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Endlose Minuten reihten sich an unendliche Stunden, diese wiederum ketteten sich zu einem Tag zusammen, zu zweien. Irgendwann hatte ich schließlich doch etwas gegessen, viel zu hastig und viel zu viel auf einmal, was darin resultierte, dass ich mich übergeben musste - eine zusätzliche Crux, denn ich hatte Fieber bekommen, wies jedoch jeden Arzt von mir und wollte niemanden sehen außer meinem gräulichen Spiegelbild.
Am heutigen Morgen, dem dritten nach dem Tag der Schlechten Nachricht, fühlte ich mich nicht minder betäubt als am gestrigen oder dem davor. Dennoch fruchteten die Worte Helenas allmählich. Ich führ mir über den viel zu langen Bart und ließ Saba kommen, die ornatrix, damit sie mir den Bart stutzte. Anschließend Camryn, damit sie mich einkleidete. Ich ignorierte ihre Proteste deswegen, sie war der Meinung, ich sollte noch das Bett hüten, doch da ich anderer Meinung war, musste sie mir wohl oder übel die Post bringen. Es kam mir vor, als gäbe nicht ich die Anweisungen, sondern jemand, der in meinem Körper wohnte. Während des Vormittags bearbeitete ich auf meinem Zimmer die Post der letzten drei Tage, anschließend vertiefte ich mich in die neueste germanische acta, welche der Roms drei Wochen hinterher hinkte. Dennoch las ich sie, war aber nicht recht bei der Sache. Mir ging es immer noch nicht gut, aber schon besser als am Tag der Schlechten Nachricht, und allmählich fraß das schlechte Gewissen mich förmlich auf wegen der Behandlung, die ich Deandra zuteil hatte werden lassen.
Am Nachmittag war ich bereits rastlos und lief immer wieder im Zimmer auf und ab, vom Bett zur Sitzgruppe, von der Sitzgruppe zur Tür, von der Tür zum Bett und wieder von vorn. Als es dunkelte und Sofia klopfte um demütig zu fragen, ob ich heiße Hühnerbrühe würde essen wollen, bemerkte ich erst, dass erneut ein Tag verstrichen war. Der vierte, den ich untätig und eigenbrötlerisch auf meinem Zimmer verbracht hatte, ohne es auch nur einmal zu verlassen. Ich verschob das Essen auf später und behielt Sofia im Zimmer, damit sie mir eine warme paenula raussuchen und umlegen konnte. Ausgestattet mit einem tiefblauen Mantel mit Kaninchenfellbesetztem Kragen, trat ich schließlich zuerst aus dem Zimmer und später dann in den Garten. Hatte man nicht auch Mutter geraten, wegen ihrer schlechten Konstitution oft spazieren zu gehen und sich häufig an der frischen Luft aufzuhalten? Sicher würde es mir ebenfalls helfen, und weil ich das glaubte, betrat ich den Garten. Übrigens erstmals nach der gescheiterten Reitaktion.
Er hatte sich radikal verändert. Neben einer zu Ballspielen einladenden Grünfläche hatten die Frauen grandise Arbeit geleistet und weder mit Mühe noch Geld gespart, um den ehemaligen, dusteren und verwilderten Garten in ein Prachtstück zu verwandeln. Gewiss, die Rosen des rosarium waren während der knappen zwei Jahre noch längst keine makellosen Schönheiten, doch befanden sie sich auf dem besten Weg dorthin. In einem halben Jahrzehnt würde dieser Garten der schönste ganz Mogontiacums werden, dessen war ich mir sicher. Gemächlich schlenderte ich den kiesbestreuten Weg entlang, vorbei an Blumenbeeten, Staudengewächsen, kleinen Bäumen und so mancher Statue. Ich nahm mir vor, Deandra später aufzusuchen und sie einzuweihen. Zwar fühlte ich mich nicht gerade gut dabei, aber sie hatte ein Recht auf dieses Wissen und auch auf eine Entschuldigung. Es sollte jedoch anders kommen.
