Atrium | Das Wiedersehen zweier Freunde

  • Der Sklave führte den Aurelier gemächlichen Schritts in Richtung des atriums der Villa Flavia - und sicherlich mochte der Besucher das ein oder andere Insignium zur Schau gestellter Größe und Reichtums aus seinem eigenen Domizil erkennen. Die Villa selbst schien sehr gut gepflegt zu sein, die Farbe der Wände war frisch, so manche Verzierung war mit Goldfarbe unterlegt, um den Ausdruck der Gemälde noch strahlender zu machen - alles in allem bot die Pracht des Besucherbereiches der Villa durchaus etwas für's Auge, vor allem, wenn man auf ein Familienmitglied warten musste. Höflich bedeutete der Sklave dem Besucher eine der gepolsterten Sitzbänke, während ein anderer Sklave herbeitrat und dezent sowohl zwei Becher als auch zwei Krüge mit Wein und Wasser arrangierte. Bei manchen Besuchern war dies einfach schon vorgesehen, da klar war, dass es ein längeres Gespräch werden würde - oder besser, bei manchen Besuchern gab es eindeutige Anweisungen, gegen die ein kluger Sklave wohl besser nicht verstieß.
    "Ich hole den dominus Aquilius. Fühle Dich frei, etwas zu Essen zu bestellen, solltest Du Hunger haben," sagte der Sklave, neigte den Kopf und drehte sich in Richtung der Korridore um, auf dass der Flavier von seinem Besuch erfahren sollte.

  • Dieses atrium glich in beinahe allen Hauptpunkten jedem beliebigen patrizischem atrium: Neben Büsten und Statuen fangen sich exquisite Wandbehänge, täuschend echt wirkende Gemälde und so manche Reliquien bereits vergangener Zeiten, die - gleich in der villa Aurelia - strategisch drapiert und anschaulich ausgestellt waren. Im Vorübergehen glitt mein Blick über die Büste eines geschiedenen flavischen Kaisers und damit meine Gedanken zum parthischen Krieg, in welchem Kaiser Ulpius momentan feststeckte. Obwohl ich, nicht anders als die meisten anderen Römer, die Auffassung vertrat, dass Rom schier unbesiegbar war und in Parthien einfach siegen musste und die Feinde bezwingen würde, so glitt mir dennoch der Gedanke durch den Kopf, dass es im Falle eines Falles keinen Caesar gab, der einen möglicherweise frei gewordenen Thron würde besetzen können.


    Während dieser Gedanken passierten wir das impluvium, dessen klares Wasser ich mit einem flüchtigen Blick bedachte, und dann gelangten wir an den Sitzgelegenheiten an, auf die der mich begleitende Sklave nun wies. Ich setzte mich vorerst, auch wenn ich wusste, dass mich bei Aquilius' Eintreffen nichts auf der Bank würde halten können. Die intensiven Gespräche und das gemütliche Beisammensein hatten mir gefehlt in Germanien, wie sehr, das merkte ich erst jetzt und maß es an der Wiedersehensfreude, die mich durchströmte, als der Sklave sich endlich anschickte, seinen Herren zu benachrichtigen. Hunger hatte ich keinen, daher nickte ich lediglich auf den Hinweis des servus hin und sah mich weiter in der Empfangshalle um, von denen Teile erst kürzlich überarbeitet und gestrichen worden zu sein schienen.


    Es dauerte einen Moment, doch schließlich vernahm ich Schritte auf dem sauberen Boden, ob es ein Sklave war oder ein Flavier, vermochte ich zuerst nicht zu sagen, doch als das markante Gesicht meines Freundes auftauchte, erhob ich mich und ging ihm entgegen. Kurz vor ihm blieb ich stehen. "Caius, welch Freude!" sprach ich herzlich und ganz so, als sei er der Besucher und ich der empfangende Hausherr, doch absichtlich geschah das nicht, und einen Moment später umarmte ich ihn freundschaftlich und klopfte ihm gut gelaunt einige Male auf den Rücken. "Viel zu lange ist es her, dass wir uns gesehen haben!" sagte ich, als ich ihn wieder losgelassen hatte und grinste ihn an. "Dein Brief erreichte mich leider nicht in Germanien, ich hatte schon das Schlimmste befürchtet, aber es scheint dir ja ganz gut zu gehen, wie ich sehe. Banausem beim cursus publicus, die Adresse war verwässert und daher hat man den Brief hier in Rom abgegeben. Ich kenne also den Inhalt - aber ist es wirklich wahr, du warst ein Fischer und hast ein Kind?" Ob meiner Verblüffung vergaß ich sogar, mich wieder zu setzen.

  • Es war die Rückkehr, auf die ich lange gewartet hatte, und selbst wenn ich in jenem Augenblick, in dem der Sklave mich von dem Besuch meines guten Freundes in Kenntnis setzte, bei einer Frau gelegen hätte, sie hätte warten müssen. Da es allerdings nur ungeliebte Schreibarbeit war, bei der mich der Sklave antraf, fiel es mir umso leichter, alles stehen- und liegen zu lassen, in das atrium zu eilen und meinen so lange nicht gesehenen Freund zu begrüßen.
    "Marcus! Bei den Göttern, es ist viel zu lange her!" Schon umarmten wir uns, klopften uns gegenseitig auf den Rücken, und ich kam nicht umhin zu bemerken, dass aus dem einstig agil wirkenden Jungen doch ein erwachsener Mann geworden war, dessen Gesichtszüge dies auch wiederzuspiegeln wussten. Er schien gereift, aber zu seinem Vorteil, das Kindliche hatte sich verloren und blieb nur in seiner deutlich gezeigten Freude zurück.


    "Na, ich hätte es wissen müssen, dass es der cursus publicus verschlampt hat, ich war sehr erstaunt, so lange nicht von dir zu hören, nachdem ich Dir geschrieben hatte - aber nun wissen wir ja, woran es lag. Das nächste Mal werde ich diesem faulen Haufen Beine machen, soviel ist sicher," sagte ich kopfschüttelnd und blickte meinen Freund offen und doch auch forschend an, als gelte es, alle Unterschiede zu dem Bild in meinem Kopf, das ich meiner widerwilligen Erinnerung entrissen hatte, herauszufinden. Bei seinen Fragen hob ich allerdings schnell abwehrend beide Hände und lachte.
    "Nicht so schnell, Marcus, nicht so schnell. Noch bin ich nicht Vater, aber ich denke, es wird bald der Fall sein, die Frau, die mich fand und pflegte, wird bald die Mutter unseres Kindes sein. Vorausberechnet wird es wohl in wenigen Wochen zur Welt kommen, wenn die Götter gnädig sind und alles ohne Komplikationen verläuft. Und ja, ich habe als Fischer gelebt," fügte ich an und wies ihm eine der Sitzbänke, um mich selbst neben ihm niederzulassen. "Aber Du warst auch nicht untätig, wie es mir scheint. Verlobt, tribunus laticlavius ... nicht schlecht für die kurze Zeit."

