Eltern, ein Verlobter und doch verwaist.

  • Die Ankunft in Ostia verlief alles andere als wünschenswert. Sollte die Villa meines früheren Vaters ursprünglich meinen Zufluchtsort darstellen, erlebte ich sie eher als Schreckgespenst für weitere unliebsame Ereignisse, die mein Leben betrafen. Es war, als wollte die schwarze Seite des Schicksalsfadens nicht mehr von mir weichen. Das Gefühl, alleingelassen mit allen Sorgen, allem Schmerz, allen Ängsten zu sein, verstärkte sich am Folgetag, als mich ein Brief erreichte und über eine Saktio informierte, die einen meiner Betriebe betraf. Ich fühlte mich wie ein heimatloses Waisenkind, das allem Trübsal dieser Welt alleine gegenüberstand.


    Noch am selben Tag machte ich mich auf den Weg nach Rom, aber bevor ich die Basilica Iulia aufsuchte, lenkte ich meine Schritte zu dem Orakel hin. Bei ihm konnte ich sicher sein, es würde mit mir sprechen, mir helfen, einen Rat geben, sich um meine Belange kümmern und bestimmt auch einen Weg aus meiner Situation weisen, die für mich längst unerträglich geworden war.

  • Als würden die Priesterinnen bereits die Kälte des Winters erwarten, war das Innere der Orakel-Vorhalle mit zahlreichen Kohlebecken und Feuerschalen gefüllt, welche eine wohlige Hitze und einen goldenen Lichtschein verbreiteten. Unter der grob behauenen Decke zogen feine Rauchschwaden, die nach Weihrauch dufteten, dahin. Als Aurelia Deandra das Orakel betrat musste es scheinen, als wäre sie allein in diesem Raum. Aus dem Gang zum Orakel dämmerte ein leises Summen herüber, ansonsten war bis auf das Knistern der Feuer kein Laut zu hören.


    Das junge Mädchen, das neben Deandra trat, durchbrach die Stille. "Salve," grüßte sie mit einem freundlichen Lächeln und ruhiger Stimme. "Du bist gekommen um das Orakel zu befragen. Hast du eine Gabe für die Götter?"

  • Mit dem ersten Schritt, den ich in das Heiligtum setzte, zog Ruhe in mein Gemüt ein. Für Momente genoss ich das selten gewordene Gefühl, unbeschwert sein zu können. Ich atmete freier, ließ das Knistern der Feuerstelle auf mich wirken, beobachtete das Flackern des Lichts an den Wänden der Halle und sog die mit Weihrauch schwangere Luft andächtig ein. Mir war, als konnte ich eine göttliche Aura spüren, die mich gefangen nahm und feierlich stimmte. Die Zeit verlor an Wert, der Augenblick zählte.


    So wie der Ort strahlte auch das junge Mädchen Ruhe aus, als sie auf mich zutrat, und obwohl ihre Stimme keineswegs gesenkt war, durchschnitt sie dennoch nicht die Stille, sondern fügte sich harmonisch in das Summen von Ferne und das gelegentliche Aufplatzen verbrennender Opfergaben ein. Ihr freundliches Wesen ließ auch mich lächeln, obwohl ich mich einer gewissen Aufregung nicht entziehen konnte. Bald würde ich etwas aus kundigem Mund über meine Zukunft erfahren, vielleicht auch Ungewissheit zurücklassen oder einfach nur Kraft schöpfen. Mir wurde erst jetzt bewusst, dass es mich unweigerlich zu diesen Hallen gezogen hatte, ohne dass ich mir im Vorfeld eine Frage überlegt hatte.
    ‚Alles ergibt sich irgendwie’, dachte ich in diesem Moment, lächelte nochmals und nickte vorab als Antwort auf die Frage des Mädchens.


    „Ja, ich suche Rat oder auch Bestätigung. Meine Frage ist noch nicht vorformuliert, ich dachte, ich könnte sie hier entwickeln“, gab ich leise zu. Fast klang es wie eine Entschuldigung, weil ich annahm, dass viele Ratsuchende im Grunde nur eine Bestätigung oder Ablehnung konkreter Vorhaben erfragen wollten. Vermutlich suchte ich weniger eine Entscheidungsabnahme als vielmehr die Chance auf ein Sortieren des Wirrwarrs in meinen Gefühlen und Gedanken.


