Ankunft beim Sarapeion

  • Schon von weitem waren die großartigen Gebäude der Anlage zu sehen. Nikolaos führte Medeia und ihr Gefolge zum Tor der Tempelanlage. "Ich muss gestehen, dass ich dieses berühmte Heiligtum selbst noch nie von innen gesehen habe.", sagte Nikolaos, fast ehrfürchtig.

  • Einem Schloße gleichend thronte der Tempel des Serapis auf einer leichten Anhöhe über all den schäbigen Baracken des Elendsviertels von Alexandria. Auf scharfkantigen, knochenweißen Kalkstein war der majestätische Bau mit Menschenhand erschaffen worden. Seine schlanke, vieleckige Gestalt schien über hundert Fuß* in die Höhe ragen zu wollen, sein weitflächigen Bauten zeugten von großer Pracht und anmutiger Architektur. Medeia blieb ebenfalls vor dem Tor stehen, was ihnen Einlass zu dem eleganten Bau und Heiligtum bieten sollte. Lächelnd betrachtete sie diesen und nutzte den kurzen Moment als Pause, war ihr doch wieder das Atmen schwer geworden bei dem kurzen Stück, was sie zu Fuß laufen mussten.


    „Ich habe schon viel von diesem Tempel gelesen. Er soll ein kleines Odem der Baukunst sein. Besonders prägsam soll der Moment sein bei Sonnenaufgang, wo ein einzelner Sonnenstrahl durch ein Fenster in den heiligen Innenhof und auf die Statue des Serapis fällt. So begrüßt der Sonnengott stets an jedem Morgen Serapis und küsst ihn zu Ehren mit seinen goldenen Strahlen. Eine schöne Vorstellung, findest Du nicht auch?“ Medeias Augen leuchteten vor Ergriffenheit schon bei dem Gedanke an jenen Augenblick. Doch alles was Kulte und Glauben anging, vermochte Medeia in wahre Begeisterung zu versetzen. „Darf man das Heiligtum einfach betreten?“ Medeia spähte an dem jungen Mann vorbei und betrachtete die Gewölbe, die in den Bau hinein gearbeitet waren und dem Tempel innen viel Licht spenden sollte.




    * Quelle: Aphthonios aus Antiochia

  • Nikolaos lauschte Medeias Ausführungen und betrachtete dabei das Gebäude, das vor ihnen lag. "Diese Stadt ist voller Wunder", murmelte er halblaut, und meinte, sich schwach daran zu erinnern können, dass er dies schon einmal gesagt hatte, kurz nach seiner Ankunft, als er zum Paneion hinaufgestiegen war, um die Stadt von oben zu betrachten. "Meinst du, wir könnten es noch schaffen, bevor die Sonne weitergezogen ist am Himmel?", fragte Nikolaos und sah in Richtung der Sonne dieses nicht mehr allzu jungen Morgens. Nikolaos war beeindruckt, doch nun nicht mehr vom Sarapeion, sondern vielmehr von der Bildung der Frau, die er hierher begleitet hatte. "In der Tat eine schöne Vorstellung. Wir kamen gerade aus dem schlimmsten Sumpf der Existenz von uns Sterblichen, nun werden wir die Götter besuchen, in Hallen, die zwar von Menschenhand gemacht sind, aber so schön, dass ich sie einen überirdischen Ort nennen möchte." Er sah Medeia an. "Ich weiß nicht, ob man es einfach betreten kann, doch ich glaube es." Er deutete auf eine Gruppe Menschen, die das Gelände betrat. "Wir könnten nach jemanden suchen, der uns Auskunft darüber geben kann.", sagte er und sah sich sogleich nach einem solchem Menschen um.

  • Die sanfte Brise, die über die flache Kuppe aus Kalkstein hinweg strich, zwischen den Blättern der nahen Bäume rauschte, vermochte Medeia einen Moment zu erfrischen und ihr neuen Atem zu schenken. Voll der Neugier spähte sie auf die Tempelanlagen, die mehrere Bauten auch umfassten. Sie wußte aus Schriften, dass dort ein Isis-, Sarapis- und Harpokratesheiligtum lagen und sie war genauso gespannt wie ihr Begleiter auf die Kultstätten. Doch mit einem bedauernden Lächeln auf den Lippen antwortete sie: „Ich fürchte, wir sind wohl um einige Stunden zu spät gekommen um die ganze Pracht der morgendlichen Zeremonie noch zu erfahren. Aber wir können das auch an einem anderen Tag nachholen.“ Erfreut, dass Nikolaos die Initiative übernahm und einen Menschen für die Auskunft suchte, nickte Medeia und strich den hauchdünnen Schleier zurecht, der sie vor der Sonne beschirmte, die ihr schon seit Tagen ziemlich zu schaffen machte.


