CUBICULUM DER
AURELIA SISENNA
cubiculum | Aurelia Sisenna
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War nicht von G. Iulius Caesar der Ausspruch überliefert: Lasst dicke Männer um mich sein? Nun, um mich herum waren jetzt also diese grünäugigen weiblichen Wesen, die einander endlich kennen lernen sollten. Frohgemut schritt ich aus dem tablinum hinaus und auf das cubiculum von Sisenna zu. Dabei vergaß ich ganz, das Geschenk des Corvinus für Sisenna mitzunehmen, das dieser mit seinen Briefen gesandt hatte. Zum Glück brachte mir Maron das rote, verschnürte Päckchen nach und zog sich wieder diskret zurück.
Bei den mangelhaften Sprachkenntnissen Cadhlas hatte es keinen Sinn, ihr unterwegs noch schnell zu erklären, in welcher Lage sich Sisenna befand und was sie durchgemacht hatte. Ich vertraute einfach darauf, dass die junge Sklavin genug Sensibilität aufbringen und vielleicht einiges erahnen würde - und natürlich auch darauf, dass Sisenna ihre Sache als Latein-Lehrerin ordentlich erledigen würde.
Vor allem aber schien mir Cadhla eben wirklich sensibel zu sein; sie hatte mich im tablinum auch so lange angesehen, und ihre Augen wirkten auf mich klug und einfühlsam ... Ich fuhr ein bisschen zusammen, als sie mich plötzlich, in ihrem Latein-Kauderwelsch, fragte, was wir jetzt tun würden. Lachend drehte ich mich zu ihr um und sagte:
"Flöhe hüten!",
was sie sicher nicht verstand. Aber sie würde schon noch merken, was ich meinte, wenn sie erst einmal die Kleine kennengelernt hatte, vor deren cubiculum wir nun anlangten. Bevor ich eintrat, horchte ich einen Moment, ob ich aus dem Inneren des Zimmers Geräusche vernehmen konnte - nicht, dass die Amme Sisenna etwa hingelegt hatte. Aber zum Glück hörte ich Geraschel; ich klopfte kurz, trat dann aber auch direkt ein.
"Sisenna, ich habe heute nur gute Nachrichten für dich! Wir haben nämlich einen Brief bekommen von Corvinus aus Mogontiacum. Er lässt dich ganz herzlich grüßen, und das tun auch Deandra, Prisca und deine Schwester Helena! Und es kommt noch besser: Sie werden bald hierher nach Rom zurückkommen, dann wird die villa hier voller Leben."
Ich machte eine kurze Pause, um die vielen guten Neuigkeiten erst einmal auf Sisenna wirken zu lassen. Andererseits durfte ich ihr auch nicht zuviel Zeit geben, denn dann würde sie wieder die unvermeidliche Frage stellen, wann ihre eigenen Eltern zurückkämen. Deshalb überreichte ich ihr auch schnell Corvinus' Päckchen:
"Und das schickt Corvinus ganz allein dir!"
Hoffentlich schmeckt es besser, als es sich anfühlt, dachte ich bei mir, denn meine Hände waren jetzt wirklich ganz klebrig davon - wie Leone mich auch schon gewarnt hatte. Darum kümmerte ich mich aber natürlich nicht weiter, sondern winkte jetzt Cadhla heran. Diese hatte sich die ganze Zeit und schon auf dem Weg zu Sisennas cubiculum in einem auffallenden Abstand von mir gehalten. Ob sie damit besondere Wertschätzung zum Ausdruck bringen wollte? Oder hatte sie einfach nur immer noch Angst? Jedenfalls würde ich sie jetzt einer Person vorstellen, die ihr mehr Ungemach bereiten konnte als ich.
"Sisenna? Da ist noch etwas. Corvinus hat eine Sklavin gekauft. Sie soll sich um dich kümmern. Stell dir vor, sie kommt aus Britannia, das ist ganz weit weg von hier. Noch spricht sie nicht so gut Latein, aber bei dir wird sie das bestimmt lernen. Ihr Name ist Cadhla."
Dann wandte ich mich an die Sklavin, auf Sisenna deutend.
"Das ist domina Aurelia Sisenna."