    Ich gab meiner Sklavin, die sich im Hintergrund aufhielt das Zeichen, den mitgebrachten Weihrauch zu übergeben.


    „Ich habe den Göttern besten Weihrauch besorgt und keine Kosten gescheut“, berichtete ich und fragte mich sogleich, ob das Orakel meine Worte auf welche Weise auch immer bereits jetzt vernehmen konnte.

  • "Du solltest dir alle Zeit lassen die du brauchst. Denn wer die Frage nicht kennt, der wird auch die Antwort nicht verstehen." Das war leider oft der Fall. Viele Menschen beklagten die Rätselhaftigkeit der Aussagen des Orakels oder aber, dass es keine klaren Anweisungen wären. Doch weshalb sollten die Götter in ihren Antworten präziser sein als die Menschen in ihren Fragen? Do ut des - ich gebe, damit du gibst - das war auch das Prinzip des Orakels.


    Dass die Antworten auch bei präzisen Fragen natürlich nicht einfach zu lesen waren, stand auf einem anderen Blatt. Doch das gehörte nun einmal zum Orakel dazu, denn die Götter drückten sich selten in so einfachen Worten aus, wie die Menschen sie nutzten und verstanden. Wer eine einfache Zustimmung oder Ablehnung wollte, der konnte sich immerhin auch mit einem üblichen Opfer begnügen und die Antwort aus den Eingeweiden heraus lesen. Trotzdem hatte die junge Priesterin, die trotz ihrer Jugend schon sehr lange im Dienst der Sibylle stand, noch nie einen unverständlichen Orakelspruch überbringen müssen.


    Sie nahm den Beutel mit Weihrauch von der Sklavin entgegen, öffnete ihn und schnupperte an den Körnern. Es war edelste Qualität, so wie die Sibylle sie liebte. Das Mädchen nickte und war bereit die Frage der Frau aufzunehmen, wenn diese bereit war sie zu stellen.

  • Mein Blick hing auch dann noch an den Lippen der jungen Frau, als diese längst geendet hatte. Ich fand ihren Rat weise, mir viel Zeit bei der Formulierung zu lassen, aber vielmehr beschäftigte mich die Begründung dazu. Wer die Frage nicht kennt, der wird auch die Antwort nicht verstehen? Darauf wäre ich nie von alleine gekommen, aber der Sinn dieser Aussage leuchtete mir sofort ein. Mein Problem war, dass es so viele Fragen gab, die mich bewegten und auf die ich gerne eine Antwort hätte, aber ich wusste, ich durfte nur eine einzige formulieren. Nur eben welche die wichtigste war oder wie ich Dinge bestmöglich zusammenfassen konnte, war mir nicht klar. Daher wollte ich mir Zeit lassen, nichts überstürzen, die Gedanken sammeln.
    Ich zog mit der Linken meine Palla von der Schulter und versuchte, sie halbwegs zusammenzulegen, was – in derlei Dingen ungeübt – nicht eben einfach war. Die getürmten Schichten senkte ich vorsichtig auf den Boden ab und kniete mich darauf. Bei aufrechter Haltung legte ich die Hände in den Schoß, visierte ein Kohlebecken an und begann nachzudenken.


    Ich war lange glücklich gewesen, auch wenn es sicherlich ab und an einen Stolperstein gab, aber eines Tages zogen die Götter ihr Wohlwollen von mir ab. Alles begann damit, dass er mich zurückwies. Der Gedankenfluss stockte, weil mir die Unrichtigkeit der Formulierung auffiel. … er mich zurückstieß, als ich mich sorgenvoll nach dem Grund für seinen offensichtlichen Schmerz erkundigen wollte. Ich war zutiefst über seinen Vertrauensentzug und die achtlose Behandlung erschüttert, aber ich respektierte ohne ein Wort des Vorwurfes seinen Wunsch. Noch am selben Tag ereilte mich jedoch der nächste schwere Schlag: Helena, der Cousine, gestattete er die Annäherung.
    Ein schwerer Atemzug hob meine Brust, als mich die Erinnerung daran einholte. Damals war etwas zerbrochen, aber ich sah die Schuld dafür nicht bei mir.
    Tage später entschuldigte er sich für sein Verhalten, was mich natürlich gefreut hatte, aber die Narbe der Verletzung blieb, sie ist noch heute da, denn nur Taten können die Narben von Fehlverhalten heilen. Worte sind viel leichter gesagt, als Handlungen auszuführen waren.