In einem Eckchen des Anwesens hob sich ein begrüntes Dach vom Himmel ab, die Ianus-Laube, über deren Eingang der doppelseitige Kopf des Gottes prangte. Ich wusste bis heute nicht genau, warum Deandra mich manchmal "ihren Ianus" nannte, geschweige denn, warum sie die Laube nach dem Gott des Anfangs und des Endes, der Türen und Tore benannt hatte. Dass sie es wegen der Doppelköpfigkeit getan hatte, daran dachte ich nicht, zumal das Denken auch einen erschrockenen Sprung tat, als ich in der Laube eine Bewegung gewahrte. Ich blieb stehen. War das nicht...?
Helles Haar schimmerte im Licht der untergehenden Sonne durch das Blättergewirr der Pflanze, welche den Pavillon umrankte. Deandra. Mir wurde kalt, aber ich riss mich zusammen. Es war wohl das Schicksal, was wollte, das wir jetzt gleich miteinander sprachen, noch ehe ich mein Vorhaben widerrufen und wieder in meinem cubiculum verschwinden konnte. Noch konnte ich gehen...aber es war meine Pflicht, jetzt nicht wieder umzukehren. Ich setzte mich also wieder in Bewegung, den Blick auf den Boden vor mir gerichtet, und strebte mit bangem Gefühl in der Magengegend der Laube entgegen. Vor einem der hüfthohen Durchlässe neben dem Eingang blieb ich stehen und sah hinein. Deandra saß dort, ganz allein, und glücklich sah sie nicht aus. Einen betroffenen Ausdruck ließ dieses Bild auf mein Antlitz treten. Ich legte die Hände auf das kühle Holz und betrachtete meine Verlobte eine Weile stumm. Dann entschloss ich mich, das Wort zu ergreifen. "Deandra... Es tut mir so leid", krächzte ich.
Ich hatte mich seit jenem unschönen Erlebnis im Balneum und den darauf folgenden Ereignissen zurückgezogen, war still geworden, ernst, sprach nur das Nötigste und mied so gut es ging jeden Kontakt. Zwar hatte ich mich immer wieder dazu gezwungen, mich gedanklich nicht ausschließlich mit ihm und seinem Verhalten zu beschäftigen, sondern vielmehr eine Mauer zwischen ihm und mir zu errichten, um zu mir zurückzufinden, aber nicht immer gelang mir das. Immer wieder tauchten Gedanken, manchmal auch Bilder in Form von Momentaufnahmen oder gefallene Worte auf, die für mich nach wie vor unverdaulich waren.
Über die würdelose Behandlung, die mir zuteil geworden war, hinaus hatte mich jedoch am allermeisten die Tatsache getroffen, dass er Helena weitaus besser behandelt hatte als mich. Ich war nicht nur verletzt, ich war gekränkt, unglaublich enttäuscht, und ich wäre es selbst dann gewesen, wenn er sie in vergleichbarer Weise wie mich behandelt hätte. Nach meinem Verständnis stand ich keinesfalls auf derselben Ebene wie Helena oder sonst wer aus der Gens, und ich würde mich von ihm auch nicht auf eine Einheitsebene runterziehen lassen. Diese für mich unglaublich erniedrigenden Handlungsweise erzeugte Wut. Wut auf ihn, weil er mich stets im gleichen Atemzug mit anderen nannte, so als wäre ich ein x-beliebiger Bestandteil seines Lebens, der ich noch nicht einmal zu den Zeiten war, als wir noch Geschwister waren. Wut auf mich, weil ich mir das bislang gefallen ließ. Wut, weil er sich im Ton vergriffen hatte. In letzter Zeit konnte ich mich sowohl in diese Wut als auch in tiefe Traurigkeit hineinsteigern. Letztere machte allerdings bedrückt, ich fühlte mich kraftlos. Spürte ich Wut in mir, spürte ich Kraft.