  • Wir musterten uns gegenseitig, und während er feststellte, dass ich kaum mehr etwas Knabenhaftes an mir hatte, musste ich feststellen, dass er braungebrannt und sein Haar von hellerer Farbe war, als ich es in Erinnerung hatte. Seinen Worten den cursus publicus betreffend konnte ich nur beipflichten, hatte ich doch kürzlich wieder von Neuem den Eindruck gewonnen, die Linke wisse nicht, was die Rechte tut in dieser Institution. "Meinen neuesten Erkenntnissen zufolge ist auf den cursus publicus ohnehin kaum mehr Verlass. Dein Brief war bei weitem nicht der einzige, der nicht ankam, und darüber hinaus gab es zahlreiche Dokumente, die Mogontiacum verspätet erreichten oder nicht einmal den Weg in die villa Aurelia hier zu Rom fanden. Bedauerlich, aber nicht zu ändern. Wenn du willst, dass deine Sendschreiben fristgerecht irgendwo eintreffen, schickst du am besten deinen eigenen cursor auf die Reise", erwiderte ich und hob die Schultern.


    Gern folgte ich seiner Einladung und ließ mich neben ihm und ihm zugewandt auf einer Sitzbank nieder, im Rücken das impluvium. Mit unverhohlenem Erstaunen folgte ich seinen Ausführungen und schüttelte schließlich den Kopf. Ich konnte kaum glauben, was er mir da erzählte. "Du musst zugeben, es klingt wahrlich abenteuerlich, was du da erzählst. Dass du es wirklich erlebt hast, ist kaum zu fassen. Wie kam es überhaupt dazu, dass du gerettet werden musstest? War nicht eine Flavia der Grund? Daran meine ich mich zu erinnern... Aber hat dich denn niemand gesucht? Dein Verschwinden ist doch gewiss aufgefallen."


    Kaum drehte er den Spieß um, musste ich grinsen und warf einen flüchtigen Blick in das Wasserbecken, welches Leontias Seerosen zierten. "Naja, so kurz war die Zeit nicht - unser letztes Zusammentreffen ist mehr als zwei Jahre her, Caius. In zwei Jahren kann sich vieles ändern." Ich drehte den Kopf und blickte in seine Augen, zuerst nur schmunzelnd und dann leise lachend. "Das Weib scheint dir wirklich den Kopf verdreht zu haben, mein Freund, in welcher Art auch immer", spottete ich und legte ihm grinsend eine Hand auf die Schulter.

  • Mit einem Achselzucken tat ich das unangenehme und wenig erfolgversprechende Thema 'cursus publicus' gänzlich ab - der Brief hatte letztendlich wohl doch sein Ziel erreicht, und mein Freund war bei mir, was wollte man schon mehr? Ob ich wieder einen Brief mit diesem unzuverlässigen Dienst schicken würde, war allerdings eine ganz andere Entscheidung, die ich jetzt noch nicht treffen wollte. Als wir nebeneinander saßen, atmete ich ruhiger - war mir das Herz doch schneller gegangen, immerhin war die Freude darüber, ihn wiederzusehen, größer, als ich es im voraus gesehen hatte. Nicht zuletzt, weil ich mich sehr gut jener Augenblicke entsann, die uns einst einander sehr nahe gebracht hatten, bevor wir den Weg der körperlichen Nähe verlassen und den der Freunde eingeschlagen hatten. War es die zu lange absenz eines geliebten Menschen, die mich unwillkürlich reagieren ließ oder lag es daran, dass wir uns einfach lange nicht mehr gesehen hatten und ich eins ums andere Mal entdecken musste, dass der Junge zum Mann geworden war? Alles an seiner Körpersprache verriet es, die Haltung nicht minder. Für einen flüchtigen, ganz unwesentlichen Augenblick lang fühlte ich mich alt.


    "Zwei Jahre?" murmelte ich und runzelte die Stirn. War die Zeit wirklich so schnell verflogen? Kaum zu glauben, aber es musste wohl so sein, wenn er es sagte - die immernoch auftretenden Lücken in meinem Gedächtnis machten mir den Alltag noch immer schwerer, als ich es wahrhaben wollte. "Zwei Jahre ... mir kam es kürzer vor, aber ... erstaunlich, wirklich. Nun .. mein Verschwinden war wohl eine Verkettung ungünstiger Zufälle, wie es so oft ist. Tatsächlich war eine meiner Nichten von einem Sklaven entführt worden, und ihr Vater und ich jagten den beiden nach, um sie zu retten." Ich verschwieg wohlweislich, dass Rutger der Übeltäter gewesen war, denn Rutger war tot - zumindest hatte ich es so entschieden. "Auf dem Weg gerieten wir in ein heftiges Unwetter, und ich wurde von meinem Vetter getrennt - es muss mich wohl ein Fieber befallen haben, denn ich erinnere mich erst wieder an das Gesicht der Fischerin, die mich gesundpflegte, an nichts dazwischen. Und sie erzählte mir, ich sei ihr Mann, der auf See krank geworden sei ... da mir das Gedächtnis leer war, glaubte ich diese Lüge und lebte als Fischer, damit die Familie überleben konnte. Nunja ... sie sagte, sie sei meine Frau, und so geschah es eben. Als die Erinnerung zurückkehrte, war es zu spät und sie war schwanger ... nun werde ich Vater. Es muss verrückt klingen, nicht wahr?"


    Ich hob den Blick etwas zu ihm an und schmunzelte ein wenig. "Wenigstens muss ich mir keine Sorgen um Erben machen, mir scheinen sie geradezu zuzufliegen, während sich andere abmühen müssen. Letztendlich hat es mich zu der Erkenntnis gebracht, dass es wohl irgendwann mal an der Zeit ist zu heiraten, nicht zuletzt, um in diesen Dingen Klarheit zu schaffen." Ich ließ eine kleine Pause und atmete langsam aus, als könnte die Verwirrung meiner jüngsten Vergangenheit so ebenso schwinden. "Aber erzähle mir von Dir: Wie kamst Du denn mit Deiner Adoptivschwester zusammen? Das muss ja auch nicht gerade ein alltägliches Erlebnis gewesen sein."