    Ein Mann mit recht kantigem Gesicht und einer noch viel markanteren, breiten Nase, breiten Schultern, einer mehr gedrungenen Statur, dabei jedoch nicht mehr als 30 Sommer alt, stand ruhig wartend in der Nähe von Medeia und Nikolaos. Seine Arme waren vor dem braungrünen Chiton mit schwarzgoldenen Schlangensymbolen bestickt. Seine braungrauen Augen, die recht friedfertig drein schauten, fingen den Blick von Nikolaos ein. „Kann ich euch helfen?“, fragte er freundlich und mit einem tiefen, sehr tiefen Bariton.

  • "Dann lasst uns zu einem anderen Zeitpunkt früher hier sein.", meinte Nikolaos. "Doch ich denke, dass auch jetzt der Hof des Sarapisheiligtums ein überwältigender Anblick sein wird." Jetzt bemerkte er, dass der Frau anscheinend das ägyptische Klima nicht angenehm war. "Ich merke, dass die Hitze dir zu schaffen macht. Mir geht es da nicht anders. Ich würde vorschlagen, dass wir rasch den Schatten der Mauern des Sarapeions aufsuchen."
    Plötzlich war ein Mann auftaucht und fragte, ob er helfen könne. "Das kannst du in der Tat.", antwortete Nikolaos, erfreut, dass sich jemand gefunden hatte bevor er überhaupt richtig zu suchen begonnen hatte. "Kannst du uns sagen, ob wir in das Sarapeion einfach hineingehen dürfen? Deiner Kleidung nach urteilte ich, dass du zum Heiligtum des Harpokrates gehörst, deshalb fragte ich dich."

  • Die Aussicht bald den Morgen an der Sarapisstatue zu erleben, erfreute Medeia sehr. Denn ihr religiöser Eifer, so sie dazu kam, kannte keine Grenzen. So neigte sie zustimmend den Kopf und wurde gleich darauf etwas verlegen. Denn eine Schwäche ein zugeräumen, das war noch nie eine Stärke von Medeia gewesen. „Ich muss mich erst an die Hitze Ägyptens gewöhnen. Sie ist trocken und sehr intensiv. Ganz anders als in Rom oder meiner Heimat.“ Ein zweites Mal gab sie ein Zeichen der Zustimmung, denn etwas Schatten oder die kühlen Räume eines Tempels würden ihr sehr behagen. Durch ihren Schleier hindurch musterte Medeia den Mann, den Nikolaos ansprach und lauschte ihrem Wortwechsel.


    Mehr wie ein Söldner von der Statur wirkte jener Mann als er einen Schritt näher an Nikolaos trat. Er hatte kräftige Hände, breite Schultern und wirkte recht robust. Doch das friedliche Gesicht passte nicht recht dazu. „So ist es! Du hast einen guten Blick für dererlei!“, bestätigte der Mann Nikolaos Vermutung seiner Profession. „Natürlich ist es Besuchern aus der Stadt erlaubt, die Tempel aufzusuchen. Besonders, wenn sie sich mit dem gehörigen Respekt benehmen, aber eurer Erscheinung nach, vermute ich einen solchen bei euch.“ Auch seine Ausdrucksweise passte nicht recht zu einem Söldner, wirklich mehr zu einem Gelehrten. „Wenn ihr es wünscht, kann ich euch aber auch gerne durch die Anlagen führen und dorthin, wo ihr eure Gebete verrichten möchtet.“

  • "So ging es mir auch anfangs in Alexandria.", meinte Nikolaos freundlich. Der Klang seiner Stimme war wärmer geworden. "Selbst am Morgen ist es hier schon fast unerträglich warm. Dafür können die Nächte mitunter eisig sein."
    Nun wandte sich Nikolaos wieder dem Mann im Schlangengewandt zu. "Das freut mich außerordentlich.", sagte Nikolaos höflich und schenkte dem Mann ein Lächeln. "Auch Respekt wirst du natürlich bei uns finden. Es fiele mir gar nicht ein, in Gegenwart von Göttern unflätig zu werden, zumal ich auch sonst nicht unflätig werde. Und was meine Begleiterin betrifft, so kann ich dir sagen, dass ich sie als eine noch viel rücksichtsvollere und feinere Person erlebt habe, als ich selbst es bin." Nikolaos lächelte und musterte den Mann. Auf das Angebot des Mannes reagierte er erfreut. "Das ist sehr freundlich von dir. Wir beide sind noch einigermaßen neu in dieser Stadt und kennen das Sarapeion bisher nur aus Büchern, deshalb wäre es gut, jemanden zu haben, der uns zu allen Schönheiten dieser Anlage führt, auf dass wir sie, mit gelenktem Blick, besser erkennen. Ich nehme dein Angebot mit Freuden an-" -Er wandte sich an Medeia- "Natürlich nur, wenn du nichts dagegen hast, Artoria Medeia."

