Östlich von Alexandria - die Mysterien des Dionysos

  • Östlich von Alexandria, vor dem Sonnentor, beinahe eine Stadie vom Meson Pedion entfernt, in Richtung des sogenannten Fluvius Novus, verborgen zwischen flachen Dünen der Küstenlandschaft, lag unter einer Düne ein großes Gewölbe, das offenbar einst als Vorratsraum genutzt worden war. Vielleicht hatte es zu einem Landgut gehört, das jetzt verfallen und abgetragen war. Nun stand das Gewölbe leer. Niemand wusste, dass es dieses Gewölbe überhaupt gab, oder besser, fast niemand.
    In den letzten Tagen jedoch hatten sich hin und wieder Reisende von der Straße nach Nikopolis entfernt und hatten dieses Gewölbe zielstrebig aufgesucht. Sie hatten dies jedoch vereinzelt und unauffällig getan, sodass es niemand bemerkt haben konnte. Zwei dieser Reisenden hatten sogar einen Stier hinter die Dünen gebracht, ein prachtvolles Tier. Dieses wurde nun in einem Holzverschlag hinter der unterkellerten Düne gefangen gehalten und gut versorgt. Ständig war hier jemand, der über diesen Stier und über die Stätte wachte.
    Am letzten Tag war eine Sänfte durch die Dünen zum Gewölbe getragen worden. Ein Greis, wer ihn kannte, wusste, dass es sich dabei um Nikodemos aus Alexandria handelte, war ausgestiegen und hatte die lange Treppe ins Gewölbe hinab genommen. Nach einer sehr langen Zeit, es war bereits dunkel geworden, was ja in Aigyptos nicht in einer langen Dämmerung vonstatten ging sondern beinahe plötzlich, kam der Greis wieder aus dem Gewölbe heraus. Er ging mit erstaunlich festen Schritten zum Verschlag und begutachtete den Stier. Dann kehrte er zu seiner Sänfte zurück und ließ sich nach Alexandria tragen. Am Sonnentor wurde er sogar von der Stadtwache aufgehalten, was es früher nicht gegeben hatte, doch nun war die Stadtwache dazu sehr deutlich angehalten worden. Nachdem Nikodemos sich als Alexandriner zu erkennen gegeben hatte, konnte er das Tor passieren und wurde zurück zu einem der Häuser seines Vaters getragen.
    Nun war erneut die kurze Dämmerung eingetreten und nach und nach gingen weißgekleidete Gestalten durch die einsamen Dünen und verschwanden im Eingang zu jenem versteckten Gewölbe. Der Ort des Mysteriums lag gut versteckt, niemand, der nicht eingeladen war, würde ihn bemerken. Der Stier stand nicht mehr in seinen Verschlag, er war bereits in das Gewölbe hinabgebracht worden.

  • Nachdem er von der freudigen Botschaft erfahren hatte, blieb Timokrates nicht lange untätig, sondern packte gleich alles Notwendige, setzte sich in Sänfte und war schon auf dem Weg zu besagtem Gewöbe.


    Natürlich sind sowohl Sänfte als auch Timokrates so gehalten, dass man den Prytanen von Außen nicht erkennen konnte. Mysterien sollen geheim bleiben und so auch die Teilnehmer. Ein unterhaltsames Versteckspiel schon im Vornherein, findet Timokrates, das auch Niemanden schadet, weil es in Echt Niemanden interessiert, Wer Wo welchen Mysterien beiwohnt und welchen nicht.


    Derart verhüllt steigt Timokrates aus der Sänfte und legt die letzten Meter durch den Sand in Richtung des ominösen Gewölbes allein zurück...