  • "Zwei Jahre", bestätigte ich und nickte. Was mochte nur mit ihm geschehen sein, dass er jegliches Zeitgefühl verloren hatte? Die Antwort auf meine stumme Frage folgte auf dem Fuße, als er mir von der Verkettung unglücklicher Umstände berichtete, die ihn ins Nirwana verschlagen und zum Fischer gemacht hatten. Mit großem Interesse lauschte ich dieser - wie sie mir erschien - abenteuerlichen, ja beinahe fantastisch anmutenden Geschichte. Unvorstellbar, dass es wirklich Aquilius war, dem die Schicksalsweberinnen diesen Weg gesponnen hatten! Aber er sagte es ja selbst: Diese Geschichte klang verrückt. Ich schüttelte erstaunt den Kopf. "Wahrhaftig, Caius. Hätte ich diese Worte auf der Straße aufgeschnappt, ich hätte den Sprechenden für einen Schwachsinnigen gehalten. Du und Fischer! Ich stelle mir einen fischenden Patrizier vor, womöglich mit einem Strohhut auf dem Kopf, gekleidet in eine einfache tunica, wie er breitbeinig in einer kleinen Jolle balanciert und sein Netz auswirft, um die spärliche Ausbeute einiger weniger Makrelen zu fangen. Beim Iuppiter, und die Sonne brennt ihm dabei auf den Kopf, der sein vormaliges Leben vollkommen verdrängt hat!" Fassungslos und zugleich bewundernd schüttelte ich den Kopf. Allein die Vorstellung, in einer kleinen Hütte zu leben - ohne fließendes Wasser, ohne die vielen Annehmlichkeiten eines patrizischen Lebens - erschien mir undenkbar. Ich schüttelte abermals den Kopf, betrachtete dann die braungebrannte Haut meines Freundes und sein flachsblondes Haar. Die Worte über die Erben indes waren ein Scherz, dessen war ich mir sicher, zumindest was den ersten Teil betraf. Denn wer bestimmte schon uneheliche Bastarde zu seinen Erben? Beim letzten Teil des Satzen allerdings horchte ich auf. Auch Furianus hatte schon davon gesprochen, bald heiraten zu wollen. "Vermutlich könnte ich dir behilflich sein, was eine passendere Gattin als diese Fischersfrau anbelangt", entgegnete ich daher geheimnisvoll und schmunzelte Aquilius an. "In Kürze wird es ein Fest geben, mein Vetter, Cotta, ist gegenwärtig mit den organisatorischen Einzelheiten beschäftigt. Auf dieser Festivität gibt es sicherlich einiges zu entdecken, Caius, allen voran meine reizende Nichte Prisca und meine hübsche Cousine Helena. Ein Datum steht zwar noch nicht, aber du wirst selbstverständlich eingeladen werden", versicherte ich ihm und legte in einer vertrauten Geste meine Hand auf seine Schulter. "Deandra, ja, sie werde ich dir dann ebenfalls vorstellen können, sofern du sie noch nicht kennst."


    Vor den weiteren Ausführungen überlegte ich einen kurzen Moment. "Nun ja, das ist eine seltsame Geschichte, das gebe ich zu. Sie hatte die Aurelia ja freiwillig verlassen, um meinem Vetter Sophus den Weg zu ebnen, was eine Heirat anbelangte. Zwischen uns war schon immer ein besonderes Verhältnis. Nach ihrem genswechsel traten dann die ersten Schwierigkeiten auf, wenn man es so nennen mag. Ich war mit dem Wechsel nicht einverstanden, mit der geplanten Heirat schon gar nicht - du kennst das vielleicht: Großer-Bruder-Syndrom - und als ich mir endlich eingestand, warum ich diese Dinge nicht billigen konnte, wusste ich auch, warum Deandra immer schon etwas Besonderes für mich gewesen war. Das klingt ebenfalls verrückt, hm? Leider wissen nur wenige, dass Deandra schon von meinem Vater adoptiert worden war. Böse Zungen werden also von Inzest sprechen, bedauerlicherweise." Ich zuckte mit einer Schulter und betrachtete Aquilius stumm. "So hat jeder von uns ein kleines Problem. Du die Fischerin und ihr Kind, ich die Gerüchteküche, die mich umgeben wird, sobald es hart auf hart kommt - was aber gewiss noch eine Weile dauern wird, da ich mit der Heirat noch etwas warten will."

  • "Eine seltsame Vorstellung, nicht wahr?" Ich musste selbst über das Bild schmunzeln, das seine Worte heraufbeschworen, und schüttelte dann leicht den Kopf. "Es ist nicht so einfach und simpel, wie man es sich vielleicht vorstellen möchte, denn die Familie, die mich aufnahm, war sehr arm, der Vater meiner ... nunja, damaligen .. "Frau" ... war siech und sie musste die Familie ernähren. Dass sie mich als Ehemann verkauften, als sie merkten, dass ich mich an nichts erinnerte, kann ich trotz aller Lügen durchaus nachvollziehen, in großer Not tun Menschen oft seltsame Dinge, um zu überleben, und sie hing sehr an ihrem Vater, wollte einen guten Lebensabend für ihn. Ich war nicht einmal unglücklich über dieses Leben, wundert Dich das? Wenn alle Schwierigkeiten des Lebens darauf beschränkt sind, die Familie zu ernähren, ab und an mit anderen Fischern zusammen zu sitzen und die Feste zu feiern, die für einen Fischer wichtig sind, nachts einen warmen Leib an der Seite zu spüren, dessen Nähe viele Sorgen hinwegschmelzen lässt ... es wird wohl niemand nachvollziehen können, dass man über einen guten Fang durchaus glücklich sein kann, und über einen guten Preis dafür noch mehr." Wieder schmunzelte ich, durchaus mit einem gewissen Maß an Unverständnis oder mildem Spott rechnend, denn mit dem zwar luxuriösen, doch ausgesprochen komplizierten Leben eines Patriziers ließ sich die Existenz eines Fischers kaum vergleichen.