Heute allerdings waren die Gefühle zu diffus, um richtig eingeordnet werden zu können. Ich wollte allein sein, vor allem das. Zu mir drang weder das Zwitschern der Vögel durch noch das Rauschen der Blätter, die sich anmutig im sommerlichen Lüftchen bewegten. Mein Blick war in eine unbestimmte Ferne gerichtet, ich hatte die Arme um die angezogenen Beine geschlungen und das Kinn auf ein Knie gelehnt. Zeitweise verließ ein schwerer Atemzug meinen Körper, aber ansonsten saß ich bis zu jenem Moment teilnahmslos da, in dem seine Stimme zu mir drang.
Mein Kopf ruckte herum, ich blickte ihn einerseits überrascht, andererseits ohne jeden Ausdruck an. Was sollte ich auch empfinden? Freude? Ganz bestimmt nicht, trotz der Entschuldigung. Viel zu tief saßen die Verletzungen. Trauer über sein Verhalten? Mit dem er klar gemacht hatte, dass ich manches, aber sicher nichts Besonderes war? Nein. Mein Stolz ließ nicht zu, dass ich mir diese Blöße gab. Sollte ich die unterdrückte Wut zeigen? Sodass er wusste, er hatte mich getroffen? Die Macht besaß, mich zu treffen? Nein! War ich nichts Besonderes für ihn, sollte er auch nie erfahren, dass er etwas Besonderes für mich war, oder besser gewesen war.
Und obwohl das Herz protestierte, boxte sich mein Verstand durch. Ich drehte den Kopf wieder in die vorherige Blickrichtung, fasste die Arme fester und schwieg.
Ich konnte nicht anders, ich musste sie weiterhin beobachten. Stumm, auf der Suche nach dem Grund für ihr abweisendes Verhalten. Oder nein, den Grund kannte ich ja, was ich nicht wusste, war, warum sie diesmal die Entschuldigung nicht annahm. Ich hustete den Frosch fort und entschloss mich, ebenfalls die Laube zu betreten, die - im Sechseck geformt - über fünf kurze Bänke verfügte. Ich überlegte, wo ich mich hinsetzen sollte. Wählte ich einen Platz neben Deandra, würde sie vielleicht wegrutschen, weil die Nähe ihr unangenehm war. Nahm ich hingegen ihr gegenüber Platz, konnte das leicht als körperlicher und seelischer Abstand gewertet werden. Ratlos starrte ich ihren Rücken an und beschloss sodann, einfach stehen zu bleiben. So ging ich an Deandra vorbei und zu der Seite, die gegenüber dem Eingang lag, vergrub die Hände in den Taschen des leichten Mantels und starrte in die imaginäre Ferne, ohne etwas zu sehen. Meine Kiefer mahlten aufeinander. Deandra würde von ihrem Blickwinkel meinen Rücken und ein Teil meiner rechten Gesichtshälfte sehen können. Ich sog die angenehme Abendluft ein, hielt sie einen Moment an und stieß sie in einem tiefen Seufzer aus. Als ich sprach, tat ich es leise und wandte mich nicht um dabei.
"Es war unrecht, wie ich dich behandelt habe, Deandra." Schweigen. Ein vorwtziger Vogel mit rostrotem Schwanz ließ sich auf der Glyzinie nieder, die dem Ort ein verwunschenes Ambiente verschaffte. Aufgeregt wippte er mit dem Schwanz auf und ab und drehte sein Köpfchen mal hierhin, mal dorthin, während ich mich sammelte, um das vorzubringen, was Deandra erfahren musste. "Mutter ist tot. Und Vater...schrieb..." Ich stockte, ballte die Händen zu Fäusten und versuchte es erneut. "Er schrieb..." Meine Stimme schwankte, zitterte, die zuvor aufrechte Haltung sackte förmlich in sich zusammen und ich musste mich an der Balustrade festhalten, um nicht zu wanken. "Er hat....ist....ihr gefolgt", vollendete ich schließlich erstickt den Satz. Nun war es raus, ich hatte es gesagt. Der Vogel zirpte und stieß sich vom Zweig ab, fast so, als floh er, doch es war nur mein Verstand, der mir dies vorgaukelte. Ich krümmte den Rücken, beugte mich nach vorn, ließ die Einfriedung aber nicht los, sodass mein Kopf zwischen den Armen zum Stillstand kam. Die Auge waren geschlossen, ich sammelte Kraft. "Ich konnte es dir doch nicht sagen", flüsterte ich. Ich fühlte mich hilflos und schwach, und genau das wollte ich doch nicht sein.