    Und doch wäre es sicher möglich gewesen, auf der Entschuldigung basierend, wieder zueinander zu finden, wenn nicht gleichzeitig die niederschmetternde Nachricht über den Tod meiner einstigen Adoptiveltern gekommen wäre. Sie nahm mir jede Kraft und jeden Mut. Ich konnte damals sein umsorgendes Verhalten nicht wertschätzen, weil ich vom Schock der Nachricht überwältigt war. Heute weiß ich, dass er sich vorbildlich verhalten hatte, besser ging es beim höchsten Anspruch wahrlich nicht mehr.


    An diesem Punkt angelangt stockte ich. Zum ersten Mal kam mir der Gedanke, es könne womöglich an meiner Zurückgezogenheit gelegen haben, dass er sich seither distanziert verhielt. Trug ich am Ende selbst die Schuld an unserem unterkühlten Verhältnis, was wiederum die Ursache dafür war, dass ich nicht aus dem Tal der Traurigkeit herausfand? War alles ein Kreiskauf? Bedingte eines das andere? Wem konnte man dann aber eine Schuld zuweisen? Und kam es überhaupt darauf an?


    Ich suchte den Blick der jungen Frau, als könne sie mir darauf eine Antwort geben, aber abgesehen von der Tatsache, dass sie vermutlich keine Gedanken lesen konnte, stellte sie nur die Gehilfin des Orakels dar. Was genau wollte ich aber über das Orakel von den Göttern erfahren? Glaubte ich in Ostia noch, ich müsse nachfragen, ob die Götter auch einmal wieder Sonne in mein Leben ließen, beschäftigte mich auf der Herfahrt die Neugier über ein eventuelles Urteil, das Glück meiner Verbindung betreffend. Am liebsten wüsste ich natürlich seine Pläne, in die er mich nicht eingeweiht hatte, obwohl sie mich unmittelbar betrafen, aber damit wären vermutlich auch die Götter überfragt. All das überlagerte jedoch nun die Frage, auf die ich soeben in meinen Überlegungen gestoßen war. Traf mich eine Teilschuld an der unerquicklichen Situation unter der ich seit langen Wochen litt? Doch für die Antwort brauchte ich nicht das Orakel und erstrecht nicht die Götter, denn ich glaubte sie zu kennen: Sie lautete: Ja.


    Ich erhob mich gestärkt, denn ich hatte in dieser Grotte erstmalig den Kopf für klare Gedanken freibekommen. Was ich nun brauchte, war nur noch ein unterstützender Rat.


    „Ich wäre dann soweit. Alles Unwichtige habe ich ausgeschlossen und vieles hat sich von selbst geklärt. Wäre es denn möglich, dass die Götter in unsere Gedanken dringen und hilfreich für Ordnung sorgen? Ich habe seit einem Schicksalsschlag nicht mehr so klar denken können wie jetzt.“


    Sicherlich wusste die junge Frau eine Antwort darauf, daher wartete ich sie wissbegierig ab, ehe ich die Frage an das Orakel stellte.