  • Ein Lächeln huschte über Medeias Lippen als sie die ausgesprochen höflichen Worte vernahm, was die Hitze anging. Und erst recht als sie die Bemerkung über ihre Person aufgrund der Frage des Priesters vernahm. Der Priester derweil lauschte der Antwort des jungen Griechen und nickte zustimmend. Denn er hatte genug aus der Wahl der Worte seines Gegenübers heraus gehört, um den nötigen Respekt in ihm zu erkennen, ebenso eine Bildung, die doch oftmals mit der Hochachtung der Götter gegenüber einher ging. Leider nicht immer. Der Mann neigte den Kopf. „Dann werde ich euch mit Freuden führen.“ Er sah zu Medeia hinüber, als Nikolaos nach ihrem Einverständnis fragte. Mit einem Neigen ihres Kopfes und: „Es wäre mir auch eine außerordentliche Freude.“, stimmte Medeia dem zu. Der Mann deutete einladend auf das große Tor. „Dann folgt mir doch bitte. Mein Name ist übrigens Nes.“ Es war nicht nur die gedrungene, athletische Gestalt des Mannes, die eher einen Kämpfer vor Augen führte, nein, auch der Gang. Geschmeidig und federnd trat er durch das Tor und auf die breite Straße, die auch als Prozessionsweg dienen konnte und es auch tat, in den Komplex des Sarapeion hinein. Links und rechts säumten schlanke Sykomore den Weg. „Welches Heiligtum möchtet ihr zuerst betreten. Das der Isis, des Sarapis oder des Harpokratis?“

  • "Es ist mir eine Freude, deine Bekanntschaft zu machen. Mein Name ist Nikolaos Kerykes, und, wenn ich für meine Begleiterin sprechen darf, ihr Name ist Artoria Medeia. ", sagte Nikolaos und folgte dem Mann, wobei er sich rüchsichtsvoll nach Medeia umsah. Er bewunderte die elegante Haltung und den eleganten Gang von Nes. Dabei fiel Nikolaos auf, dass er seinen eigenen, noch sehr jungen Körper schon sehr lange vernachlässigt hatte. Er würde einmal wieder ins Gymnasion gehen müssen. Zwar würde Nikolaos hagere Gestalt auch nach intensiv betriebenen Sport nicht allzu weit in Richtung der Mesomorphie gehen, doch Nikolaos spürte auf einmal, dass, obschon er noch sehr jung war, seine Gelenke nicht mehr geschmeidig waren. Doch diese Gedanken beschäftigten ihn nur am Rande. Seine Grundhaltung zum Körper bestand darin, dass dieser etwas sei, was man verbrauchen müsse. So war es nicht verwunderlich, dass es schon jetzt, mit seinen zarten 18 Jahren, um seine Gesundheit nicht mehr allzu gut stand.


    Doch nun glitten seine Gedanken von dem Betrachtungen über die Physis in die Welt jenseits dieser Physis. Er stellte sich Isis, Harpokrates und Serapis bildlich vor, als stünden sie in einer ihrer vielen Gestalten direkt vor ihm. Isis war ihm von allen dreien die liebste. Nun war da die Frage, ob er ihr Heiligtum zu erst besuchen wollte oder als krönenden Abschluss des Besuchs im Sarapeion. Natürlich war er nicht allein hier, er würde Artoria Medeia den Vortritt bei der Entscheidung lassen.
    "Mein bescheidenes Selbst hat bezüglich der Reihenfolge keine besonderen Wünsche. Doch frage zuerst Artoria Medeia." Er wandte sich an diese. "Weißt du, ob die Lichtstimmung in den anderen Heiligtümern auch vom Stand der Sonne abhängt und ob es auch bei den anderen lohnenswert ist, zu einer bestimmten Zeit zu kommen?", fragte Nikolaos sie und gleichzeitig Nes, der es ja schließlich wissen musste.