Sein Erscheinen hatte mich aufgerüttelt: Ich hörte wieder die leisen Geräusche der Natur, auch wenn meine Aufmerksamkeit im Grunde ungeteilt bei ihm war. Mir war klar, dass eine abweisende Geste einen Rückzug zur Folge haben konnte, und hätte er derart reagiert, wäre er in meiner Wertschätzung weiter gesunken. Aber er blieb, was ich allerdings durch keinerlei Reaktion honorierte, aber mit allen Sinnen, die für ihn nicht erkennbar waren, wahrnahm. Warum sollte ich auch diese aus meiner Sicht größte Selbstverständlichkeit honorieren? Er hatte – wiederum aus meiner Sicht – sogar eine ganze Menge wieder gutzumachen, falls es überhaupt wieder gutzumachen war. Ich merkte in diesem Moment, dass ich – völlig untypisch für mich – nachtragend war. Und ich bemerkte, dass er mich zu einem Teil verloren hatte. Nicht wegen der unwürdigen Behandlung im Bad, da wären Entschuldigungen sicherlich heilsam gewesen, sondern wegen der von mir empfundenen Gleichsetzung mit jedem beliebigen anderen Familienglied. Ich spürte weder eine sich abhebende Vertrautheit noch eine besondere Fürsorge, keine gehobene Achtsamkeit und vor allem auch keine besondere Wertschätzung. Der einzige Unterschied zu anderen bestand vielleicht darin, dass ich körperliche Reaktionen auslösen konnte, aber das war mir zu wenig. Ich wollte nicht nur als Frau, sondern auch als Mensch eine besondere Stellung innehaben. Es war die in der letzten Zeit praktizierte Demonstration, dass er genau diese von mir erhoffte besondere Stellung offensichtlich nicht empfand, oder zumindest nicht zeigte, die mich abwehrend, ja geradezu bockig und verschlossen gemacht hatte. Mir wurde in diesem Moment klar, dass es seines Einsatzes bedurfte, um mich wieder für ihn offen werden zu lassen.
Es war unnötig, die Augen von dem anvisierten Baumstamm abzuwenden, im Augenwinkel verfolgte ich, dass er den Pavillon betrat. Ich registrierte durchaus sein Verhalten, auch wenn ich desinteressiert erschien. Und ich registrierte nicht nur, ich wertete förmlich aus. Jedes Fehlverhalten, oder das, was ich als solches empfinden würde, konnte die Mauer in mir höher ziehen. Er hielt eine räumliche Distanz ein, und als solche wertete ich sie auch. Daher verpuffte die zweite Entschuldigung noch wirkungsloser als die erste, er sprach sie weder in meine Richtung noch mit besonderer Überzeugung aus. Ich verhärtete innerlich bereits noch mehr, als mich seine nachfolgenden Worte erreichten. Aber es waren nicht einfach Worte, eine Mitteilung oder sonst was, es war die Vernichtung pur.
Das Leben schien mit einem Mal erstarrt, die Zeit stillzustehen, der Raum um mich verschwand, machte einem Vakuum Platz, das mir die Luft aus den Lungen presste, jegliches Gefühl und jede Kraft raubte. Mutter! Ich wusste ja, dass es ihr schlecht ging. Ich hatte sogar ab und an versucht, mich an einen bevorstehenden Tod gedanklich zu gewöhnen, aber es war unmöglich, sich tatsächlich vorzubereiten. Die Nachricht schlug ein, aber nicht nur das. Geradezu ängstlich harrte ich aus, weil Marc im gleichen Atemzug Vater erwähnte. Nur eben wie er es tat! Eine Form von Panik, etwas wie eine schlimme Vorahnung breitete sich in mir aus. Ich wollte es nicht hören, was er zu sagen hatte, und doch wartete ich regelrecht begierig darauf, dass er weiter sprach. Nichts ist schlimmer als Ungewissheit, doch er nahm sie mir bald.