  • Um das Gewölbe herum war niemand zu sehen. Auch waren die halbversteckten Eisentüren, die zum unterirdischen Raum führen, fest verschlossen. Der Ochse war ebenfalls nicht mehr hier. Alle Teilnehmer hatten sich bereits im Landhaus des Mystagogens eingefunden. Alle? Nein, ein Anhänger des Dionysos-Kultes war dazu abgestellt worden, Leute wie Timokrates, die auf eigenartigen Wegen den geheimen Ort erfuhren, obwohl sie das eigentlich gar nicht sollten, doch einige Anhänger schienen weniger schweigsam zu sein, als es die Regel war, abzufangen und sie zum Landhaus des Nikodemos zu begleiten, damit sie sich im Sand, der zunehmend abkühlte, nicht die Beine steif standen.
    Der Mann, noch nicht in seine weißen Kultgewänder gekleidet sondern in einen einfachen Chiton von undefinierbarer Farbe, kam auf den Neuankömmling zu. "Chaire", sagte er. "Willst du den Rufenden rufen in dieser Nacht?", fragte der Mann in einem eigenartigen Singsang

  • Die Prozession, die vom Landhaus des Nikodemos kam, näherte sich langsam dem Gewölbe in den Dünen. Die Frauen in ihren dunkelblauen, fast schwarzen, wallenden Gewändern (dies waren die bereits eingeweihten) und die Männer und uneingeweihten Frauen in ihren weißen Gewändern begannen, Beschimpfungen zu schreien, schon beinahe in einer Art Rausch, und sie schrien diese Schimpfworte mit einer Würde, die keine Lächerlichkeit aufkommen ließ. Einige zerrissen sich ihre Gewänder und schlugen sich die Fingernägel in die Haut. Schreie waren zu hören, doch über allen Geräuschen lag der monotone Klang des Tympanions. Der Stier ließ sich bereitwillig zum Eingang des Gewölbes führen, an dessen beiden Seiten Frauen mit Fackeln standen. Der Stier kannte das Gewölbe, hier hatten ihn die Eingeweihten vorbereitet für die Prozession und das Opfer. Die Spitze des Zuges schob sich in den Schlund, als der der Eingang erschien.

  • Uralte Dithyramben sangen die Menschen. Nikolaos hatte sie schon lange vor dem Mysterium mit der Hilfe des Nikodemos gelernt. Die Menschen legten vor dem Eingang des Gewölbes Geschlecht, Ämter, Herkunft und allen fassbaren Reichtum ab, wie man Kleider im Umkleideraum eines Bades ablegt. Nun war Nikolaos an der Reihe, in die Dunkelheit zu treten. Etwas zögerlich ging er die steinernen, ausgetretenen Stufen hinab. Am unteren Ende des schmalen Treppenschachtes flackerte das Licht vieler Kiefernfackeln und bronzener Kandelaber. Schwerer Duft von Harzen und vom verdampften Opium begrüßte Nikolaos. Das Gewölbe war nicht sehr groß, die Menschen standen dicht beieinander, um in der Mitte, um einen großen, nur grob behauenen Steinblock Platz zu lassen. Nikolaos stellte sich zu den anderen Nichteingeweihten. Am Steinblock bereiteten sich bereits der Hierophant, Nikodemos, und die anderen hohen Priester auf das Opfer vor.

  • Nun erreichte endlich auch der Stier das Gewölbe. Die Gesänge und die Trommelklänge schwollen an. Nikolaos war benommen. In Bronzeschalen, unter denen Öllampenflammen brannten, die die Schalen erhitzten, verdampfte Opium, in anderen Schalen verbrannten Kräuter. Der Dampf und der Rauch vermischten sich mit den Ausdünstungen der Menschenleiber zu einem Nebel, der schläfrig machte und doch keine Ruhe brachte, sondern den Leib in Erregung versetzten. Die Eingeweihten legten ihre Kleider ab, die Frauen trugen nur noch schwarze Tücher, wie Bänder um ihre nackten Körper gelegt. Schweiß stand auf ihren Häuten, deren unterschiedliche Farben im Licht der Fackeln zu einem gleichen, gespenstischen warmen Weiß geworden waren. Schweiß ließ die Häute schimmern, ebenso die duftenden Öle, mit denen sie sich eingerieben hatten. Die Gesichter der Eingeweihten waren verzerrt zu Theatermasken. Nicht nur Rauch und Dampf erfüllte die Höhle sondern auch der Lärm. Nikolaos schmerzten die Ohren.