  • Eine andere Welt eröffnete sich vor den beiden Besuchern der Tempelanlagen. Fern, unendlich weit weg schien nun das Elendsviertel von Alexandria zu sein. Lieblich spielt die Sonne mit der Farbenpracht, die der Garten der Anlage beherbergt. Leuchten rote Blütenkelche, vermischten sich mit zarten und dezent weißen Pflanzen. Sorgsame Hände hatten die Anlage bepflanzt und geschmückt, sorgten stets für ein harmonisches Bild. Mit jedem Schritt würde man sich weiter von der schnöden Welt entfernen können, das Elend vergessen und sich ganz den Gedanken und der Ergebenheit an die Götter hingeben können. Eine Gruppe junger Kinder, womöglich im Alter von 5 bis 7 Jahren, schritten hinter einem älteren Mann hinterher. Bereits die Kinder trugen die Gewänder von Tempeldienern. Wenn auch ihre Haltung schon einen ungewohnten kindlichen Ernst offenbarten, so tuschelten die Kinder, lachten leise miteinander. Nes neigte ernsten Gesichtes, wenn auch mit einem weiterhin gutmütigen Ausdruck auf dem Gesicht, den Kopf. „Es ist auch mir eine Freude, euch Beide kennen lernen zu dürfen.“ Er sah von Nikolaos zu Medeia, die er jedoch nicht allzu lange ansah. Scheinbar hielt er das nicht für angebracht. „Das Licht spielt insbesondere bei Sarapis eine große Rolle. Weniger bei Isis oder Harpokratis. Doch ihr werdet sicherlich das noch sehen, selbst bei den anderen Heiligtümern lässt sich eine andere Atmosphäre fühlen je nach dem Zeitpunkt der Sonnenwanderung. Wenn ich die Vermutung aussprechen darf? Dann seid ihr Beide noch nicht allzu lange in der Stadt?“


    Sein Blick, als Nikolaos auf Medeia bezüglich der Beantwortung seiner vorigen Frage verwies, ging dann doch wieder zu Medeia. Erneut musste Medeia bewundern, auf welche elegante Weise Nikolaos sie immer wieder in die ganze Angelegenheit einband und sich als sehr höflich erwies. Medeia lächelte leicht und dachte über die Wahl und die Möglichkeiten nach. Nach einem Moment antwortete sie: „Wenn es genehm wäre, würde ich gerne das Heiligtum der Isis zuerst sehen.“ Und da Medeia nicht nur wegen den Tempeln im Sarapisheiligtum war, fügte sie weiterhin an. „Stimmt es, dass ein Teil der Bibliothek des Museion hier beherbergt ist?“ Der Priester nickte darauf hin. „In der Tat, wenn man auch das Sarapeion als eine eigene Sammlung betrachten kann.“ Medeia nickte nachdenklich. Der Priester deutete zu ihrer rechten Seite. „ Dort liegt der große Tempel mit den Heiligtümern aller drei Götter. Doch zuerst führe ich euch zu der Göttin Isis.“ Als er mit dem Arm auf den Tempel deutete, waren deutlich Brandnarben auf der Haut zu erkennen und auch die Narbe einer ehemals tiefen Verletzung, die nur grob und schlecht wohl damals genäht wurde. Doch der Anblick war nur kurz zu sehen, denn der Mann ging bereits auf den Tempel zu. Medeia wandte sich zu ihren Sklaven um, die am Tor standen. „Ihr wartet hier oder sucht euch einen Platz im Schatten.“ Dann folgte Medeia auch dem Mann, natürlich abwartend, ob auch Nikolaos mitkam.


    Säulen umrundeten den großen, vieleckigen Bau in der Mitte, bewacht von zahlreichen Tempelwachen, die wie Statuen wirkten in ihrem starren Beobachten. Nur wenn sich mal einer der Wachen rührte, wurde die kleine Illusion zerbrochen. Nes trat vor einen sanft plätschernden Brunnen, der ganz aus Marmor beschaffen war. Seine Finger tauchten in das klare Element und er benässte sein Gesicht und seine Hände. Dann trat er zur Seite und deutete stumm den Beiden, seinem Beispiel zu folgen. Auch Medeia tunkte ihre Fingerspitzen in das Wasser. Herrlich erfrischend war die Kühle. Medeia hob den Schleier, der sie schützen sollte an, und benässte ihre hitzigen Wangen. Auch das fühlte sich angenehm an. Dann trat sie ebenfalls zur Seite. Nes nickte zustimmend als er das sah und fragte schließlich: „Ihr seid sicherlich mit den Göttern dieses Tempels bewandert?“