Die gefassten Arme lösten sich, ohne dass ich es wollte, die Beine rutschten von der Sitzfläche ab und ich fing den Oberkörper gerade noch mit den Armen ab, die Hände in das Holz der Bank gekrallt. Ich spürte, wie der Mund austrocknete, die Gedanken einfrohren. Eine Kraft – ich wusste nicht, woher ich sie nahm – hielt meine Gestalt in ihrer Sitzposition, unfähig sich zu rühren, funktional am Leben, ich stand unter Schock.
Aus den Augenwinkeln konnte ich Deandras Reaktion verfolgen. Sie verlief, wie ich vermutet hatte, und Deandra wirkte geschockt, betroffen und verstört. Genau so, wie ich mich gefühlt hatte und teilweise sogar immer noch fühlte. Ihr Blick war nun auf mich gerichtet, aber sicherlich unbewusst, nicht mit der Absicht, auch mich als Menschen wahrzunehmen. In einer Schrecksituation brauchte man eben etwas, an das man sich klammern konnte. Ich verstand das.
Noch einige Augenblicke lauschte ich meinem Herzschlag, dann richtete ich mich auf und wandte mich um, zu Deandra hin, um sie zu betrachten. Ihr ging es nicht gut, daran war ich Schuld, und die schlechte Nachricht - die auch ich überbracht hatte - hatte noch eins obendrauf gesetzt. Mit bedrücktem Ausdruck auf dem Gesicht starrte ich sie einfach nur an. Ich hatte das Gefühl, es mussten bestimmt zehn Minuten vergangen sein, als ich mich endlich rühren konnte, um das zu tun, was ich an den Tagen zuvor nicht hätte schaffen können, doch in Wirklichkeit war es eine einzige Minute, bloß um das Zehnfache gedehnt. Wie festgeklebt waren meine caligae am Boden, ich musste unendliche Kraft aufbringen, um die Füße zu heben und die fünf kurzen Schritte zu überwinden, die mich zur Sitzfläche neben Deandra tragen würden. Doch letztendlich kam ich an, setzte mich nach einem weiteren Herzschlag leicht seitlich zu ihr gedreht hin und hob die rechte Hand. Eigentlich wollte ich sie berühren, am Rücken, aber eine unsichtbare Barriere schien ihren zarten Körper zu umgeben, und abermals kostete es mich unglaubliche Kraft, meine Hand auf ihr Schulterblatt zu legen. Kaum hatte ich sie aber berührt, war das Eis - zumindest meines - gebrochen. Die Hand fuhr behutsam in Deandra Nacken, legte sich darauf und zog sie sachte zu mir, an meine Brust heran. Das alles lief mechanisch ab, da musste ich gar nicht groß denken. Ich würde sie trösten, wenn sie es zuließ, und ich war froh darüber, dass ich es inzwischen wieder konnte. Mit dem linken Arm langte ich um ihren Körper herum und bildete so einen Schutz vor imaginären Angreifern, zu denen auch Trauer und Enttäuschung gehörten. Ich legte mein Kinn auf ihren Kopf und schloss die Augen. Etwas zu sagen, erschien mir überflüssig und war nicht nötig in dieser Situation. Unwillkürlich begann ich damit, ganz sachte vor- und zurückzuschaukeln, wie man es bei kleinen Kindern machte, um sie zu beruhigen und ihnen das Gefühl von Geborgenheit zu geben.