    "Auf euer Fest bin ich gespannt - denn nichts würde mich mehr freuen, als mich mit der Familie meines Freundes auf diese Weise verbinden zu können, und in welchem Rahmen kann man sich schon besser ungezwungen kennenlernen als bei einem Fest unter Patriziern? Ich werde gern den ein oder anderen Blick auf Deine Verwandten werfen, letztendlich kennst Du mich, und Du weisst, dass ich nicht den Rang eines Senators, dennoch aber das ein oder andere zu bieten habe." Als er das Thema 'Deandra' anschnitt, nickte ich sachte zu den Worten, denn auch ich hatte mich gewundert, ob hier nicht doch ein inzestuöses Verhältnis vorliegen mochte - seine Worte wussten mich allerdings vorerst zu beruhigen.
    "Bei all den Adoptionen solltest Du Dich allerdings fragen, wie beständig ihre Wünsche und Werte sind, Marcus, denn aus Liebe eine Familie zu verlassen, die einem über viele Jahre ein verlässliches Heim und Stütze geboten hat, erscheint mir unreflektiert und vor allem voreilig, man weiss doch, wie wetterwendisch Frauen sein können. Ich möchte nicht, dass Du Deinen Entschluss, dem Gefühl gefolgt zu sein, irgendwann bereuen musst, weil sie wieder einmal in irgendeine andere Richtung blickt und dann glaubt, dort etwas passendes gefunden zu haben. Ich vermag ihren Charakter nicht zu beurteilen, doch selbst ohne diesen Inzest-Kontext haftet der ganzen Sache ein Geschmack an, gegen den ihr beide werdet lange aktiv und geschlossen angehen müssen. Zweifel darf es zwischen euch dann nicht geben."

  • "Eben drum, Caius, werde ich mit der Heirat ganz gewiss nichts überstürzen", bemerkte ich leicht abwesend, denn seine Worte hatten mein Denken in eine Richtung gelenkt, die ich gedanklich bisher erfolgreich umschifft hatte. Ich hatte ohnehin nie verstehen können, was sie an Sophus fand, oder auch, warum sie wegen einer schlichten Romanze, so es denn eine gewesen war, gleich die Familie hatte verlassen müssen. Dennoch gereichte mir selbst ihre Tat nun zum Vorteil. Oder war es doch ein Nachteil? Würde ich mit einer Anderen glücklicher werden, zufriedener, sorgloser? Hatten Deandra und ich nicht einiges eingebüßt, seitdem wir nicht mehr Bruder und Schwester füreinander waren? Gedankenverloren drehte ich den Weinbecher langsam in den Händen. Sprunghaft...war sie das? Diese Frage konnte ich im Schlaf beantworten: Oh ja, sie war sprunghaft, definitiv. Sie hatte ihren eigenen Kopf, ihre eigenen Vorstellungen und ein Wesen, das gänzlich anders war als das anderer Frauen, besonders Patrizierinnen. War es nicht das, was ich so an ihr mochte? Oder gemocht hatte, als sie noch meine Schwester gewesen war? Verwirrt blickte ich in die dunkelrote Flüssigkeit. Mein Schweigen musste Aquilius bereits mehr sagen als alle Worte es vermocht hätten. Bei jedem anderen außer vielleicht Prisca hätte ich mich anders gegeben als hier. "Hm", machte ich schließlich, um das sich ausbreitende Schweigen nicht endlos in die Länge zu ziehen. "Ich merke gerade, wie hilfreich die Worte eines annähernd neutralen Betrachters doch sein können, Caius. Deandra ist in der Tat sprunghaft und agil. Allerdings geschah die Aufnahme in meine Familie bereits im Säuglingsalter. Nichtsdestotrotz nehme ich deine Worte ernst und werde darüber nachdenken, mein Freund." Aquilius erntete ein ehrliches Lächeln. Er hatte vollkommen recht, wenn er behauptete, dass ein weniger bürgerliches Leben auch weniger Schwierigkeiten bedeutete. Gerade an diesem Beispiel wurde es mir nun besonders deutlich. "Ich verstehe dich gut, wenn du sagst, dass dir das Fischerleben in seiner Einfachheit gefallen hat. Aber so ein Dasein ist dennoch nichts für uns, Caius. Uns ist ein anderer Weg vorgezeichnet als jener der einfachen oder mittellosen Männer. Du wirst einmal ein flamen martialis werden, ganz bestimmt, und ich... Mal sehen, was mein Weg noch für Überraschungen bereithält." Ich stellte den Becher fort, zum Zeichen für mich selbst, dass es nun genug des Nachdenkens über mich selbst und meine Zukunft sei, immerhin war ich nicht gekommen, um Aquilius mein Leid zu klagen, wenn vorhanden. Für einen Moment wünschte ich mir die Unbeschwertheit und schiere Uneingeschränktheit der Kindheit zurück, doch dann war der Moment auch schon verflogen und ich betrachtete in meiner weißen toga meinen Freund Caius. "Ich hörte, dein Verwandter, Furianus, sei derzeit als proconsul im Gespräch? Wenn du mich fragst, ist es kein Wunder, dass man diesen versoff... Matinius abgesetzt hat. Wenn Hispanien von sich Reden gemacht hat, dann wegen der Untätigkeit des amtierenden proconsul. Falls Furianus das Rennen macht, dürfte sich da unten so einiges ändern."

  • Die vergangenen Jahre - es waren wirklich Jahre gewesen, auch wenn dieser Gedanke noch immer sehr fremdartig für mich war, vor die schiere Last dieser Erkenntnis gestellt, wollte sich alles in mir vor dem Vergehen der Zeit sträuben - schienen aus meinem einstmals so leicht zu begeisternden Freund einen nachdenklichen Mann gemacht zu haben, was sicher kein Nachteil war. Die wenigsten Männer überstanden ein politisches Amt ohne Skandale, wenn sie sich nicht ein Mindestmaß an rationaler Überlegung behielten, und gerade als Patrizier durfte man nicht zuviele Fehler machen, fiel es doch stets auf den bekannten und altehrwürdigen Namen einer berühmten Familie zurück.
    "Wie gesagt, ich kann nur nach dem ersten Eindruck urteilen, den Deine Worte hinterlassen haben, Marcus, es liegt mir nichts ferner, als zu versuchen, ihren Charakter abschließend zu beurteilen, denn das könnte ich nicht. Ich fände nichts schrecklicher, als Dich in einer unglücklichen Ehegemeinschaft gefangen zu sehen, denn auch die Liebe ist hier nicht der beste Ratgeber. Wie es die Ahnen sagten, solle ein Mann stets das rechte Maß zu wahren wissen, lieben, solange er wolle, und Ehen zum Wohl seiner gens eingehen." Ob vor dieser Entscheidung sein Entschluss, die ehemalige Schwester zu ehelichen, der richtige Weg war, lag allein in seinem Ermessen, und man würde sehen müssen, was sich daraus ergab.


