Das Ohr eines Freundes

  • Die junge Frau, die auf Assindius zuschritt, besaß Ähnlichkeit mit Samira und doch musste man zweimal hinschauen, ehe man sie erkannte: Die Wangen waren bleich, die Augen geschwollen und der Gesichtsausdruck leer. Als sie heran war, wurde offensichtlich, dass sie das Zittern der Beine nicht kontrollieren konnte. Die Kühle des sonnigen Frühlingstages war ihr in den Körper gekrochen und jede noch so warme Palla drang in ihrer Wirkung nicht in diese Tiefe vor. Fragil wirkte die Sklavin, mehr noch als sonst.


    Bevor sie sich neben Assindius setzte, atmete sie tief durch. Druck lastete auf ihrem Brustkorb, den sie auf diese Weise in Abständen milderte. Nach Momenten des Schweigens begann sie mit monotoner Stimme.


    „Danke zunächst, dass du Zeit für mich hast. Es hilft, wenn mir jemand zuhört.“


    Wieder hob sich der Brustkorb in einer Art von Kraftakt, die den Anschein hatte, es lasteten Zentner auf ihm.


    „Ich durfte ja separat nach Germania reisen, um meine Freundin zu besuchen. Ich komme gerade von ihr.“


    In Erinnerung an das Gespräch stiegen Tränen auf, denn Samira war liebevoll aufgefangen worden und doch konnte die andere den Schmerz nicht lindern. Der Rat, den sie erhalten hatte, war anders als der zuerst gehörte ausgefallen. Er vermittelte für kurze Zeit ein Gefühl der Zuversicht, das aber keinen Bestand gehabt hatte, denn es gab zu wenig Hoffnung auf Erfolg. Traurigkeit schnürte ihr die Kehle zu.


    „Sie sagte, wenn er mir wichtig ist, soll ich um ihn kämpfen“, brachte Samira schließlich heraus. „Aber muss man nicht die Entscheidung des anderen akzeptieren, vor allem, wenn sie so unmissverständlich ist?“


    Samiras Blick streifte Assindius, suchte aber recht bald wieder die endlose Weite, die sich hinter der Fensterscheibe erstreckte. Während er nach einer Antwort suchte, sprach sie weiter:


    „Das Leben ist so ungerecht. Ich hatte nie die Möglichkeit, die Beziehung unbeschwert zu genießen, denn ich stand unter Druck und er wurde zuletzt immer größer. Dieser Druck und die aufgekommene Angst, die man spürt, wenn man fürchten muss, etwas von Wert zu verlieren, haben mich manch unbedachtes Wort sagen lassen. Die Ironie dabei ist, dass diese erste Angst stets unbegründet war, aber letztlich dafür gesorgt hat, dass ich im Nachhinein trotzdem verloren habe.“

  • Eine völlig kraftlose Samira betrat den Raum. Sie sah aus wie ausgespuckt und draufgetreten. Niemand der sie kannte hatte sie wahrscheinlich je so gesehen und jeder der sie kannte hätte sie sofort in den Arm genommen. Schwer klangen ihre Worte, es war deutlich welche Anstrengung es kostete sie zu denken und sie zu sprechen. Jeder der dieses Gefühl kennt weiß, dass jede Silbe eine Qual ist und man eigentlich nur heulen will; und jeder der Bestandteil eines solchen Gespräches war weiß, dass das Atmen schwer fällt und für Beide gilt. Es ist so ein furchtbar sensibles Thema und man ist geneigt Ratschläge zu geben wie man es selber machen würde, ohne zu berücksichtigen das es nicht um einen selber geht und bei solch einem Gespräch sind schlaue Sprüche schnell zur Hand. Als sie mit ihren Worten endete sagte ich sanft:


    „Du kommst jetzt erst mal her!“


    Ich legte meinen Arm um ihren Hals und zog sie an mich, so dass ihre Stirn auf meinem Oberkörper tippte.


    „Lass es raus! Einfach raus lassen!“


    Als einige Minuten verstrichen waren sage ich in gleichem Ton:


    „Kampf. Um ihn kämpfen. Liebe ist das Einzige das einen Kampf lohnt! Aber es sieht nicht so aus, als ob er kämpfen wollte.
    Unmissverständlich. Warum ist man so hart. Vielleicht, weil man zwar kämpfen will, aber weiß wie der Kampf enden wird. Aber wenn nur einer kämpft, verkauft er dann nicht seine Seele? Jeder Liebende würde das doch sofort tun um dieses Gefühl zu erhalten oder zurück zu bekommen! Aber wofür? Unterliegt man da nicht einer Illusion, will man zwingend lieben um zu lieben, obwohl es vielleicht nicht passen kann, obwohl man zu verschieden ist? Lohnt sich ein Kampf mit jemandem der nicht kämpfen will? Sollte man aus Liebe den anderen ziehen lassen, wenn er dies will? Würde ein Verlassener so etwas je hören wollen? Manchmal ist Liebe nicht genug!“