  • Als Nikolaos, Nes folgend, den Garten der Anlage betrat, umhüllten ihn sogleich die schweren, feierlichen Düfte der vielen Blumen. Er atmete tief ein und behielt die Ausdünstungen der unzähligen Blüten lange in der Lunge, bis sie ihm ins Hirn zu steigen schienen und dort das Gefühl eines leichten Rausches erzeugten. Nikolaos schien, als sei dieser ganze Aufwand zu diesem Zweck betrieben worden, um die Besucher in eine Art Betäubung zu versetzen, damit sie für das Heilige empfänglicher wären. Nikolaos Augen, die soeben noch nur das trübe schmutzige Braun der Elendsquartiere und deren Bewohner gesehen hatten, mussten sich zu Anfang noch an die vielen, klaren Farben gewöhnen, an die Blütenblätter, die vom Sonnenlicht beschienen aussahen, als leuchteten sie von selbst und an die grellen Farben der bemalten Wände. Er schien eine andere Welt betreten zu haben. Konnte er seinen Sinnen trauen? Er befürchtete, vom Geist dieser Mauern schon penetriert worden zu sein, und so sehr er diese Vorstellung fürchtete so sehr gefiel sie ihm gleichzeitig. Es war längst nicht das erste Mal gewesen, da er einen heiligen Ort aufgesucht hatte, in Athen war er oft in Tempeln gewesen, vor allem im Tempel der Athene, dennoch befiel ihn jedes Mal, da er einen solchen Ort betrat, ein eigenartiges Gefühl, das keineswegs beklemmend war, sondern vielmehr erregend. Er konnte mit Nes nur schwer schritthalten, zu sehr nahm die Pracht des Gartens seine Sinne in Anspruch. Und er drehte sich mehrmals nach Artoria Medeia um, um sicher zu gehen, das s sie nicht zurückblieb. Vielleicht war dies ein Rest seiner eher konservativen (in wiefern man dieses Wort auf Hellenen anwenden wollte und konnte) Erziehung übrig geblieben, der ihm gebot, Frauen stets rücksichtsvoll und wie schutzbedürftige Wesen zu behandeln.
    "Deine Vermutung ist richtig.", antwortete er auf Nes Frage und lächelte sanft. Er empfand Nes Gesellschaft durchaus als angenehm, der Tempeldiener oder welche Funktion auch immer er ausführen mochte, schien ein durch und durch höflicher Mensch zu sein.
    Als Artoria Medeia auf die Frage, wessen Teil des Tempels sie zuerst besuchen wollte, antwortete, sie wolle zuerst den der Isis besuchen, ging ein freudiger Ausdruck über Nikolaos Gesicht. Teilte sie sein inniges Verhältnis zu Isis, der großen Mutter und Hexe, jener, die sowohl nährende Milch als auch Gift von sich geben konnte, die treue Geliebte und die Zerstörerin. Beim letzten Aspekt kam ihm ein Gedanke, den er seiner Begleiterin bald mitteilen wollte.
    Plötzlich bemerkte Nikolaos die Narben an Nes Armen. Nikolaos hielt es für unwahrscheinlich, dass dies Spuren spiritueller Selbstverstümmelung sein konnten. Waren es also Spuren von Misshandlungen? Nikolaos war einen Moment in Gedanken versunken und verlor den Anschluss, doch Medeia hatte rücksichtsvoll auf ihn gewartet. Er bedankte sich dafür mit einem Lächeln.
    Dann folgte er ihr in den Vorhof des Tempels. Am Wasserbecken legte er seine Chlamys ab, um mit den Händen unbehindert Wasser aufnehmen zu können und sein Gesicht damit zu reinigen. Mit dem Straßenschmutz und dem Schmutz seines sterblichen Charakters im Gesicht wollte er der Göttin nicht gegenübertreten. Als er fertig war, stellte er sich an Medeias Seite. Nes hatte eine Frage gestellt. "Aber ja", antwortete Nikolaos, in gewohnter Freundlichkeit. "Ich weiß, dass ich nicht einfach für Artoria Medeia sprechen kann, doch in diesem Fall bin ich mir sicher, dass sie sogar bewanderter ist, als ich selbst.", sagte Nikolaos und schenkte seiner Begleiterin einen freundlichen Blick. Dieser Satz war keine bloße Höflichkeit, Nikolaos glaubte wirklich, dass Artoria Medeia über die Verehrung der Isis besser bescheid wusste, sie war es schließlich auch gewesen, die ihn vor dem Tor dieser Anlage mit ihrem angelesenen Wissen über selbe beeindruckt hatte.