Mit diesen Worten ging ich ein paar Schritte zurück, um Sisenna zu ermöglichen, Cadhla in Augenschein zu nehmen. Ich wollte das cubiculum noch nicht sofort verlassen, schließlich musste ich ja wissen, ob die beiden denn überhaupt zueinander passten. Lange aber würde ich hier nicht bleiben, sondern Maron in der Nähe des Zimmers postieren.
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Es ging durch die Eingeweide der Villa Aurelia, und wäre sie nicht ohnehin schon durch die Pracht der Räumlichkeiten beeindruckt gewesen, hätten die Korridore schon ausgereicht, ihr das Sinnbild einer besonders atemberaubenden Behausung zu offenbaren - selbst auf den Fluren schien man hier dem Luxus zu fröhnen, die dunkelrote Wandfarbe an manchen Ecken Farbe hatte einen dem Purpur ähnlichen, satten Ton, eine so teure Essenz, dass sie diese Farbe noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen hatte. Von den teuren Vasen, Pflanzen und sonstigen Wandverzierungen ganz zu schweigen, denn auch das gab es in den einfachen Holz- und Steinhütten ihres Dorfes nicht. Eilig tappte sie hinter dem netten Römer her, den sie insgeheim einfach einmal Cedric* getauft hatte, seinen wirklichen Namen hatte sie immerhin unter all dem anderen Latein nicht wirklich heraushören können. Hoffentlich würde sie ihn noch irgendwann erfahren, der Name eines Menschen verriet so viel über die Person. Dass man in Rom die Namen nach anderen Kriterien wählte und allenfalls der Beiname eine persönliche Einfärbung besaß, wusste sie nicht, woher denn auch?
Er blieb an einer Tür stehen, die genauso aussah wie die anderen Türen auf diesem Gang, und Cadhla zweifelte ernsthaft, dass sie diese wiederfinden würde, sollte sie diese selbst ohne Hilfe suchen. Wie schafften es die Römer nur, sich in diesem riesigen Haus zurecht zu finden?
Der nächste Wortschwall folgte, aber glücklicherweise hatte er nicht sie angesprochen, sondern jemanden in dem Zimmer, und als sie ihm hinein folgte, offenbarte sich nun auch der Sinn seiner Handbewegung, als er ihr vorher etwas recht kleines angedeutet hatte - er musste dieses zart wirkende Kind gemeint haben, dem er nun eines der Bündel von eben überreicht hatte. Neugierig betrachtete sie die Kleine, sie sah so anders aus als alle Kinder, die sie bisher gesehen hatte, so zart wie ein kleiner Sonnenstrahl, zerbrechlich fast, als sei sie nicht ganz von dieser Welt, aber doch mit lebendig funkelnden Augen. Sollte sie sich nun um dieses Kind kümmern? Es schien fast so, zu welchem Zweck hätte er sie denn sonst zu ihr führen sollen?Als er beiseite trat, sah sich Cadhla unvermittelt im Mittelpunkt stehen, zumindest, soweit dies eine ausgesprochen fremd wirkende Frau mit sonnenverbrannter, heller Haut und rotem Haar überhaupt tun konnte, wenn sie sich unter edel gekleideten Römern befand.
"Failté, Sisenna," sagte sie zögernd, um dann mit ihrem heiser klingenden, stockenden Latein anzufügen: "Salve-te, do-minah." Hoffentlich war es das Richtige, bei den meisten Worten dieser so fremden Sprache musste sie die Bedeutung immernoch raten. So blieb sie etwas unschlüssig stehen und blickte das Mädchen aufmerksam an, abwartend, was sich nun ereignen würde. Wem gehörte sie denn jetzt eigentlich? Dem schwarzen Mann, der sie ersteigert hatte?Sim-Off: Cedric = Der Freundliche, Liebenswürdige
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Sisenna fuhr jämmerlich zusammen, als es an der Tür klopfte, denn sie hatte etwas Verbotenes gemacht. Sie wusste, dass die Sklavinnen immer mit ihr schimpften, wenn sie die Schnecken mit in ihr Zimmer nahm, aber heute hatte sie keiner dabei beobachtet, wie sie, in jeder Faust eine Schnecke, in ihr Zimmer geschlichen war. Gerade wollte sie in die eigens für ihre Lieblinge errichtete Kuschelecke ein – ebenfalls heimlich stibitztes – Salatblatt legen, auf das ihre beiden Lieblingsschnecken Cicero und Icela diese Nacht schlafen sollten, als das Klopfen erklang.