    "Es ist seltsam, doch an manchen Tagen sehne ich mich in diese anstrengende Einfachheit zurück. Der Fischer Aquilius musste sich nicht um den Namen seiner Familie sorgen, nicht darüber nachdenken, ob er nicht doch lieber den Weg eines Politikers gehen soll anstatt den eines Priesters, und so weiter und so fort. Das Leben ist zwar hart, aber man kann sich über einfache Dinge mehr freuen, als wir es in all dem Luxus und Überfluss noch können, der uns hier zur Verfügung steht ... aber jede Seite hat wohl ihre Vorzüge. Ich habe meine Schriftrollen hier wiedergefunden wie gute Freunde, die nur auf mich warteten," überlegte ich laut, wenngleich nicht zu laut, sodass seine Gedankengänge nicht gestört würden. "Was Furianus angeht: Ich weiss nicht, ob Hispania mit ihm einen guten Fang gemacht hat. Er bemüht sich stets um neue, hohe Ämter, doch was wäre er ohne die Fürsprache seines Vaters? Was wäre er, würde er sich alles selbst erarbeiten müssen? Ich denke nicht, dass sich viel mehr tun wird als unter Matinius."

  • Nachdenklich gewahrte ich auch die folgenden Worte Aquilius', und diesmal entgegnete ich nichts, einfach aus dem simplen Grund, dass es nichts dazu zu sagen gab, da alles schon gesagt war. Was letztendlich aus meiner privaten Zukunft werden würde, vermochte ich nicht zu sagen, wenngleich ich mir für meine Karriere feste Ziele gesteckt hatte und versuchen würde, sie mit allem Ehrgeiz zum Wohle und Ansehen meiner gens zu verfolgen, den ich aufbringen konnte. Wenn das bedeutete, privat unglücklicher zu sein als ohne die selbstgesteckten Ziele, dann war das unvermeidbar und meine Privatangelegenheiten mussten eben warten, bis ich meine Ziele erreicht und mein Soll erfüllt hatte. Das Letzte, was ich wollte, war meinem Vater einst im elysium gegenüberzutreten und seinem prüfenden und fragenden Blick nicht standhalten zu können.


    Aquilius' Sehnen indes konnte ich immer besser nachvollziehen, auch wenn ich mir selbst verbot, auch nur in einer solchen Weise zu denken. Denn wann sonst würde man der Trägheit anheim fallen, wenn nicht in jenen Momenten, da man sich alles einfach und geradlinig wünschte? Und dennoch pflichtete ein gar nicht so kleiner Teil meiner Selbst Aquilius und seinen Überlegungen bei. Ich winkte eine Sklavin herbei und deutete auf meinen Becher. "Mehr Wein", verlangte ich nebensächlich, denn mein Hauptaugenmerk galt immer noch dem Freund, der neben mir saß. "Die Vorstellung, allen Stolpersteinen aus dem Weg zu gehen, klingt reizvoll. Aber wer wären wir, wenn wir nicht versuchten, die Bemühungen unserer Ahnen fortzuführen, indem wir die Wege beschreiten, die sie uns geebnet haben?" sinnierte ich vor mich hin. Mir kamen die Worte im Brief meines Vaters ins Gedächtnis, und obwohl ich doch eben noch beschlossen hatte, Aquilius mit meinen Problemen zu verschonen, so drängten sich die Worte förmlich aus meinem Mund hinaus, als wollten sie mit aller Macht das Ohr meines Freundes erreichen. "Wir alle haben Verpflichtungen, auf uns allen ruht ein prüfender Blick, Caius. Spürst du ihn bisweilen auch? Seit mich in Germanien eine Nachricht meines Vaters erreichte, in der er mich über den Tod meiner Mutter und seine Absicht, ihr zu folgen, informierte, spüre ich diesen durchdringenden Blick in jeder Sekunde einer jeden Stunde auf mir liegen, in der ich wanke oder die Dinge einmal schleifen lasse. Die mir auferlegte Verantwortung scheint mir übermächtig und droht mich zuweilen einfach zu verschlingen. Es war so einfach, sich treiben zu lassen, und nun verlangt ein jeder von mir, dass ich mit tatkräftigen Schritten als Vorbild, Freund, Vertrauter und Erbe meine Vaters tapfer voranschreite. Aber ich bin nicht tapfer, Caius, ich bin unsicher und stehe im Zweifel mit mir selbst, ob das, was ich tue, genug ist, jemals genug sein kann." Ich blickte Aquilius an, Furianus war vergessen.

  • Ich bemerkte nur aus den Augenwinkeln, wie die Sklavin dem Befehl meines Freundes folgte, und ließ mir selbst von ihr nachfüllen, ein solches Gespräch über Zukunft und Vergangenheit verlangte einfach nach Wein, und noch mehr, nach bedingungsloser Offenheit. Wann blieb einem Patrizier denn die Freiheit, einem anderen zu vertrauen? Wann durfte man wirklich ehrlich sein, ohne zu tief bereuen zu müssen? Ich konnte es nur auf die Probe stellen und hoffen, mehr blieb mir nicht, und auch ihm nicht.
    "Mein Vater hat leider nicht die vorausschauende Art des Deinen besessen, mir Steine aus dem Weg zu räumen, ich darf hingegen gegen sein Erbe und den schlechten Ruf meines Familienzweigs ankämpfen, wo immer ich stehe - letztendlich kommt es doch wohl eher an, dass man sich seinen Weg wählt und ihn nach bestem Können und Wissen beschreitet. Wann immer ich einen Blick meiner Ahnen spüre, ist es eher der Unwillen meines Vaters, dass ich nicht der große Politiker wurde, wie er es sich gewünscht hat, und die Nachsicht meiner Mutter. Indes, bei Dir und den Deinen dürfte es anders sein, und ich kann gut verstehen, dass Dir dies wie eine große Last vorkommen muss, gibt es doch sonst kaum einen Mann Deiner Familie, der sich in irgendeiner Form ausgezeichnet hätte, und die Last der Verantwortung für mehrere Frauen und Vetter liegt auf Dir."