    „Bitte überbringe dem Orakel folgende Frage, und ich hoffe sehr, dass es eine Antwort von den Göttern erhält: Welche Möglichkeiten habe ich - im Rahmen des für mich vorgesehenen Schicksalsverlaufs und unter Berücksichtigung, dass ich den Göttern stets ausreichend Opfer darbringe – mein Glück zu verstärken und eventuelles Unglück zu mildern?“


    Nachdem ich meine Frage formuliert hatte, stellte ich fest, dass es eine jener Fragen war, die ich, wäre meine Mutter noch am Leben, ihr gestellt hätte. So aber suchte ich dafür den Götterrat. Es war nach wie vor so, dass mir ein Ansprechpartner im Leben fehlte, jemand, der Lebensweisheit in sich trug, der sich Zeit für mich nahm, Geborgenheit spendete, Sicherheit gab. Lange Zeit nahm Corvi diese Position für mich ein. Ich beschloss in diesem Moment, wieder offener ihm gegenüber zu sein. Vermutlich hatte ich ihm keinerlei Chance mehr dafür gelassen, Ratgeber für mich zu sein. Ganz ohne die Auskunft der Götter spürte ich bereits jetzt, wie hilfreich der Weg zum Orakel gewesen war.

  • Nachdem Minna der jungen Priesterin den kostbaren Weihrauch übergeben hatte, zog sie sich unauffällig in den Hintergrund zurück und beobachtete die ganze Szenerie. Dass die Herrin sie als Begleitung ausgesucht hatte, ehrte sie sehr. Für sie war es das erste Mal bei einer Orakelbefragung anwesend zu sein und so war sie dementsprechend aufgeregt. Sie wollte schließlich nichts falsch machen.


    Wie sie da so stand, betrachtete sie fasziniert die goldenen Räucherschalen sowie die vielen Bilder, die die Wände verzierten. Das Innere des Tempels beeindruckte sie sehr. Tief atmete sie die von Weihrauch ausgefüllte Luft ein und genoss die Ruhe, die an diesem bemerkenswerten Ort herrschte.


    Anschließend fiel ihr Blick wieder auf Deandra, die mittlerweile ihre Frage geäußert hatte. Sie fragte sich, was genau die Claudierin bedrückte. Bereits in Ostia hatte sie gemerkt, dass sie etwas belastete. Sie wirkte in letzter Zeit sehr traurig auf sie und Minna - auch wenn es ihr schwerfiel es zuzugegeben - verspürte sogar etwas Mitleid mit der jungen Römerin. Gespannt wartete sie also ab, ob das Orakel ihr weiterhelfen konnte.

  • "Die Götter sind einzig und allein dazu da, um unsere Gedanken zu ordnen." entgegnete die junge Priesterin auf Deandras an sie gestellte Frage und nahm sodann die Frage für das Orakel auf. Sie bewegte kaum sichtbar die Lippen als sie die Worte wiederholte, um sie sich einzuprägen.
    "Ich werde der Sibylle deine Worte überbringen. Bitte warte hier." Das Mädchen drehte sich um und entschwand in den langen Gang, glitt durch das Spiel aus Licht und Schatten, das die Sonne durch die Spalten im Stein warf.



    In der Grotte des Orakels hob und senkte sich bald ein Gesang, der nicht immer irdisch schien. Fernes Kreischen mischte sich dort hinein, auch Lachen und Weinen. Vielleicht war es nur eine einzige Frau, doch vielleicht waren es auch viele. Ein dumpfes Pochen begleitete die Stimmen während Rauchschwaden in den Gang drifteten und sich durch die Öffnungen im Stein verflüchtigten.

  • Es erfüllte mich mit Freunde, dass meine Vermutung, die Götter könnten bereits an der Klarheit meiner Gedanken beteiligt sein, zutraf. Das bedeutete nämlich auch, dass meine Überlegungen tatsächlich in die richtige Richtungen gingen bzw. dass ich an dem Ergebnis meiner gewonnenen Überzeugung vertrauensvoll festhalten konnte.


    „Ja, ich warte … natürlich“, erwiderte ich der Priesterin und lächelte. Ich freute mich sehr auf die mögliche Hilfestellung der Götter, zumindest hoffte ich darauf. Mit diesem Rüstzeug konnte mir sicherlich in der Zukunft nichts mehr passieren, darauf vertraute ich, daran wollte ich glauben. Mit einer neuen Unbeschwertheit folgte mein Blick der Priesterin, bis sie in dem langen Gang nicht mehr zu sehen war. Anschließend wandte ich mich zu Minna um.