    Eigentlich wollte Nikolaos mit seinem Anliegen noch warten, doch es wäre ungebührlich gewesen, im Inneren des Tempels Gespräche zu führen. Also trug er ihr jetzt sein Anliegen vor. "Artoria Medeia", begann er, "Vielleicht irre ich, doch falls ich dies nicht tun sollte, scheinst auch du Isis besonders zu verehren. Isis ist die große Mutter, in ihren Schoß kehren wir alle zurück, auch Bakhos kehrt in den Schoß der anderen, dunklen Gestalt der Isis zurück und wird zerrissen*. Doch aus dem Blut, das aus seinem zerfetzten Leib auf die Erde, zurück in Isis Schoß, tropft, wachsen Blumen, Getreide, Getier und wir Menschen. Und der Rufende kehrt immer wieder zurück in den Schoß seiner Mutter und Amme und wird genährt von ihrer Milch, die wie Wein ist, und wird zerrissen." Seine Stimme überschlug sich fast im religiösen Eifer. "Bald werden wir Dionysos empfangen, hier, in Alexandria." Er zögerte kurz. "Ich wollte dich fragen, ob du mit daran teilnehmen möchtest."




    Sim-Off:

    * Nikolaos verquickt hier den Osiris-, den Dionysos- und den Kybele-Mythos.


    edit: letzten absatz eingefügt

  • Versunken betrachtete Medeia das sanfte Plätschern des Brunnens. Blau schillernd fielen die Wassertropfen dort hinein, die Nikolaos beim Waschen verspritzte. Um sie herum rauschten die Blätter der Bäume. Immer wieder und wieder bis es zu den Wogen von Meereswellen wurden. Rote Tropfen fielen in den Brunnen, Blut, was sich mit dem hellen klaren Nass vereinte, lange Fäden zog und sich auflösten. Nimm das Opfer an... Medeia schien nun doch nicht mehr unter der Hitze zu leiden, sondern zu frösteln. Sie umgriff ihre Palla und zog sie enger um sich herum. Jene Erinnerungen plagten Medeia jede Nacht seit vielen Tagen. Eigentlich sonst nicht zimperlich oder zart besaitet, bereitete ihr dieses Geschehen doch mehr Kopfzerbrechen als sie es sich eingestehen wollte. Ein Grund mehr, warum sie unbedingt den Schrein der Isis aufsuchen wollte. Viele Fragen gingen ihr im Kopf herum und sie suchte danach, diese beantwortet zu bekommen. Nes schien neben ihr zu verblassen, seine Ruhe und Stille, seine doch dezente Art ließen Medeia ihn vergessen. So nahm sie auch nicht das wohlgefällige Nicken von Nes war, der mit Zufriedenheit die Antwort von Nikolaos zur Kenntnis nahm. Nes ging einige Schritte voraus und durch ein Gewölbetor hindurch. Links und Rechts von diesem standen jene statuenhaften Tempelwächter, von denen man glauben könnte, sie hätten schon zur Zeit der Ptolomäer hier gestanden.


    Aufgeschreckt aus ihrer Gedankenwelt sah Medeia zu Nikolaos als dieser sie noch vor dem Betreten ansprach. Sie wandte sich ihm zu und sah ihn ernst aus ihren grünen Augen hervor an. Es schien für Medeia schon fast gespenstisch zu sein. Hatte der junge Mann ihre Gedanken erahnt? Doch Medeia schüttelte das von sich, ohne ihren Ausdruck zu verändern und lauschte Nikolaos Worten. Doch gänzlich konnte Medeia dem nicht folgen. Konzentriert dachte sie über seine Worte nach. Sicherlich, Nikolaos hatte nicht ganz unrecht, was er bei Medeia vermutete. Sie hatte einen Hang zu Mysterien. Im Grunde jedoch bevorzugte Medeia stets die griechischen Göttern allen Anderen gegenüber. Wenn sie sich auch nicht der Mode um Isis in Rom verwehrt hatte. Doch noch mehr war Medeia der Göttin der Unterwelt zugetan, deren Namen sie selten in den Mund nahm. Zumindest in den letzten Jahren nicht. „Dionysos? Oh.“, murmelte Medeia leise. Die Erwähnung ließ sie an ihre Jugend zurück denken. Es kam Medeia wie viele Dekaden vor, in einem anderen Leben und an einem weit entfernten Ort. Sie war damals noch nicht achtzehn Jahre alt gewesen bei einer ähnlichen Feier in Athen. „Ich muss zugeben, abgeneigt wäre ich nicht, werter Nikolaos. Darf ich denn fragen, wen Du mit 'wir' bei diesem Ritus meinst?“