  • Der Stier wurde zum Hierophanten geführt, der nun nur noch dies war und nichts mehr sonst, wie auch die Eingeweihten alles gleichwie ihrer Kleidung abgelegt hatten, was sie draußen trugen. Es gab hier keine Hausherren, Ehefrauen, Sklaven, Händler, Beamten mehr. Alles, was draußen Gewicht hatte, war hier nichtig, war leicht, sodass es vom betäubenden und zugleich erregenden Rauch fortgetrieben wurde.
    Einer der Helfer des Hierophanten legte einen großen, mit Blumengirlanden verzierten, Hammer aus Bronze auf den Altar. Ein anderer goß über diesen Duftwasser aus, ein weiterer blies Rauch, der aus dem Schnabel einer kleinen Lampe drang, über den Altar. Dann nahm der erste Helfer den Hammer wieder in die Hände. Der Hierophant goß Wein über dem bekränzten Haupt des Stieres aus. Das weiße Fell färbte sich rot. Die Helfer schoben das Tier näher an den Altar heran und drückten, die Hörner haltend, das Kinn des Opfertieres auf die marmorne Platte. Die Gesänge wurden zunehmend schriller, die Bewegungen der Tänzer eckiger und härter. Das Flackern der Fackeln ließ die Tänze langsam aussehen, als befänden sich die Tänzer in einer anderen Zeit als in der, in der sie sich zu befinden gewohnt waren.

  • "Dionyse! Stifter des Weins und der Freuden!
    Dionyse! Reines Ziegenkalb, edler, kraftvoller Stier!
    Dionyse! Sohn des Zeus!
    Dionyse! Sohn der Persephone,
    Dionyse! die als Mädchen mohnbekränzt
    Dionyse! sitzt im dunklen Haus ihres Gemahls!
    Dionyse! Zweimalig Geborener!
    Dionyse! Zerrissender und Verschlungener!
    Dionyse! Besamer der Erde mit deinem Blut!
    Dionyse! Dein Blut
    Dionyse! das den letzten Schnee
    Dionyse! rot färbt wie die Morgenröte!
    Dionyse! Herr der Weinreben!
    Dionyse! Herr der Schlangen!
    Dionyse! Vater des Priapos,
    Dionyse! der die Knaben Männer
    Dionyse! werden läßt!
    Dionyse! Vater des Hymenaios,
    Dionyse! der der Ehe Segen schenkt!
    Dionyse! Vater der Thalia!
    Dionyse! Vater des Phthonos!
    Dionyse! Vater des Weingesichtigen!
    Dionyse! Vater der Aglaia!
    Dionyse! Vater der Euphrosyne!
    Dionyse! Gemahl und Bruder der Isis,
    Dionyse! die ist die Herrin der Nacht
    Dionyse! und die Herrin des Meeres
    Dionyse! und die weise Heilerin
    Dionyse! und die weise Zauberin!
    Dionyse! Herr der Unterwelt!
    Dionyse! Sinkende Sonne!
    Dionyse! Rufender!
    Dionyse! Lärmender!
    Dionyse! König!
    Dionyse! Retter!
    Dionyse! Beschützer!
    Dionyse! Reinigender!"

  • Nach der Anrufung durch den Chor der Versammelten, der sich zum Schluss zu einem wilden Geschrei gesteigert hatte, vergoß der Hierophant erneut Wein auf das Haupt des Stieres.


    "Reinige auch uns, Gott, der du Mauern einstürzen läßt und Gesichter einzustürzen läßt in Verzückung! Reinige uns! Schenke uns deinen Samen, auf dass der Sommer komme! Reinige uns, oh König der Freude, mit der Lust und dem Rausch!"


    Der Opferhelfer holte mit dem Hammer aus. Die Betäubung des Stieres ließ nach. Das Tier bäumte sich auf und blökte, die Augen irr und verdreht. Das Tympanon verstummte, auf den Auloi wurde ein einziger, langer Ton gespielt.