Mehr oder weniger neben mir stehend nahm ich die Situation wahr, in der sich Marc umdrehte und auf mich zukam. Ich wollte seine Nähe nicht und war doch unfähig, etwas dagegen zu tun. Glaubte er im Ernst, mich nun trösten zu können? Nachdem er mich vor Tagen derart zurückgestoßen hatte? Was hieß hier eigentlich: ‚Ich konnte es dir doch nicht sagen.’? Er hätte es nicht nur können, sondern auch tun müssen! Stattdessen hatte er seine Unfähigkeit in einen Schlag in mein Gesicht umgewandelt. Das Bewusstsein dessen stand mir nicht klar vor Augen, aber es drückte sich in meinem Wunsch nach körperlichem Abstand aus, der jedoch von ihm nicht wahrgenommen oder ignoriert wurde. Aufstehen war mir in diesem Moment nicht möglich.
Ich spürte die Berührung an meiner Schulter und machte eine halbherzige Fortbewegung, die jedoch nicht ausreichte, um seine Hand zum Abrutschen zu bringen. Halbherzig deswegen, weil ich hauptsächlich damit beschäftigt war, die unfassbare Neuigkeit wie auch immer zu verstehen, was mir bislang nicht einmal im Ansatz gelungen war. Derart konfus, weil ich die Nachricht vom Tod beider Elternteile im Grunde erst gar nicht in mein Denken eindringen lassen wollte, gelang es ihm, mich zu überrumpeln. Wider Willen bemerkte ich, wie eine Seite in mir seine Geste, in der er mich heranzog, als angenehm, ja sogar hilfreich empfand. Ich protestierte still gegen seine vollständige Umarmung, die, so gut sie sich auch anfühlte, meinem Vorhaben entgegenwirkte, ihn längerfristig für sein Fehlverhalten büßen zu lassen.
Wäre ich in der Lage gewesen, klar zu denken, hätte ich mich gefragt, was tat er denn da? Ich wollte doch fortlaufen, meinen Schmerz für mich alleine spüren! Er hatte es mir auch nicht gestattet, an seinem Schmerz Anteil zu nehmen. Dieser Stachel saß tief in meinem Herzen. Ich wollte ihn zudem deutlich spüren lassen, wie tief verletzt ich doch wegen der Zurücksetzung hinter andere Verwandte oder die Gleichsetzung mit ihnen war.
Weiter hätte ich mich gefragt, warum verhielt er sich denn so? Wusste er denn nicht, dass er damit meine Abwehr gefährdete? Ja, sie sogar niederreißen würde? Sie zusammenbrach?
Aber ich war nicht in der Lage zu denken, mich selbst auszuforschen. Mir war in diesem Moment nicht bewusst, dass ich zwischen Corvi, meinem ehemaligen Bruder, und Marc, meinem Liebsten, trennte. Eine Trennung, die wiederum ungerecht war, denn auch als Bruder hätte er mich nicht ausgrenzen dürfen und gerade tröstete er auch in seiner Rolle als Mann. Und doch erschien er mir als Bruder nahezu vorbildlich, praktisch schon unfehlbar, als Verlobter hingegen machte er unglaubliche Fehler. Diese Unterscheidung hing aber in meinem Empfinden nur mit meiner Zuordnung seines Verhaltens in Vergangenheit und Gegenwart zusammen.
Ja, ich war ungerecht, verknüpfte wüst, denn in meinem Kopf herrschte Krautsalat. Ich hatte die Eltern meiner Kindheit verloren, zwei Elternteile von den verschiedenen, die ich inzwischen besaß, und doch die einzigen, die von Bedeutung waren. Eine Lücke, die kaum von jemand anderen zu füllen war. Und doch würde ich in naher Zukunft permanent nach Ersatz suchen, denn größer noch als die Trauer war die Angst, die mich erfasste. Plötzlich erschien mir das Leben feindlich gesinnt, es trug bösartige Züge. Wie sollte ich nur den Boden unter den Füßen zurückerlangen?