    „Ist das nicht wunderbar?“, fragte ich sie und lächelte seit Wochen erstmalig wieder glücklich. Es war mir gerade auch herzlich egal, dass ich die Sklavin wie eine Vertraute behandelte. Sie hatte mich auf diesem Weg begleitet, während ihrer Anwesenheit hatten mir die Götter geholfen, Klarheit in meine Gedanken und Gefühle zu bringen, also war Minnas Gegenwart eher positiv gewesen, was auch ein Zeichen der Götter sein konnte. „Weißt du was?“, flüsterte ich, weil mir nicht klar war, ob eine Unterhaltung Sibylles Arbeit negativ beeinträchtigen konnte. „Nachher gehen wir zwei auf den Markt. Da kaufe ich dir was Schönes. Ich muss zuvor nur noch ein paar Wege erledigen.“


    Ich nickte ihr lächelnd zu, wandte meine Aufmerksamkeit dann jedoch wieder dem langen Gang zu, aus dessen Richtung ungewohnte Geräusche drangen. So sehr ich meine Wahrnehmung auch schärfte, mir war nicht möglich, die Stimmen und Klänge zu deuten, die sowohl Ehrfurcht als auch Besorgnis in mir auslösten. Bedeuteten sie etwas Gutes? Waren sie ein schlechtes Zeichen? Oder musste genau dies zu hören sein? Bekam dies jeder Ratsuchende zu hören?

  • Irgendwann verklangen die Stimmen und irgendwann verflüchtigte sich der Rauch. Die junge Priesterin trat in den Gang hinein. Ihre Bewegungen waren fließend und da ihre Füße unter dem langen Gewand nicht zu sehen waren, schien es fast als würde sie bis zu Deandra schweben. Mit einem freundlichen Lächeln überreichte sie die Antwort des Orakels auf einer Wachstafel.



    Horch! Wie Nachtigallen lieblich singen auf dem Silbertablett,
    ihre Zungen geröstet in Koriander und Wein.
    Schau! Wie Lämmer lieblich schimmern auf dem Silbertablett,
    ihre Keulen gebraten in Kräuter goldbraun.
    Riech! Wie Pfirsiche lieblich duften auf dem Silbertablett,
    ihre Haut samtweich überzogen mit Honig.
    Tauche ein den Löffel und iss.

  • Irgendwann ebbten die Gesänge und die Rufe ab. Stille trat ein, in die ich begierig lauschte. Während meine Augen über die Wände der Grotte streiften, ohne jedoch etwas Besonderes wahrzunehmen, konzentrierte ich mich vollkommen auf das Gehör, das mir erst einige Augenblicke später sachte Schritte auf steinernen Boden vermeldete. Die Gestalt der Priesterin wurde in lockerem Wechsel mal in wärmendes Licht und dann wieder in annähernde Dunkelheit gehüllt, als sie den langen Gang durchschritt, der in den Opferraum mündet. Wie gebannt hingen meine Augen an ihr. Minnas Anwesenheit hingegen hatte ich vollkommen vergessen, zumal sie auch auf meine letzte Bemerkung hin nichts erwidert hatte.


    Mein Herz schlug, als die Priesterin vor mich trat und mir eine Tafel überreichte. Bange Ungewissheit sorgte dafür, dass sich meine Zähne zunächst in die Unterlippe gruben, ehe ich zugriff. Das Pochen im Brustkorb verstärkte sich, als ich zwar den Träger der Botschaft spürte, ihn sogar mehrfach in den Händen drehte, aber nicht traute, auf den eingeritzten Götterrat zu blicken.


    „Die Götter irren nie, richtig?“, fragte ich mit piepsiger Stimme, während ich noch immer die Priesterin fixierte. Aus Sorge, die Botschaft könnte eine niederschmetternde sein, fingen meine Hände an zu zittern. ‚Einmal’, so sagte ich mir, ‚atme ich noch tief durch. Dann sehe ich mir die Weissagung an.’ Allerdings atmete ich bewusst weniger tief, um meiner Vorgabe nicht sofort nachkommen zu müssen. Letztlich nutzte alles zaudern nicht, ich wollte ja den Rat, also sollte ich ihn mir auch anschauen. Der Blick senkte sich langsam ab – bereit, jederzeit wieder nach oben zu schwenken. Als er jedoch auf die Tafel traf, siegte die Neugier über die Furcht.