    Ruhig legte ich ihm meine Hand auf die Schulter und lächelte ihm aufmunternd zu. "Meine Mutter sagte mir einst, ein Mensch erhielte von den Göttern immer das rechte Maß an Last, um ihn zu prüfen, und auf dass er sich daran verbessere. Wärst Du ohne Zweifel, ohne Furcht, würdest Du Fehler machen und diese nicht einmal sehen, die Zweifel sorgen für sorgfältigere Vorausplanung und genaueres Besinnen auf die wichtigen Punkte eines Plans. Ich denke, wenn diese Last Dir gegeben ist, dann nicht ohne Grund, und auch nicht ohne die Möglichkeit, daran zu wachsen und reifer zu werden. Bedenke, was Du vor zwei Sommern warst, und was Du nun bist - der Familienvorstand, ein geachteter Mann, der glücklich verlobt ist und dem alle Türen offen stehen. Du wirst sicherlich Deinen Weg machen, auf Deine Weise, und wenn diese nicht hunderprozentig dem entspricht, was Dein Vater getan hätte, wirst Du damit leben müssen, dass es ihm vielleicht nicht recht ist - hast Du Erfolg, wird er Dir recht geben müssen. Und ich bin mir sicher, dass Du die Kraft, die Intelligenz und das rechte Herz hast, um Erfolg zu haben." Meine Worte klangen sicher und überzeugt, und so war ich auch sicher, dass er sich der Verantwortung als wert erweisen würde, die er trug - immerhin war er, wer er war, und er hatte schon vieles erreicht. Doch auch der stärkste Mensch brauchte bisweilen einfach etwas wohlmeinenden Zuspruch.

  • Die Melancholie hatte mich fest im Griff, während ich Aquilius' Worten Gehör schenkte. Und wenn ich genauer darüber nachdachte, so hatte mein Vater mir ebensowenig Steine aus dem Weg geräumt wie der Vater meines Freundes. Dennoch konnte ich den so vielfältig erforderlichen ordo senatorius nur aufgrund seiner Verdienste vorweisen. Und hatte er micht nicht die Dinge gelehrt, die einen pflichtbewussten Römer ausmachten? Letztendlich kommt es doch wohl eher an, dass man sich seinen Weg wählt und ihn nach bestem Können und Wissen beschreitet. Ja, darauf kam es an, darauf zuallermeist. Doch was, wenn man den falschen Weg eingeschlagen hatte und sich nun fürchtete, zurückzugehen?


    Ich schob diese Gedanken fort, sie würden mich nur mehr Wein verköstigen lassen als zu dieser Tageszeit gut für mich war. "Es ist anders, da hast du recht", pflichtete ich Aquilius bei. "Mir wird keine Geringschätzung durch meinen Vater zuteil, aber auch kein helfender Rat mehr", gab ich zu bedenken und musterte das sonnengebräunte Gesicht Aquilius'. Es gibt sonst keinen, der sich ausgezeichnet hat. Bedauerlicherweise hatte er auch hier wieder vollkommen recht, wobei auch das "sonst" nicht ganz stimmte, denn ausgezeichnet hatte ich selbst mich meines Empfindens nach auch noch nicht. "Das mag sich bald ändern, mein Neffe und mein Vetter wollen sich zur Wahl aufstellen lassen. Und was die Frauen anbelangt..." Ich hielt inne und schmunzelte. "Ich hoffe, dass sich früher oder später jemand an dieser Last beteiligen wird, mein Freund."


    Ich sah flüchtig auf die Hand auf meiner Schulter hinunter. Eine Erinnerung an einen holprigen Ritt auf dem Rücken eines Rappen durchzuckte mein Gedächtnis, und mir wurde leicht flau im Magen, nicht zuletzt wegen des überdeutlichen Zuspruchs, der mir durch seinen Mund entgegenschlug. Was konnte ein Mann nun entgegnen? Nichts erschien mir sinnvoll oder angemessen, ein schlichtes Danke wäre zu wenig, und vollends in Selbstmitleid verfallen wollte ich ebenfalls nicht. Aquilius' Worte klangen so aufrichtig, dass ich es darüber hinaus nicht übers Herz brachte, laut zu widersprechen. Da wir unter uns waren, legte ich statt eines Danks nur meine Hand auf seine und nickte ihm dankbar und mit einem flüchtigen Lächeln zu.


    Stille drohte sich auszubreiten, ein unverfänglicheres Thema musste her. Ich nahm meine Hand fort, sah einen Moment darauf hinab und blickte wieder zu Aquilius. "Vielleicht möchtest du schon vor dem Fest einmal vorbeikommen? Ich könnte eine kleine cena arrangieren, falls du Lust hättest? Bei kleineren Veranstaltungen ist es zumeist leichter, sich kennenzulernen, was meinst du? Eventuell haben dein Vetter Gracchus und seine Gemahlin ebenfalls Lust, uns schon eher einmal zu besuchen. Falls du die Gunst der Stunde nicht gänzlich allein nutzen willst, heißt das", sagte ich und grinste kurz.

  • Nachdenklich wirkte er, und nachdenklich war auch ich. Hatte mein Vater mir wirklich so viele Steine in den Weg gelegt, wie es mir schien? Der Ruf des hispanischen Zweigs der Flavier war desolat, und ich hatte Zeit meines Lebens dagegen ankämpfen müssen - früher war es mir egal gewesen, jetzt war es dies nicht mehr. Aber so vieles lag in einem dunklen Nebel des Vergessens, und war meiner Erinnerung vollkommen entglitten. Letztendlich würde ich mich an meinen eigenen Rat halten müssen, um irgendwo einen Halt zu finden, denn im Augenblick schien ich eher der Haltepunkt für andere geworden zu sein. "Ich bin mir sicher, wenn sie auch nur einen geringen Teil Deiner Begabungen besitzen, werden sie sehr erfolgreich sein." Seine Worte über seine Hoffnung, irgendwann seine Last nicht mehr alleine tragen zu müssen, ließen mich melancholisch lächeln - denn ich glaubte inzwischen nicht mehr daran, dass es so etwas geben könnte. Selbst Gracchus war eine solche Ehe nicht vergönnt gewesen, und er schien mir durch diese Verbindung mit Claudia Antonia nur noch sorgenschwerer als zuvor. Mochte meinem Freund ein anderes Schicksal beschieden sein, ich wünschte es ihm wirklich - und so behielt ich meine Zweifel am Leben allgemein und an der Ehe im besonderen für mich.


