnen am zartblauen Himmel, der von keiner einzigen Wolke getrübt wurde, ebenso wenig vermochte dies dem Land Schatten darzubieten. Auf den Hängen wuchsen über und über Olivenbäume, die die Bauern dort in Anbetracht der Lukrativität in Abwechslung mit den Traubenhängen angepflanzt haben. Silbriggrün schillerten die Blätter in dem Spiel mit dem Wind, der mal die hellere Unterseite, dann die Dunklere offenbarte und dem kargen und ockerfarbenen Land den Hauch von lieblicher Lebendigkeit und spartanischer Schönheit verlieh.
    Einige Grashalme wehten im Zusammenspiel mit den Olivenbäumen hin und her. Der Wagen fuhr beständig weiter. Stunde um Stunde, bis die Sonne den Zenit überschritten hatte und noch gnadenloser herunter strahlte.
    Dann blieb der Wagen stehen und Dardarshi kletterte auf den Wagen zu Gracchus und fing an seine Fesseln zu lösen, zog dann schließlich auch die Kapuze herunter. Immer noch mitten im Gebirge befand sich der Wagen. Karge Felsen ragten zur Rechten auf, eine schwarz glänzende Ziege starrte auf die Männer hinab, ehe sie ungerührt einige trockene Halm ergriff und mit ihren robusten Lippen an einem dornigen Busch kaute. Zur Linken erstreckte sich ein großes Feld aus roten, strahlenden Mohnblumen, die gemischt mit leuchtend blauen Kornblumen sich einem Ozean gleichend aus Rot und Blau im Wind hin und her neigten.
    Dardarshi warf Strick und Sack zur Seite und holte einige Münzen hervor, die er auf der flachen Hand Gracchus hinreichte, ob er sie nun nahm oder nicht.
    „Quintus meint, Du sollst Dich selber nach Rom durch schlagen. Dein Sklave wurde woanders frei gelassen, Du musst Dir also bezüglich seines Weiterlebens keine Sorge machen.“
    Stur hatte Tullius darauf beharrt, dass alles nach seinem Willen geschah. Gracchus sollte es selber schaffen, wieder nach Rom zu kommen und das ohne Hilfe von Sciurus. So wurden Beide in gänzlich anderer Richtung ausgesetzt und auch so, dass sie sich nicht auf halber Strecke begegnen könnten. Zudem wurde Gracchus nur die einfachen Sandalen und Tunica eines Landsklaven, die er am Leib trug, überlassen, die wenigen Asse waren ein Zugeständnis, was Tullius auf Dardarshis Drängen hin bewilligt hatte. Aber so würde Gracchus immer noch einen sehr beschwerlichen Weg zurück haben.
    Darshi wartete bis Gracchus vom Wagen gestiegen war und kletterte wieder auf den Kutschbock hoch und nickte Gracchus zu.
    „Viel Glück. Und denkt an meine Worte, werter Flavius. Möge Mithra Dich schützen.“
    Schon rumpelte der Wagen davon, war kurze Zeit später hinter der nächsten Felsnase verschwunden und einen Augenblick danach war das Geräusch der Wagenräder nicht mehr zu hören. Nur der Schrei des Adlers tönte vom Himmel und das Zirpen der Grillen ertönte wieder, vielleicht auch das Grollen eines wilden Tieres?