  • Mit Spannung hatte Nikolaos Medeias Antwort erwartet. In diesen wenigen Augenblicken war er langsam aus dem kurzen, rauschhaften Zustand wieder in zu sich gekommen. Er spürte ein innerliches Zittern, wie eine plötzliche, starke Erschöpfung. Er hatte sich in seine Erzählung über den Mythos hineingesteigert, vielleicht zu sehr, wie er jetzt dachte, doch es schien ihm, als hätte die Atmosphäre des Ortes, an denen sie sich gerade aufhielten, das ihre dazu beigetragen.
    Nun bemerkte er, dass Medeia ihn ansah, und er antwortete mit einem durchdringenden Blick aus seinen tiefbraunen Augen, die im gedämpften Licht des Hofes schimmerten wie das Wasser des Brunnens. Die Zeit, die ihm zu verstreichen schien, bis Medeia antwortete, war sehr lange. Solange versuchte er, ihrem Blick standzuhalten. Ihre grünen Augen kamen ihm auf einmal überirdisch vor. Nikolaos spürte, dass seine Wahrnehmung sich verändert hatte. Zuerst ließ es eine diffuse Angst in ihm aufsteigen, dann verblasste die Angst und wurde von einer euphoría überlagert, die ihn schwindelig werden ließ.
    Diese Stimmung wurde von Medeias Worten schließlich durchbrochen und aufgelöst. Nikolaos brauchte eine Weile, bis er die Worte aufgenommen hatte und antworten konnte. "Es handelt sich dabei um eine Gruppe verschiedener Menschen, von denen ich nur sehr wenige kenne. Der Sohn des Vermieters meines Geschäftes, der Sohn ist selbst schon ein Greis, lud mich ein, daran teilzunehmen. Er wird einer jener sein, die den Ritus leiten und uns andere in die Mysterien einführen." Nikolaos Stimme war leise und ruhig. "Außer dir habe ich noch niemanden eingeladen*." Er sah gedankenverloren durch das Gewölbetor, durch das Nes sie geführt hatte. Dann setzte er wieder dazu an, das Gespräch weiterzuführen. "Der Ritus wird höchstens sechzig Teilnehmer haben. Wenn du noch jemanden weißt, den du für würdig hälst, kannst du ihn oder sie gewiss mitbringen." Er blickte Medeia an. "Da ich selbst den Zeitpunkt, an dem das Mysterium stattfinden wird, noch nicht weiß, kann ich ihn dir noch nicht mitteilen. Ich werde zu gegebener Zeit dort auf dich warten, wo du es wünschst, um dich zum Ort, an dem wir den Bakhos empfangen werden, zu führen."



    Sim-Off:

    * Das Symposion in Leonidas Haus, auf dem Nikolaos Leonidas und Timokrates einlädt, findet später statt, als unsere Begegnung in Rhakotis.

  • Fasziniert betrachtete Medeia den jungen Mann vor sich. Es war etwas an ihn, was ihn außergewöhnlich machte. Nicht sein angenehmes Erscheinen, seine schöne Gestalt. Schönen, jungen Männern war Medeia oft in ihrem Leben begegnet, hatte selber einige davon früher angestellt gehabt. Auch die ausgesprochene Höflichkeit war es nicht, wenn sie auch für Medeia sehr angenehm war. Selten begegnete man Männern mit derart gepflegten Manieren. In Rom auch nur Männern höherer Schichten oder bei den Patriziern. Besonders bei einem Flavier war ihr derartiges aufgefallen. Wenn diesem auch eine gewisse Kühle immer angehaftet war. Nein, es war der Glanz in den Augen, der verklärte Gesichtsausdruck von Nikolaos, der Medeias Interesse zu wecken schien. Sinnierend betrachtete sie Nikolaos, suchte nach dem Kern dieser Andersartigkeit zu dringen, doch ein Blick genügte ihr nicht. Und schon fiel dies von ihm ab, wie ein Lichtschleier, der nur zu einem bestimmten Tag (wie in dem Tempel) den jungen Mann bedeckte.