Ich fühlte mich mehr und mehr in seinen Armen geborgen, gab die innere Verkrampfung auf, ließ auch körperlich locker. Und obwohl normalerweise liebevolle Zuwendung bei mir stets jede noch so mühsam aufrechterhaltene Fassade zum Einsturz brachte, weil eben nichts so Tränen lösend wie Trost war, blieben genau diese aus. Ich starrte mit aufgerissenen Augen auf die gegenüberliegende Sitzbank, fühlte mich leer, wie noch nie zuvor, in Teilen abgestorben, verloren, haltlos, obwohl ich gehalten wurde. Aber er konnte nicht Vergleichbares geben, was ich verloren hatte, konnte momentan nur notdürftig auffangen. Ich befand mich in einem Loch, dessen Wände mir derart hoch erschienen, als müsste ich für alle Zeit darin gefangen bleiben. Eingeschlossen, einsam, zur Untätigkeit verdammt, lebendig begraben.
Sie wollte nicht, dass ich sie berührte, natürlich wollte sie das nicht. Ich war schließlich während der letzten vier Tage nicht gerade derjenige gewesen, den sie hatte haben wollen. Und dennoch sah ich kaum einen Grund, mich für meine Empfindungen entschuldigen zu müssen. Für die ungebührliche Behandlung, sicher, aber resultierte sie nicht aus dem, was dieser Brief in mir ausgelöst hatte? Ich ignorierte Deandras Abwehr und nahm sie stattdessen in den Arm, wie es sich gehörte, wie sie es brauchte und wie sie es wollte, auch wenn sie sich vielleicht etwas anderes einredete oder den Wunsch danach zu unterdrücken versuchte. Sekunden reihten sich an Sekunden, wurden zu Minuten und schließlich zu einer halbten Stunde, in der ich einfach nur anwesend war und sie hielt, aber kein Wort hervor brachte. Gleichzeitig schien mein Denken so gut wie eingestellt. Banale und vollkommen unwichtige Dinge gingen mir durch den Kopf, sodass ich mich allen Ernstes fragte, ob ich nicht mehr im Stande war, mich auf einen wichtigen Sachverhalt zu konzentrieren.
Schließlich knirschten Schritte auf dem Kies, nach denen ich den Kopf umwandte - es war Caecus, der sich leise erkundigte, ob alles in Ordnung sei. Ich antwortete leicht verzögert und trug ihm auf, zurück ins Haus zu gehen und etwas Hühnerbrühe aufzuwärmen. Die Schritte entfernten sich wieder, und dann war erneut alles still. Kurz entschlossen ließ ich Deandra in den rechten Arm rutschen und beugte mich, um den linken unter den Kniekehlen hindurchzuschieben. Ich hievte sie auf meinen Schoß und drückte sie an mich. Ihr Duft war betörend. "Ich werd' dich nicht allein lassen, hörst du?" flüsterte ich ihr zu, in der Hoffnung, sie möge es hören, dann erhob ich mich und trug sie ins Haus, die Stufen hinauf und in ihr Zimmer, wo ich sie aufs Bett legte.
Essen mochte sie nichts, trinken auch nicht. Sie lag einfach nur da. Ich wollte mein Versprechen nicht brechen, und außerdem spürte ich, dass ich jetzt einfach für sie da sein musste, auch wenn ich nichts weiter tat außer anwesend zu sein. Zuerst saß ich noch auf der Bettkante, doch im Verlauf des Abends ließ ich mich auf dem Boden neben dem Bett nieder - neben sie legen konnte ich mich nicht, es kam mir falsch und eigennützig vor -, lehnte mich mit dem Rücken an ebendieses und starrte Löcher in die Dunkelheit. Das hatte ich schließlich während der letzten Tage und Nächte geübt. Erst, als ich sicher war, dass sie eingeschlafen war, erhob ich mich und verließ das Zimmer.
Es war mir zuerst nicht bewusst, doch dieser Brief und alles, was er nach sich gezogen hatte und noch zog, hatte die Mauern unserer Trutzburg nicht unerheblich beschädigt. Die Zukunft würde zeigen, ob wir die Risse kitten konnten.