  • Dass die Sonne unbarmherzig auf das Land hinab brannte, dies bemerkte Gracchus nicht erst, als der Sack von seinem Kopfe entfernt war und die hellen Strahlen des Himmelsgestirns ihn blendeten. Bereits die gesamte Fahrt über war es ihm heiß und stickig gewesen, so dass er nun aufatmete, wenn auch nicht über sein Schicksal, so doch über die frische Luft erleichtert, welche er tief in seine Lungen sog. Worte für Dardashi, den Freund des Piraten, fand er keine. Lange blickte er dem davonziehenden Wagen nach, stand unschlüssig mitten auf dem Weg in der Einsamkeit und ließ die Sonne weiter auf sich herab scheinen. Er war kein Mann, der Hass empfinden konnte, denn für solch abgründig, hartes Gefühl war er viel zu feinfühlig, doch jene Empfindung, welche er in diesen Augenblicken seinem Zwilling Quintus Tullius entgegen brachte, diese kam nahe an die des Hasses heran. Schließlich jedoch seufzte er jeglichen Affekt hinfort und begann, einen Fuß vor den anderen zu setzen, immerhin stand er auf einer römischen Straße und früher oder später führten alle Wege nach Rom. Und er würde Rom erreichen. Quintus Tullius hatte ihn diesbezüglich unterschätzt, denn Gracchus hatte schon einmal einen Weg ohne alles zurückgelegt, mit nichts als dem Gewand am Leib hatte er die Flucht angetreten, selbst das Gewand hatte er später gegen einfachere Kleidung eingetauscht, um dem Blick seiner Häscher zu entgehen. Zwar hatte er damalig den flavischen Siegelring getragen, doch er hatte bald bemerkt, dass auch ein Siegelring in gewissen Kreisen nicht alle Türen öffnete, dass andererseits ein Patrizier jedoch immer ein Patrizier blieb, gleich, ob er einen Halbmond an seinen Schuhen trug, oder selbst mit bloßen Füßen kam. So blieb er denn auch an diesem Tage ganz seinem Stande treu, ging hoch erhobenen Hauptes die Straße entlang, ließ sich nur marginal von seiner Furcht, in dieser Einöde zu vergehen, überwältigen und blickte nur immer dem ungewissen Ziel in der Ferne entgegen. Er trug sich eine Weile mit dem Gedanken in der nächsten Stadt zu einer der offiziellen Stellen zu gehen, dortig einen Überfall anzugeben, wie er alle Tage lang auf den Straßen des römischen Imperium stattfinden mochte, ein Raub womöglich, man würde zumindest seinen Angaben nachgehen, mit Rom in Kontakt treten. Doch was, wenn Quintus Tullius bereits völlig Manius Flavius Gracchus annektiert hatte, wenn er vollends Manius Flavius Gracchus war? Man würde erfahren, dass der Vigintivir in Rom seiner Arbeit nachging oder in seiner Villa saß und ihn, den wahrhaftigen Besitzter dieses Namens, dieser Person, für einen Hochstapler halten. Diese Idee war darum nicht wirklich geschickt, er musste allein nach Rom gelangen. Es war tatsächlich ganz wie damals, als er Achaia fluchtartig verlassen hatte und aus Furcht, dass seine Häscher ihm auf die Spur kommen würden, nirgendwo seinen Namen genannt hatte. Nur, dass es ihn bei diesem Male nicht eilte, um sein eigenes Leben zu retten, sondern womöglich das seiner Familie, wenn es hierfür nicht bereits zu spät war. Irgendwo in der Ferne grollte ein Wesen, welches Gracchus an seinem Laut nicht einmal konnte identifizieren, geschweige denn ihm näher kommen wollte, um dies an seiner Erscheinung zu tun. Nicht nur in dieser desperaten Lage stand es einem Menschen gut zu Gesicht, sich den Göttern anzuvertrauen, doch gerade in solch einer desperaten Lage mochte es helfen, etwas zu geben, so dass die Götter im Gegenzug gaben. Gracchus wusste nichts mehr zu geben, dennoch wandte er sich dem Himmel zu.
    "Was, Iove, kann ich dir noch bieten, da ich dir mich längst offeriert habe? Was, höchster aller Götter magst du noch von mir verlangen? Den Dienst meiner Söhne? Wie, oh Iove kann ich dir meine Söhne versprechen, deren Herannahen sich nicht einmal abzeichnet, wie kann ich dir Leben versprechen, das ich womöglich nicht zu geben befähigt bin? Oh, Iove, wie lange willst du mir noch mein Versagen nachtragen?"
    Unbeeindruckt zirpten die Grillen am Wegesrand, unbarmherzig brannte die Sonne herab, desinteressiert zog der laue Wind durch das Land, bewegte Blätter und Gräser in seichtem Schwung, nichts tat sich, um anzuzeigen, dass die Götter auch nur ihren Blick auf jenen verlassenen Landstrich gerichtet hatten.
    "Länger noch, als dieser Tage wohl."
    Tief aus Gracchus' Innerem bahnte sich ein exorbitantes Seufzen seinen Weg hin an die Oberfläche, drängte durch seine Luftröhre und wollte sich schließlich vergnügt in einem lauten Ausatmen Luft machen - denn was nützte noch, die patrizische Strenge hoch zu halten, wo doch dies Umland, die ganze Szenerie, selbst seine eigene Erscheinung so wenig patrizisches an sich hatten - doch Gracchus schluckte dies Seufzen verärgert nieder, noch bevor es aus seiner Kehle entwichen konnte. Mochte Quintus Tullius seinen Hohn über ihm ausgießen, er würde nicht erreichen, dass sich Manius Flavius Gracchus vor sich selbst erniedrigte, nicht in dieser von den Göttern verlassenen Einöde und nicht sonst irgendwo auf der Welt.
    "Was glaubst du wohl, wer du bist, Quintus?"
    rief Gracchus zornig den Bergen entgegen.
    "Was soll das für ein Spiel sein? Was hast du davon, dass ich mich hier durch die Prärie schlage während du dich in Rom vergnügst? Hältst du dich für einen Gott, der dies von oben herab begutachten kann? Du bist ein Nichts, Quintus Tullius, ein medioker Gauner und dies wirst du immer sein! Die Götter wussten, warum sie dich meiner Familie entzogen! Denn einer wie du, einer wie du kann niemals ein Flavier sein! Niemals!"
    Er hob die Faust und drohte gegen die Berge, doch Quintus Tullius zeigte sich nicht. Energischen Schrittes setzte Gracchus seinen Weg fort, denn er würde sich nicht von einem minderwertigen Piraten unterkriegen lassen, von einem Römer sicherlich jederzeit, doch nicht von einem gesetzlosen Piraten.

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    IUS LIBERORUM

    PONTIFEX PRO MAGISTRO - COLLEGIUM PONTIFICUM

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