„Huh!“, entfuhr ihr. Erschrocken riss sie die Augen auf, sprach hoch und drehte sich um, während sie vorsichtig ihre Gefährten schützend umschloss. Mit hochrotem Gesicht, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, sah sie mit noch immer geweiteten Augen ihrem Onkel entgegen, als er das Zimmer betrat.
Ihr Verstand war vor Schreck blockiert. Sie nahm kaum wahr, wie gut die Nachrichten waren, aber sie nickte eifrig, um den Onkel hinzuhalten oder abzulenken oder beides zusammen. Als er jedoch ein Geschenk erwähnte, war sie wieder hellwach, machte Stielaugen und hob neugierig ihren Kopf. Dummerweise konnte sie das Geschenk nicht entgegennehmen, denn ihre Hände waren ja voll. Sie war in einem großen Zwiespalt, weil sie zu gerne gewusst hätte, was in dem Päckchen verborgen war. Andererseits konnte sie unmöglich ihre beiden Lieblingsschnecken verraten.
Daher blieb sie unverwandt stehen und ließ sich die nächste Überraschung in Form einer neuen Sklavin präsentieren. Sie legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die junge Frau. Ob die spielen konnte? Ob die Schnecken mochte? Ihr Kopf neigte sich seitlich, so als könne sie mit dieser Sichtweise ihre Fragen besser beantworten.„Ich kann ihr das Sprechen lernen. Bestimmt heißt sie nicht Cadha, sondern spricht das nur falsch aus. Lass sie uns ‚Cata’ rufen.“ Sisenna war überzeugt, dass sie Recht hatte. Cata war römisch, alles andere war falsch. Und wie zu ihrer Bestätigung sprach die Sklavin anschießend die Begrüßung mit einem ungewohnten Akzent. Da würde sie noch viel Arbeit haben, wenn das mal mit der Sprache klappen sollte.
Noch immer stand sie unschlüssig im Raum. Sie konnte weder das Geschenk annehmen noch den Onkel begrüßen. Ja, wenn er gehen würde, dann … Die Sklavin würde sie nicht stören, wenn sie ihre Lieblinge aus den Händen entließ, sie würde schon einen Weg finden, um sie zur Verbündeten zu machen.
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Sim-Off: @ Cadhla: Danke für den schönen Namen!
An meinem Beobachtungsposten stehend, zogen sich meine Mundwinkel zu einem immer breiteren Strahlen auseinander: Ja, die beiden passten gut zusammen! Mir war klar, dass ich in diesen zwischenmenschlichen Dingen über keine große Erfahrung verfügte, doch gerade meine Nachdenklichkeit von klein auf hatte mich meiner Ansicht nach zu einem guten Beobachter werden lassen. Und was ich hier sah an Körpersprache, an Mienen, an Gebärden, überzeugte mich davon, dass sich Sisenna und Cadhla gut verstehen würden. Sisenna war zwar noch ein bisschen abwartend, doch dies war nach allem, was sie hatte durchmachen müssen, auch nicht weiter verwunderlich. Andererseits zögerte sie nicht, die Aufgabe des "Latein-Unterrichts" an Cadhla anzunehmen - und auch dies verwunderte mich nicht, denn unter all ihrer Trauer meinte ich, an dem Mädchen Sisenna auch eine große Durchsetzungskraft und Willensstärke erkennen zu können. Ich war so stolz auf sie; hoffentlich würde ich ihr das auch einmal zeigen können.
Für den Moment freute es mich aber, dass Sisenna nun eine Spielkameradin gefunden hatte, die offenbar wirklich Kinder mochte, auch wenn sie meine entsprechende Frage vorhin nicht hatte beantworten können. Ich hätte auch noch weiter gerne Mäuschen bei den beiden gespielt, rief mir aber ins Gedächtnis, dass ich nun kein kleiner Junge mehr war und noch anderes zu erledigen hatte. So legte ich still das pappige Päckchen, das Sisenna zu meiner Überraschung nicht angenommen hatte, auf einem Tischchen ab, und schlich mich leise aus dem cubiculum, nicht ohne Sisenna und Cadhla noch einmal zuzuwinkern.