    Ich wartete einige weitere Minuten und frage dann:


    „Glaubst du, dass die unbedachten Worte verletzend gewirkt haben könnten? Gibst du dir die Schuld?“

  • In den Arm genommen zu werden, spendete immer Trost, aber gleichzeitig, wenn man sich ohnehin elend fühlt, öffnete es wieder die Schleusen. Samira lehnte sich an und ließ sie einfach laufen. Die Gedanken, die ohnehin schwer liefen, standen gänzlich still, weil eine Sturzwelle alles überschwemmte. Es hieß immer, dass Tränen erleichtern, weil sie den Kummer fortschwemmten, aber dem war nicht so. Zumindest bei ihr wurde er nicht weniger. Irgendwann versiegten aber die Tränen und sie wischte die verbleibenden Spuren fort.


    Als er zu sprechen begann, versuchte sie ihm zu folgen. Das war nicht unbedingt leicht, denn der Kopf schmerzte. Sie war ohnehin träge im Denken und Assindius sprach auch mitunter in Rätseln. Zunächst meinte er, Liebe sei das Einzige, was den Kampf lohnt. Dann aber machte er offensichtlich die Einschränkung, dass er ja nicht kämpfen wolle. War das jetzt wichtig? Kämpfte man nicht ohnehin nur dann, wenn einer wollte und der andere nicht? Wollten beide, dann musste man doch nicht mehr kämpfen, dann konnte man entspannen und einfach die Lehren aus den gemachten Fehlern ziehen.
    Die nächste Bemerkung verstand sie wieder gut.


    „Ja, wer nicht aufgibt, obwohl er vor einem Schlussstrich steht, der muss zunächst seinen Stolz bezwingen. Ich habe auch abgewogen, was mir wichtiger ist: Meine Würde und mein Stolz oder eben diese Liebe. Für mich wäre sie wichtiger, ganz klar. Nicht die Liebe generell, aber eben diese.“


    Samira richtete sich auf. Assindius stellte viele Fragen, die es lohnte durchzugehen.


    „Aus Liebe den anderen ziehen lassen? Du meinst, weil er damit glücklicher ist? Und woher weiß man das? Und warum nicht kämpfen, wenn der andere sich zwar zurückgezogen hat, aber gleichzeitig eben etwas Besonderes ist? Und die letzte und vielleicht wichtigste Frage überhaupt: Wann ist Liebe nicht genug? Ich finde nicht, dass wir zu verschieden waren.“ Die letzten Worte kamen fast trotzig über ihre Lippen. Die Tränen waren vorerst versiegt und sie sann der letzten Frage nach. Gab sie sich die Schuld?


    „Ja, meine Worte haben ihn verletzt, das weiß ich. Daher trage ich natürlich einen Teil der Schuld. Den anderen Teil trägt aber nicht er, sondern unglückliche Umstände, für die keiner von uns beiden verantwortlich zu machen ist.“

  • Ihre Worte haben ihn verletzt. Wie soll das den gehen? Was soll denn Samira sagen können, was irgend jemanden verletzt? Im ersten Moment dachte ich: ‚Was hat sie sich denn da für eine Memme geangelt?‘, dachte aber im zweiten, dass ich zwar glaube sie gut zu kennen, aber natürlich nicht auf dieser Ebene. Auf unsere Ebene ist alles leicht und unproblematisch, auf der anderen kann man sich sehr schnell verletzten, auch ohne das man es will oder gar merkt; wer wüßte das besser als ich. Blieb nur die Frage, ob sie ihn nicht gut genug kennt um zu verstehen wie er auf ihre Worte reagieren würde oder ob er sie nicht gut genug kennt um ihre Worte richtig zu verstehen. Aber dies ist nur ein klugscheißerischer Gedanke von mir, gehört hier nicht hin und spielt doch eigentlich auch keine Rolle. Dieser Gedanke würde ja nicht nur Ursachen suchen, sondern auch einen Schuldigen. Aber nur einen schuldigen gibt es selten. Wer hat denn schuld, wenn Worte nicht richtig verstanden werden, der Sprechende oder der Hörende, wer sollte denn absichtlich mit seinen Worten jemanden verletzen wollen den er liebt.
    Unglückliche Umstände und verletzende Worte die zu einem Schlussstrich führten bzw. ihn dorthin führten, wenn ich das jetzt richtig verstehe. Was für ein Chaos. Das war alles ziemlich kompliziert und ich horchte in mich hinein, blickte auf meine eigenen Gefühle und überlegte, mit ihren Worten im Hinterkopf. Er ist etwas Besonderes und diese Liebe ist wichtig. Kann man Unterscheidungen treffen. Ist nicht jeder etwas Besonderes dem man sein Herz schenkt und ist nicht jede Liebe wichtig. Gibt es Abstufungen, ist die eine Liebe größer als eine andere war? Wonach sucht man, wenn man die verloren hat, welche man für die Größte hielt? Nach einem Trost? Lieber eine kleine Liebe als keine, oder nach einer die größer ist? Na ja, vielleicht ist das eine Sache des Betrachters, aber mein eigenes Herz würde sagen, dass jede Liebe gleich groß und gleich wichtig ist!