    Flink huschte der Blick über die geritzten Zeichen, nahm die Botschaft auf und verinnerlichte sie. Als mir die Bedeutung des Götterrates klar wurde, huschte ein Lächeln über mein Gesicht. Ich übersetzte sie mit meinen Worten:


    ‚Mach die Augen auf, dann siehst du all das Schöne. Freue dich daran und genieße es.’


    Ein weiterer Atemzug, der Ruhe in den Herzschlag brachte, hob meine Brust. Ich erkannte die Chance, die vor mir lag; die für jeden, so auch für mich, vorhanden war. Das Schicksal konnten wir Menschen wohl nicht beeinflussen, wohl aber lag es an uns, welchen Umgang wir damit finden. Es lag in unserer Entscheidung, ob wir an Tiefschlägen zerbrechen oder sie aushalten, ob wir uns von Boshaftigkeiten niederdrücken lassen oder in eigener Stärke dagegenhalten, ob wir Demütigungen hinnehmen oder Konsequenzen ziehen, ob wir im Selbstmitleid zerfließen oder uns aufraffen, um das Positive im Negativen zu suchen, und letztlich auch zu finden.
    Ich blickte von den Zeilen auf, streifte flüchtig die Gestalt der Priesterin und verweilte mit einem Lächeln auf ihrem Gesicht.


    „Die Götter sind weise“, flüsterte ich. „Sie mögen stets mit dir und dem Orakel sein, damit noch vielen Ratsuchenden geholfen werden kann. Vale.“


    Ich drückte die Tafel an meine Brust, hielt sie mit übereinander geschlagenen Händen fest und verließ den geweihten Ort. Ohne bewusst die Schritte zu lenken, weil der Kopf voller Gedanken war, strebte ich dem Hause Hungaricus’ zu.

  • Sim-Off:

    Huch, wie peinlich! Tschuldige, hab’s irgendwie verplant zu antworten.


    Fasziniert schaute Minna der jungen Priesterin hinter her, wie diese wie von selbst durch die Gänge daherschwebte. Sie fragte sich, wie sie das wohl machte. Aufmerksam lauschte sie den fremdartigen Gesängen und den Stimmen, die aus den Gängen kamen. Das alles erinnerte sie an eine andere Welt. Es war so eigenartig, so anders, was sie bisher in Rom erlebt hatte.


    Die mystische Atmosphäre im Tempel zog sie immer mehr in ihren Bann. Völlig in ihren Gedanken versunken, merkte sie nicht einmal, dass sich Deandra zu ihr wandte. Hatte sie zu Minna gerade etwas gesagt? Sie war sich nicht sicher. Gerade als sie sich für ihre Unaufmerksamkeit entschuldigen und nachfragen wollte, ob die Herrin zu ihr gesprochen hatte, erschien die Priesterin wieder. Beinahe lautlos hatte sie sich ihnen genähert. In der Hand hielt sie eine Tafel, die sie Deandra überreichte. Diese war in diesem Moment sichtlich aufgeregt. Man merkte, wie sie mit sich rang und zögerte auf die Schrift zu blicken. Anscheinend war die Nachricht auf der Tafel von großer Bedeutung für sie. Schließlich las sie sich die Botschaft doch durch und Minna schloss aus ihrem strahlenden Lächeln, dass es sich um eine positive Nachricht handeln musste. Sie atmete erleichtert aus. Denn wenn es den Römern schlecht ging, ging es den Sklaven meistens auch schlecht, befand Minna.


    Nachdem Deandra die Botschaft schließlich verinnerlicht hatte, bedankte sie sich und machte sich auf den Weg nach draußen. Minna warf noch einen letzten Blick zur Priesterin und folgte anschließend schweigend ihrer Herrin aus dem Tempel.

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