Das Leben um mich herum pulste nicht mehr und ich befand mich im Zentrum dieses Stillstandes, aber zum Glück war ich nicht allein. Ich fühlte Arme und eine Schulter, spürte Körperwärme. Meine gesamte Aufmerksamkeit, die Sinne, waren auf seinen Herzschlag, den ich als Pochen spürte, und seinen Atem gerichtet, der regelmäßig über mein Haar strich. Solange ich dieses Leben wahrnahm, befand ich mich selbst noch auf der hiesigen Seite des Flusses, solange diese Zeichen anhielten, gab es Leben um mich herum, auch wenn alles andere abgestorben schien. Und je intensiver ich mich gedanklich mit ihm auseinandersetzte umso umfassender war es mir möglich, seine Eröffnung über Mutter und Vater zu verdrängen. Nach nichts anderem strebte ich derzeit.
Ich registrierte nebenbei, dass meine gesamte Enttäuschung ihn betreffend, die ich in den letzten Tagen gepflegt, sogar gehortet, in die ich mich regelrecht hineingesteigert hatte, plötzlich gegenstandslos war. Dieser Wandel kam nicht dadurch zustande, weil ich ihm verziehen hatte, auch nicht deswegen, weil ich seine Reaktion, sein Verhalten nun besser verstand. Allein die Tatsache, dass er JETZT da war, dass er zum Glück meine Dickköpfigkeit ignorierte, dass er sich so viel Zeit nahm, ließ den angestauten Groll in den Hintergrund treten. Plötzlich machte er wieder alles richtig, wie damals als Bruder. Ich klammerte mich augenblicklich an die Ergründung des Gedankens, ob er nun in meinem Empfinden mehr Bruder oder doch mehr Liebster war, weil ich mit aller Macht vermeiden wollte, auch nur im Entferntesten an die Zukunft ohne Eltern denken zu müssen.
Irgendwann trat jemand heran, fragte etwas, auf das ich glücklicherweise nicht eingehen musste. Er regelte es, das war gut so. Ich bemerkte überrascht, dass ich mir von ihm also auch fürsorgliche Vatereigenschaften wünschte. Würde er es schaffen, Bruder, Vater und gleichzeitig Liebster zu sein? War das nicht doch etwas Unmögliches, was ich erhoffte oder zumindest vorübergehend brauchte? Und als hätte er meine Gedanken erraten, zog er mich zu sich auf den Schoß und drückte mich. Oh, man konnte, wenn man wollte, sich vieles einreden, und ich wollte mir einreden, dass sein promptes Handeln ein Zeichen, eine Antwort auf meine Frage war. Sein Flüstern war nach meiner Auffassung die Bestätigung. Zum ersten Mal seit der überbrachten Nachricht rührte ich mich aus eigenem Antrieb. Ich legte meine Arme um seinen Hals und den Kopf in die Beuge zur Schulter, schloss erstmalig die bis dahin unablässig aufgerissenen Augen, was ein Hineinhorchen ermöglichte, das sich nunmehr gegen die errichtete Abwehrmauer wendete. Die Gefühle der Liebe und der Trauer brachen gleichzeitig über mich herein, nahmen mein Denken gefangen, lösten die emotionale Verkrampfung und spülten den angestauten und neuen Schmerz heraus.
„Danke“, wisperte ich unter Tränen und reichlich verspätet, denn er trug mich bereits zur Villa zurück.
Aber was fängt man mit seinem Leben an, wenn Mut und Kraft fehlen? Wenn selbst die Grundbedürfnisse nach Essen und Trinken kaum mehr spürbar sind? Ich brauchte ein Ziel, vielleicht eine Aufgabe, und natürlich brauchte ich Halt.
Bald nachdem Corvi den Platz auf der Bettkante gegen den Fußboden eingetauscht hatte, fühlte ich verstärkt die Leere und die Einsamkeit, obwohl er noch immer anwesend war. Ich rang lange mit mir, ob ich nun meinerseits auf ihn zugehen sollte, merkte nicht, wie mich diese Gedanken wieder hilfreich vom aktuellen Scherz ablenkten, fasste mir endlich ein Herz, auch wenn es mich große Überwindung kostete, und rutschte an ihm heran. Der Körperkontakt beruhigte mich langsam und ich fiel irgendwann in den Schlaf.
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