    „In der Liebe kommt alles Wissen aus dem Herzen, man weiß nur, was das Herz sagt! Wenn man fühlt, dass man den anderen nicht glücklich machen kann, aus welchen Gründen auch immer, sollte man sich kritisch fragen, ob es nicht besser für den anderen wäre ihn ziehen zu lassen. Oder?
    Wann ist liebe nicht genug? Tja, vielleicht dann, wenn man mehr kämpft als liebt, wenn die Gefühle zwar vorhanden sind, aber mehr Schmerz als Freude auslösen oder dann, wenn man an der Liebe – ja- verreckt.“


    Ich ging einen Moment in mich und seufzte.


    „Warum ist etwas so wunderschönes, so furchtbar kompliziert?
    Auf jeden Fall lohnt es sich Risiken für die Liebe einzugehen. Wenn man am Ende nicht belohnt wird hat es sich aber gelohnt es zu riskieren. Wäre das nicht so, wäre sie doch nichts wert. Liebe schmeißt man nicht einfach weg. Wer nichts wagt, kann nichts verlieren! Du willst doch was wagen, wenn ich dich richtig verstehe, also legt los und kämpfe!“

  • Wüsste Samira von Assindius’ Gedanken, wäre sie durch Nachdenken reichlich abgelenkt gewesen. Er hatte Interessantes erwogen oder in Frage gestellt. Sie hätte ganz sicher befürwortet, dass es niemals nur einen Schuldigen gab. Jeder trug 50 Prozent des Anteils an allem, egal worum es ging. Ob bei einem Missverständnis, bei Verletzungen und selbst bei verbalen Grobheiten, die nur einer äußerte - stets gehörten zwei dazu, selbst bei einem Missverhältnis.


    Viel interessanter hätte Samira aber das Thema um die Wertigkeit verschiedener Lieben gefunden, denn sie fand nicht, dass jede gleichgroß und gleich wichtig war. Dafür waren sie einfach schon wegen der unterschiedlichen Beteiligten viel zu verschieden. Jeder Mensch war im Zusammenspiel mit einem neuen Partner eine Idee anders als mit jedem anderen zuvor. Einfach schon deswegen, weil der neue Partner mit seiner Persönlichkeit niemals dieselben Seiten anspricht wie sein Vorgänger. Hinzu kam, dass man Liebe ja auch noch verwechseln konnte. Nicht immer ist von Anbeginn klar, ob es sich um reine Liebe oder um eine Form von Abhängigkeit, dem übermächtigen Wunsch nach einer Zuflucht, einem starken Bedürfnis nach Geborgenheit, von tiefer Dankbarkeit oder sonst was handelt. Wichtig mag jede dieser Lieben für den jeweiligen Menschen sein, aber waren sie gleich wert? Oft genug geschah es, dass man den Trostpreis annimmt, wenn man eine große Liebe verloren hat, was nicht heißt, dass die neue Liebe schlechter ist, aber sie hat von vornherein nicht dieselbe Chance. Womöglich wäre sie unter anderen Umständen gar nicht zustande gekommen. Vielleicht aber lässt sich die eine Liebe auch deswegen nicht mit der anderen vergleichen, weil man stets neue Erfahrungen in die spätere einbringt. Und es gab Menschen, die konnten zudem bedeutend tiefer dringen als andere, denen man einst auch in Liebe verbunden war.


    Samira bemerkte Assindius’ Nachdenklichkeit, wartete aber geduldig, bis er sprach. Was er schließlich sagte, machte sie nachdenklich. Zuerst wollte sie aufbegehren, sah dann aber den Sinn der Worte ein. Seine nächste Bemerkung veranlasste sie zu einem Kopfnicken.


    „Das frage ich mich auch: Warum ist alles manchmal so kompliziert, wo es doch einfach nur schön sein könnte? Und in noch einem Punkt stimme ich zu: Man kann im Nachhinein nur dann ruhig schlafen, wenn man sich selbst sagen kann, ich habe alles probiert. Mal sehen, ob ich etwas unternehme, ich muss es erst überdenken. Ich glaube, man kann vieles verlieren, aber niemals sein Gesicht, selbst wenn man viel riskiert.“


    Sie seufzte, weil sie noch unschlüssig war, und doch hatte ihr das Gespräch sehr viel geholfen.

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