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In einer Sache waren die meisten Kinder gleich - wenn sie etwas ausgefressen hatten, dann merkte man es ihnen an, eine gewisse, vage Unsicherheit, selbst wenn sie nur wenige Momente dauern mochte, die innerliche Frage, ob man nun Ärger bekommen würde oder nicht. Auch wenn sich Cadhla sicher war, dass dieses kleine Mädchen sicherlich weit weniger Ärger bekam als die meisten anderen Kinder ihres Alters, so glaubte sie doch, diese Unsicherheit über die nähere Zukunft für einen Moment gesehen zu haben. Oder war sie gerade durch die fehlende wirkliche Verständigung durch ihre überreizten anderen Sinne getäuscht worden? Sie schüttelte den Gedanken eilig ab und betrachtete Sisenna neugierig, vor allem auch ihre sorgsame Aufmachung, die edle Kleidung. Selbst die Kinder trugen Sachen, die sie in ihrem eigenen Leben noch nicht einmal berührt hatte, so edel waren die Stoffe - sie musste bei einer der reichsten Familien der ganzen Welt gelandet sein!
Als sich Cedric dann zurückzog und sie alleine mit dem Mädchen ließ, das sie nicht minder neugierig zu mustern schien als sie es selbst betrachtet hatte, lächelte sie ein wenig und ging in die Hocke, um mit Sisenna auf Augenhöhe zu sein. Langsam deutete sie auf sich selbst und sagte abermals: "Cadhla. Und Du .. Sisenna?" Es klang ganz und gar nicht römisch, aber sie gab sich zumindest Mühe, das Latein einigermaßen verständlich auszusprechen. Dass ihre Brocken Latein von einem Thraker stammten, der es ebenso nicht besonders gut gesprochen hatte, gereichte ihr in diesem Moment nicht unbedingt zum Vorteil. "Was tun?" fragte sie das Mädchen, denn der Unterschied zwischen sich und der Kleinen war ihr nur zu bewusst, anscheinend sollte sie auch Sisenna dienen, jedenfalls sah es im Augenblick stark danach aus.
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Sisenna konnte auf die Sklavin ein kein wenig hinabblicken, als diese sich vor ihr hingekauert hatte. Für sie drückte der Größenunterschied aber nichts aus, denn ganz gleich, ob die Sklavin stand, hockte oder lag, Sisenna war ihr weisungsbefugt und wusste, wenn es darauf ankam, dieses Wissens zu nutzen.
„Du sprichst wirklich sehr undeutlich“, resümierte sie, als sich Cadhla vorstellte. Der Name war ihr weder geläufig noch klang er wie ein echt römisch-lateinisches Wort. Dieser Sache wollte sich Sisenna zuallererst annehmen.
„Du heißt ab heute ‚Cata’. Sklaven bekommen von ihren Herren neue Namen“, erklärte sie, als wäre sie bereits im Erwachsenenalter. Sie kannte die Gepflogenheit, nicht aber deren Sinn, dem Sklaven die Identität zu rauben. Sisenna hingegen vergab gerne neue Namen, ob nun an ihre Schnecken, an Sklaven oder an Spielzeugpuppen. Für sie machte das keinen Unterschied.
„Was ich dir jetzt zeige, darfst du niemand verraten“, sagte sie anschließend mit eindringlicher Stimme. Sie nickte einmal bedeutungsvoll, bevor sie zu dem Tischchen ging, auf das Onkel Cotta ein Geschenk gelegt hatte, öffnete ihre Hände und versuchte, die beiden Schnecken auf die Holzplatte abzulegen. In einem Fall gelang ihr das auch. Helena, die den Namen ihrer Schwester trug, hatte sich weitgehend in ihr Haus zurückgezogen und aus Protest über die unliebsame Behandlung allerhand Spucke produziert. Verina - nach ihrer zweiten Schwester benannt - hingegen hielt sich am Handteller fest, kein Schütteln bewegte die Schnecke, die Handfläche loszulassen. Sisenna seufzte, fasste Verina am Haus und zog vorsichtig daran. Der Schneckenkörper zog sich bedenklich in die Länge, bevor sich das Tier löste - einen Schleimfilm auf der Hand zurücklassend.