    Für einige längere Momente tauschten wir Blicke, und ich musste wieder einmal feststellen, wie sehr er vom Jungen zum Mann geworden war. Fast beneidete ich ihn um die Gelegenheiten, die erst vor ihm lagen, und die ich längst verschenkt hatte. Die andere Erinnerung, die blitzartig zurückkehrte, war gänzlich anderer Natur, schmeckte vertraut, verlockend und doch vollkommen ungenießbar, gerade diese Erinnerung musste ich unterdrücken, so willkommen sie vielleicht auch gewesen sein mochte:
    Das Gefühl seiner Lippen auf den meinen, im Heim seiner Eltern, an einem heißen Sommertag, ein Ausritt, aus dem mehr hätte werden können ... nein, nicht mehr, nicht jetzt. Ich blinzelte einige Male, fühlte dem Druck seiner Hand nach und quittierte sein Lächeln mit einem leichten Nicken. Vielleicht war es ganz gut, dass er seine Hand schließlich fortnahm und mir die Qual ersparte, mich vor Erinnerungen schützen zu müssen, die ich mir verbieten musste. Dennoch, ein Teil von mir wünschte, er hätte es nicht getan.
    "Warum nicht? Eine private cena bietet sicherlich mehr Gelegenheit, sich ein wenig kennenzulernen als eine lärmende Festivität mit was weiss ich wievielen anderen, bei denen man dann neben dem Knüpfen neuer Kontakte auch dauernd glänzen und interessant wirken muss. Manius und seine Gemahlin sind sicherlich gerne mit von der Partie, ich werde sie gleich nachher fragen - oder möchtest Du ihnen schreiben?"

  • Ich konnte eigentlich nur beipflichten. Denn auch wenn meinen Verwandten nicht meine Stärken und Schwächen mit dem aurelischen Blut gegeben worden waren, so besaßen doch beide eine bemerkenswerte Persönlichkeit, die sie einmal in den Senat bringen würde, sofern sie sich keine größeren Patzer leisteten, hieß das. Aber davon ging ich eigentlich nicht aus.


    Aquilius erschien mir mit seiner Odyssee gleichsam ruhiger und besonnener geworden zu sein. Während wir uns stumm musterten, dachte wohl jeder über den anderen nach. Ich ertappte mich bei der Frage, was ihn wohl in jenem Moment beschäftigte, doch dann sah ich fort, hinein in den Weinbecher, der erneut nur noch zur Hälfte gefüllt war uns seinen aromatischen Weinduft verströmte. Es waren gleichermaßen wehmütige wie reumütige Gedanken, dich mich beschäftigten. Doch allesamt schob ich sie fort und ging umso bereitwilliger auf das von mir selbst angestoßene Thema ein. "Ja, da hast du ganz recht." Zu den Feierlichkeiten würde natürlich ein Gros an Gästen geladen werden, Verwandte, Bekannte, Freunde und die höheren Persönlichkeiten, sofern sie nicht ohnehin zu den ersteren drei Gruppen gehörten. "Was deinen Vetter betrifft, so kannst du es gern schon erwähnen. Ich werde der Form halber aber auch noch eine Einladung an ihn und seine Gattin überbringen lassen. Möchtest du auch eine oder darf ich dich außen vor lassen?" fragte ich Aquilius und grinste breit. Den Wein stürzte ich anschließend hinunter, doch das Grinsen konnte er dennoch nicht aus meinem Gesicht fortwaschen. Ich wusste allerdings, dass ich am heutigen Abend mehr Wein allein in meinem cubiculum konsumieren würde als es sonst der Fall war. Zu viele Gedanken kreisten in meinem Kopf umher, und die meisten waren schwer und träge. Zu negativ, um ohne die angenehme Sinnesbetäubung bestehen zu können. "Wie hat es das collegium egentlich aufgefasst, dass es einen Marspriester verloren und nun wiedererlangt hat?" erkundigte ich mich. "Du bist doch noch im Tempel tätig, nicht wahr? Oder eher gesagt wieder."

  • "Mir musst Du keine Einladung schicken, wenn Du mir sagst, wann es stattfindet ... wobei sich Manius und seine Gemahlin sicher über ein nettes Schreiben freuen werden, sie sind beide Freunde von solchen Sachen, je förmlicher und hübscher verpackt, desto besser," meinte ich mit einem leichten Schmunzeln, blieb mir doch Gracchus' Gesicht hartnäckig in Erinnerung, wenn er sich gerade an irgend etwas delektierte, das ihm gefiel. Etwas allerdings machte mich aufmerksam - Corvinus war zumeist jemand, der seinen Wein zu genießen wusste, vor allem, wenn es guter Wein war. Dass er ihn heute eher beiläufig herunterkippte, war ein deutliches Zeichen dafür, dass ihn all die Aufregung um seine Liebste weit mehr beschäftigen musste, als er sich eingestehen wollte. Aber es wäre ungehörig gewesen, das Thema nochmals aufzugreifen, und so beließ ich es dabei, wandte mich lieber dem zu, was er von sich aus als Gesprächsthema vorschlug.



    "Nunja, ich denke, es war ihnen ganz recht, dass ich noch lebte - sehr viel mehr habe ich nicht gehört. Letztendlich ist das Kommen und Gehen der Priester für die meisten ohnehin nicht so wichtig, Hauptsache, man leistet seinen Dienst ab. Und da man im Tempel dachte, ich müsste für die Familie reisen, und die Familie dachte, ich müsste für den cultus deorum reisen, hat mich niemand wirklich vermisst,"
    sagte ich und verhehlte das leise Seufzen, das sich bei diesem Gedanken in meine Worte stahl, sorgsam. Nach einem anderen Familienmitglied hätten die Flavier sicherlich intensiver gesucht, aber so war es eben, wenn man dem ungeliebten hispanischen Zweig entstammte. "Tätig bin ich dort immernoch, mit den immer gleichen Aufgaben. Wenngleich ich inzwischen auch neue discipulae ausbilde - es ist durchaus amüsant zu sehen, dass sie ausgerechnet zu mir junge und gutaussehende Frauen schicken." Wenn einer verstand, was das für eine dumme Idee war, dann war es Marcus, immerhin ... nein, dieser Gedanke musste eindeutig schnell wieder verschwinden. "Und Du hast das Ziel erreicht, das Du erreichen wolltest? Oder wohin wird Dich Dein Weg in der nächsten Zeit führen?"

  • Zu der Festsache nickte ich: "Gut. Dann werde ich es dich wissen lassen, sobald ich es selbst weiß. Wie gesagt, mein Vetter organisiert das meiste. Ich selbst bin quasi nur der Geldgeber." Grinsend stellte ich den Becher fort.