    Aufmerksam lauschte sie ihm. Denn von seinen Worten (die aus seinem Mund doch ehrlich wirkten, war doch sein ganzes Gebarden von einer ehrenhaften Art) würde sie es abhängig machen, ob sie kommen würde oder nicht. Die Verehrung von Dionysos war immer eine zweischneidige Angelegenheit, nicht umsonst von manchen verpönt. Denn immer wieder nutzten manche Männer und Frauen diese, um lediglich einer Orgie zu frönen. (Auch schon in ihrer Jugend hatte sie ein oder zwei solcher 'Mysterien' miterlebt.) Etwas, was Medeia heute ganz gewiss nicht tun würde, war sie doch verheiratet und zudem dazu nicht in bester gesundheitlicher Lage. Und dass Greise daran teilnahmen, hieß noch lange nicht, es wäre nicht derartiger Natur. Gerade bei solchen Männern hatte Medeia immer wieder mit Erstaunen einen Satyr in ihnen festgestellt (früher natürlich und schon seit Jahren nicht mehr). Medeia sah auch hinauf zu dem Tempel und dachte eine Weile nach. Sie war kein dummes, junges Mädchen mehr. Und gewiss würde sie sich auch aus einer brenzligen Situation wieder hinaus manövrieren können. Medeia zog den Schleier zurecht und nickte schließlich langsam. „Gut. Gerne nehme ich Deine Einladung an, behalte mir jedoch vor, die Mysterien zu verlassen, sollten sie..“, sie zögerte kurz, denn sie wollte den jungen Mann nicht brüskieren. „...meine Kräfte übersteigen. Ich bin in letzter Zeit nicht mehr derart mit Vitalität gesegnet.“ Sie lächelte kurz und sah zu dem Eingang. „Wollen wir unserem Führer folgen?“

  • Nikolaos hatte gespannt auf Medeias Entgegnung gewartet. Nun nickte er dezent und strich sich mit einer grazilen Handbewegung eine Haarsträne aus seinem bleichen Gesicht. Was war nur heute mit seinen Nerven los? Sie schienen besonders schwach zu sein. Doch er besaß genug Selbstbeherrschung, um diese Schwäche wenigstens eingermaßen zu verbergen.
    "Ich freue mich über deine Zusage.", sagte er ruhig und leise und lächelte dabei zart. "Natürlich kannst du die Mysterien verlassen, wann du möchtest, oder sobald dich deine Konstitution dazu veranlasst. Auch ich muss zugeben, dass ich etwas labil veranlagt bin und diese Veranlagung in letzter Zeit durch das ungewohnte Klima verstärkt wird." Er legte eine Pause ein und holte Luft. Sein Atem ging sehr flach. Diese Hitze tat ihm wirklich nicht gut. Zudem hatte er es in letzter Zeit mit seinem Opiumkonsum übertrieben, es schien, als nähmen die Dosen, die er benötigte, um seine schwachen Nerven zu besänftigen, in letzter Zeit stark zuzunehmen, und eine Abkehr von dieser Tendenz war nicht zu spüren. Manchmal fragte Nikolaos sich, wo das hinführen sollte.
    "Ich selbst weiß nicht, wie genau die Mysterien ablaufen werden, auch ich werde an diesem Tag erst eingeweiht. Sollte es für dich unerträglich werden, wäre es ein Leichtes, wieder nach Alexandria zurückzukehren, denn die Mysterien werden beinahe unmittelbar vor den Toren dieser Stadt stattfinden." Er blickte ihr tief in die Augen und lächelte. Fast war dieses Lächeln warm.
    "Ja, lasst uns ihm folgen. Ich freue mich sehr darauf, das Heiligtum der Isis zu betreten."

  • Vögel zwitscherten, in der Ferne ertönten leise Gesänge von Priestern, die womöglich für eine religiöse Litanai sich einübten. Oder es war alltäglich hier, Medeia vermochte das nicht genau zu benennen. Genau beobachtete Medeia den jungen Mann und ihr entging die fahrige Geste nicht. Aber noch konnte sie es nicht genau einordnen. Ein feines Lächeln zierte ihre Lippen, denn den Grund ihrer Misere wußte Medeia natürlich. Und es war unwahrscheinlich, dass Nikolaos und sie diese teilte. Doch Medeia schwieg dazu. Die Hitze machte es ihr auch ungewohnt schwer. „Dann werden wir uns Beide wohl überraschen lassen müssen.“ , erwiderte Medeia lächelnd. Und schon wandte sie sich ab. Langsam schritt sie auf den Eingang zu. Nur kurz musterte sie die Tempelwachen, ihre starren Gesichter und ihr ausdrucksloses Harren. Dunkelheit und Kühle umfing sie. Der Geruch nach Myrrhe, Weihrauch und Balsam drang an ihre Nase, Zeugen von religiöser Ekstase und Frömmigkeit. Medeia lächelte und atmete tief ein. Gleichwohl ihr darauf hin wieder übel wurde, doch die Kühle beruhigte ihre Stirn und sie konnte dem Tempeldiener in das Innere folgen. Weißes Licht umfing sie und die heilige Aura dieses Ortes.


    Und so verging auch jener Nachmittag. Im Gebet, dem Erkunden eines Heiligtums und einiger Schriften, die hier verwahrt wurden.

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