Sisenna wischte sich die Hände an der Tunika ab, griff nach dem Geschenk und packte es aus.
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Noch immer beobachtete Cadhla das kleine Mädchen recht genau, auch, um herauszufinden, mit welcher Art Kind sie es zu tun hatte - es gab angenehme Kinder und solche, die von Natur aus verdorben waren und Neigung zur Grausamkeit besaßen, doch zumindest für den Moment schien es so, als sei Sisenna freundlich und nett. Wenngleich es für Cadhla auch nicht zu verstehen war, warum dieses Kind ihren Namen nicht verstand - fast hätte sie gesagt, Sisenna spräche undeutlich, denn 'Cata' hatte mit 'Cadhla' nicht mehr viel gemein. Aber vielleicht gehörte dieses Mädchen auch zu den Kindern, die auf solche Genauigkeiten wenig Wert legten, und sich erst später eine gewisse Sorgfalt anerzogen.
Dass sie Schnecken hervorkramte, die beide weder besonders noch außergewöhnlich wirkten, erstaunte die Keltin dann doch. Bei einem so sehr von allem möglichen Luxus umgebenen Kind wie Sisenna war es wirklich komisch, dass sie anscheinend Gefallen an so einfachen Existenzen wie diesen Schnecken gefunden hatte. Es ließ Sisenna jedoch normaler wirken, nicht ganz so aus der Welt gehoben wie die anderen Aurelier, die sie bisher kennengelernt hatte und die mit all den teuren Sachen um sie herum umgingen, als sei dies absolut unwichtig. Zumindest waren kleine Schnecken bedeutend angenehmer als ungezogene Wiesel, Eichhörnchen oder Hunde, die an jeder Ecke ihr Geschäft verrichteten - Cadhla blieb an Ort und Stelle, beobachtete nur weiter, was die Kleine tat - anscheinend übte das Geschenk dann doch den größeren Reiz aus.
"Diese haben Namen?" fragte sie, als das Geschenk ausgepackt war und deutete auf die beiden Schnecken. Verina hatte sich erst einmal aus Protest über das Bewegtwerden in ihr Haus zurückgezogen, während die Stielaugen von Helena langsam wieder unter dem Rand des Häuschens hervorlugten, um die Umgebung zu erkunden. Hübsch waren die Schnecken wirklich nicht, aber wenn das Mädchen ihr Herz an diese Tiere gehängt hatte, soillte es Cadhla recht sein. Warum sollte man einem Kind auch so etwas ungefährliches verbieten?
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Die Entdeckerfreude wuchs, je mehr Sisenna das Einschlagpapier entfaltete. Inzwischen klebten ihre Finger, was das Mädchen jedoch nicht störte. Nachdem auch die letzte Ecke des Papiers zurückgeschlagen war, lagen die süßen Köstlichkeiten frei, die also ein Geschenk von Onkel Corvinus darstellten, den Sisenna nicht einmal wirklich kannte. Zumindest erinnerte sie sich nicht an ihn. Weil er jedoch ohne besonderen Anlass Leckereien verschenkte, mochte sie ihn schon jetzt gerne leiden.
Daumen und Zeigefinger griffen nach einer Zuckerfigur, während die restlichen Finger in eher zweckmäßiger als übertrieben eleganter Weise abgespreizt waren. Nach kurzer Begutachtung steckte sie die Leckerei zunächst mit einer Spitze in den Mund und verkostete sie bedächtig. Ihre Augen blickten dabei in eine Zimmerecke, aber nur deswegen, um sich ganz und gar auf die Geschmackswahrnehmung konzentrieren zu können. Bald darauf verschwand die Leckerei gänzlich im Mund, was auf den positiven Ausgang der soeben vollzogenen Prüfung hindeutete. Leider bot der Mundraum weniger Platz als nötig, um permanent mit geschlossenem Mund kauen zu können. Sisenna wusste sehr wohl, dass ein Kauen mit geöffnetem Mund für ein wohlerzogenes Mädchen keineswegs schicklich war, daher legte sie ihre Rechte als Sichtschutz davor.Noch immer kauend, hörte sie die Frage der Sklavin, die sie, weil sie ein für Sisenna wichtiges Thema betraf, sogleich beantworten wollte. Dafür musste sie aber zunächst die Süßigkeit vollständig in eine Ecke des Mundes schieben, um wenigstens annähernd reden zu können, was natürlich auch nicht besonders schicklich war. Sie entschied sich dennoch dafür, weil ja nur eine Sklavin Zeuge dieser Unanständigkeit wurde, und wenn es um ihre Schnecken ging, war Sisenna ohnehin hellhörig, also wandte sie sich zur Sklavin um.