    "Und es ist keiner auf die Idee gekommen, sich an den jeweils anderen zu wenden und zu fragen, wo du eigentlich steckst? Meine Güte. Da sieht man mal wieder, was hier in Rom passiert: Keiner scheint sich für den anderen zu interessieren." Ich schüttelte den Kopf und überlegte. Man forschte hier nur nach, wenn etwas passierte. Aber andererseits hätte ich selbst auch nicht gedacht, dass sich Aquilius ohne Gedächtnis in einer prekären Lage befand, sondern tatsächlich in religiösem Auftrag unterwegs war. Im Zweifelsfall ging der Verstand schließlich immer von der einfachsten Lösung aus. "Mit den immer gleichen Aufgaben? Das klingt ganz danach, als hättest du keine Freude mehr an der Ausübung deines Amtes", bemerkte ich und richtete einen forschenden Blick auf Aquilius. Er war sicherlich niemand, der aufgrund einer langatmigen Phase einfach den Kopf in den Sand steckte, aber dennoch glaubte ich eine gewisse Resignation aus seinem Ton heraus zu hören. Doch als er von den zwei Mädchen berichtete, musste ich lachen. "Caius, also wirklich, und dann macht dir der Dienst keinen Spaß mehr? Das kann ich kaum glauben!" Feixend lehnte ich mich zurück. Wenn man da nicht den Bock zum Gärtner gemacht hatte... Ich selbst stellte mir lieber nicht vor, wie es wäre, Schülerinnen zu betreuen. Entweder, ich würde zu gar nichts mehr kommen, oder aber, man würde mir ein hyperkritisches Festbeißen in der Materie nachsagen.


    "Mein Ziel? Mein nächstes Ziel habe ich erreicht, wenn diese Amtszeit zu Ende geht und jeder, dem ein Erbe zusteht, eben dieses auch rechtmäßig erhalten hat. Was die Amtspause anbelangt... Nun ja, mir liegt die Untätigkeit nicht, Caius. Ich hatte sogar schon daran gedacht, um eine Aufnahme in den cultus deorum zu ersuchen, obgleich ich nicht glaube, dass ich geeignet wäre, mit souveräner Hand große, öffentliche Zeremonien zu führen" erzählte ich.

  • "Im Zweifelsfall ist die mangelnde Besorgnis meiner Verwandten wohl auch darauf zurückzuführen, dass die meisten sehr viele Pflichten zu erledigen haben - und ein Gedanke, nachzufragen nach meinem Verbleib, durch die trügerische Sicherheit, ich könnte für den cultus deorum tätig sein, abgeschwächt wurde. Man kann es ihnen nicht übelnehmen, ich muss gestehen, ich denke auch nicht unbedingt über den Verbleib jedes Verwandten nach, hier leben einfach sehr viele Leute," meinte ich und hob langsam die Achseln, schief dabei lächelnd. Den Punkt, der mir dabei am wenigsten gefiel, behielt ich für mich - letztendlich gehörte ich hier eher zur entfernten Verwandtschaft und es wunderte mich nicht unbedingt, dass man jemandem nicht sonderlich viel Aufmerksamkeit entgegenbrachte, der nun einmal zu einem eher unbeliebten Familienzweig zählte. Aber ich schob den Gedanken beiseite, wieder einmal, wie stets, wenn das Gespräch in eine solche Richtung hätte abdriften können, zu zerbrechlich war der Familienfrieden ohnehin schon.


    "Ach .." seufzte ich auf seine Worte zu meiner täglichen Pflicht hin. "Es ist nicht, dass es mir keinen Spaß mehr machen würde, das musst Du nicht denken. Nach wie vor ist es eine abwechslungsreiche Tätigkeit, aber ..." Es blieb eine kleine Pause, in der ich mir nicht sicher war, wie ich es formulieren sollte. "Ich denke inzwischen einfach, dass es nicht alles ist. Dass es mir nicht genügen wird, bis ans Ende meines Lebens Opfer zu begleiten, Opfer zu halten und zu unterrichten. Auch wenn ich meinem Vater ungern zustimme, aber ich bin inzwischen zu dem Entschluss gekommen, dass ich meinen Weg auch in die Politik werde führen lassen." Gemächlich lehnte ich mich zurück und nahm noch einen Schluck Wein, um die Worte ein wenig sacken zu lassen. Letztendlich war dies alles noch unausgegoren, aber schon längst kein flüchtiger Wunsch mehr, eher eine Überlegung, die mich in den letzten Wochen immer wieder begleitet hatte und die mich nun eingehender darüber nachdenken ließ.


    "Die öffentlichen Opfer sind gar nicht so schlimm, Marcus," meinte ich dann schmunzelnd. "Im Zweifelsfall sind es ohnehin die pontifices und die flamines, welche die wichtigsten Handlungen ausführen und irgendwo dekorativ herumzustehen gelingt jedem. Alles andere lernst Du mit der Zeit, da bin ich mir sicher. Und wer sich vor Roms Senat vorgestellt hat, sollte vor Roms Volk nicht unbedingt Furcht empfinden."

  • Aquilius' Worte erschienen einleuchtend, dennoch war es für mich nicht nachvollziehbar, wie engere Verwandte sich nicht über die andauernde Abwesenheit eines Familienmitglieds wundern konnten. Bei jedem entfernten Verwandten, der nur mehr ein Namensträger war, hätte ich es indes nachvollziehen können. So sagte ich nichts und hörte dafür recht interessiert den weiteren Ausführungen meines besten Freundes zu. Ein Schmunzeln schlich sich auf meine Züge. "Soso, du also auch", sagte ich und lachte amüsiert. "Vielleicht werden wir dann irgendwann Hand in Hand arbeiten können. Das würde mich sehr freuen. Aber warten wir erstmal ab. Vielleicht hast du nach der ersten Amtszeit auch ein für alle Mal genug."


    Grinsend klopfte ich Aquilius auf den Rücken, hielt jedoch wieder inne, als er vom Opfern sprach. Zweifelnd sah ich ihn an. "Es ist ja nicht so, dass ich mich fürchten würde. Nur ein Fehler, der dir in der Politik unterläuft, betrifft dich selbst, während ein Fehler während einer Opferhandlung den Zorn der Götter auf sich ziehen kann. Und das wiederum kann weitreichende Folgen haben. Aber ach, ich weiß noch nicht, was ich machen werde. Vielleicht kommt auch alles anders, als ich denke." Und es sollte ja wirklich anders kommen, auch wenn ich noch nichts ahnte.


    Wir saßen noch eine ganze Weile dort im atrium und unterhielten uns. Es gab schließlich auch viel zu erzählen. Es dunkelte bereits, als ich die villa Flavia verließ. Mit Aquilius zu reden, hatte mir gut getan, und ich nahm mir vor, nicht nochmals so viel Zeit verstreichen zu lassen bis zum nächsten Treffen.

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