„Ja, das ist Helena.“ Sie wies auf die in ihrem Haus befindliche Schnecke. „Und diese heißt Verina.“ In diesem Augenblick fiel ihr ein, dass Onkel Cotta ja von den Sprachschwierigkeiten der Sklavin erzählt und sie diesbezüglich gebeten hatte, ihr Latein beizubringen. Sie würgte hastig die Süßigkeit herunter, um so deutlich wie irgend möglich sprechen zu können.
In Manier eines Schulmeisters wies sie nochmals mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf die erste Schnecke. „Hhhee.“ Sie betonte die Laute so gut es ging, schürzte die Lippen und atmete dabei schwer aus. Man konnte es aufgrund dieser zwei Buchstaben auch als Hauchen bezeichnen. „Lee… naa. Verstanden?“ Sie schaute fragend. „He…le…na. Und das ist Vvvee… rrii…naa. Und du heißt Caa…taa. Jetzt wiederhole langsam und deutlich.“
Es ließ sich nicht vermeiden, dass Sisenna ihre Lippen jeweils mitbewegte.
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In manchen Dingen mussten Kinder einander sehr gleich sein - die Erinnerung an ihre kleine Schwester war in dem Augenblick, in dem Sisenna ihre Süssigkeiten in den Mund schob, so übermächtig, dass sie einige Tränen der Trauer wegblinzeln musste, um sich keine Blöße zu geben. Wo mochte ihre kleine Schwester jetzt sein? Lebte sie überhaupt noch? Ohne ihre Eltern konnte sie kaum überleben, vor allem nicht, wenn diese Römer noch immer im niedergebrannten Heimatdort herumstromerten. Oder ... sie wagte nicht daran zu denken ... war sie vielleicht auch gefangen worden, würde sie als Sklavin aufwachsen? Die grünen Augen Cadhlas nahmen einen dunkleren Ton an, denn allein der Gedanke war so niederschmetternd, dass sie am liebsten geschrien hätte. Sie selbst wusste, wie die Freiheit schmeckte, aber ihre kleine Schwester, Fyn, sie würde sich irgendwann nur noch daran erinnern, anderen dienen zu müssen, das war doch kein Leben ... leise atmete sie ein und konzentrierte sich wieder auf Sisenna und die Schnecken des kleinen Mädchens.
"Che...leee..nah," sprach sie sorgfältig nach und versuchte, den Namen so zu betonen, wie Sisenna es tat, ohne damit freilich den gewünschten Erfolg zu erzielen, der Name war ihrer heimatlichen Sprache einfach zu fremd und zu wenig nahe. "Fe...ri..nah.." ging dann auch deutlich einfacher, wenngleich ebensowenig vollkommen richtig. Leicht nickte sie, um dann abermals ihren eigenen Namen zu sagen: "Ca..dhl..a." Das römische 'Cata' wollte ihr einfach nicht über die Zunge gehen, denn es war nicht ihr Name, und dass Sisenna dieses Wort nicht aussprechen konnte (oder wollte), war zumindest nach Ansicht der Keltin nicht ihr eigener Fehler. Helena indes schien der Unterricht zu langweilig zu sein, sie hatte die Fühler wieder gereckt und schien in Richtung Kante der Holzplatte zu streben, warum auch immer sie sich gerade diesen Weg ausgewählt hatte. Vielleicht hatte die Schnecke einen Sinn dafür entwickelt, was am ehesten der ihr bekannten Erde ähnelte - aber sie würde ihr Geheimnis zweifelsohne bewahren, ohne es an ihre Besitzerin zu verraten.
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