    "Schenke uns deinen blutigen Samensegenregen, oh Herr der Unterwelt, der du heute hinaufsteigst und Frühling werden läßt und die Geister des Winters vertreibst und dich mit deiner Gemahlin vereinst!"


    Der Hammer sauste auf den Kopf des Stieres nieder. Der Schädel zersprang, Blut spritze durch das Gewölbe und besudelte die Wände und die Leiber und die Gesichter der Versammelten. Hirn ergoß sich im Blutstrom über den Altar, und der Strom riss die Blüten mit sich. Noch einmal bäumte sich des Stieres Körper auf, dann sank er, mächtig und schwer, zu Boden.


    "Dionyse! Stifter des Weins und der Freuden!
    Dionyse! Reines Ziegenkalb, edler, kraftvoller Stier!
    Dionyse! Sohn des Zeus!
    Dionyse! Sohn der Persephone,
    Dionyse! die als Mädchen mohnbekränzt
    Dionyse! sitzt im dunklen Haus ihres Gemahls!
    Dionyse! Zweimalig Geborener!
    Dionyse! Zerrissender und Verschlungener!
    Dionyse! Besamer der Erde mit deinem Blut!
    Dionyse! Dein Blut
    Dionyse! das den letzten Schnee
    Dionyse! rot färbt wie die Morgenröte!
    Dionyse! Herr der Weinreben!
    Dionyse! Herr der Schlangen!
    Dionyse! Vater des Priapos,
    Dionyse! der die Knaben Männer
    Dionyse! werden läßt!
    Dionyse! Vater des Hymenaios,
    Dionyse! der der Ehe Segen schenkt!
    Dionyse! Vater der Thalia!
    Dionyse! Vater des Phthonos!
    Dionyse! Vater des Weingesichtigen!
    Dionyse! Vater der Aglaia!
    Dionyse! Vater der Euphrosyne!
    Dionyse! Gemahl und Bruder der Isis,
    Dionyse! die ist die Herrin der Nacht
    Dionyse! und die Herrin des Meeres
    Dionyse! und die weise Heilerin
    Dionyse! und die weise Zauberin!
    Dionyse! Herr der Unterwelt!
    Dionyse! Sinkende Sonne!
    Dionyse! Rufender!
    Dionyse! Lärmender!
    Dionyse! König!
    Dionyse! Retter!
    Dionyse! Beschützer!
    Dionyse! Reinigender!"
    , wiederholte der Chor die Anrufung, dieses Mal verzückt und gleichzeitig wild tanzend. Gelächter und Geschrei hallte an den felsenen Wänden wieder.


    "Reinige uns, Reinige uns!"

  • Mit langen, dünnen Messern durchschnitten die Opferhelfer das Fleisch des Tieres, dort, wo die großen Blutströme verliefen, die vom Herzen in die Peripherie führten. Hellrot rann es hinab in das Becken um den Altar. Als die Ströme versiegten, schnitten die Opferhelfer große Fleischbrocken aus dem Leib des Stieres.
    Der Hierophant stieg ins Becken. Das Blut kroch sein weißes Gewand hinauf. Er kniete nieder und tauchte die Hände ein. Das Tympanion wurde wurde geschlagen, langsam und leise. Die Einzuweihenden traten nun an den Rand des Beckens. Die Eingeweihten wiederholten leise und langsam den Hymnus. Nikolaos war der erste, der vor den Hierophanten trat. Nikodemos zog seine Hände aus dem Blut. Er sah Nikolaos lange schweigend an. Nikolaos kniete nieder. Nikodemos strich mit seinen blutigen Händen über das Gesicht des jungen Mannes und über seine Arme und über seine Brust. Warm war das Blut noch. Doch zugleich schien eine andere Hitze Nikolaos Haut zu versengen. Er schrie auf.
    "Iakche, reinige mich, reinige mich, oh Herr der Freuden und der Unterwelt!", brüllte Nikolaos, die Augen weit aufgerissen. Ruckartig ließ er sich nach vorne fallen und landete der Länge nach im Bluttümpel.
    "Iakche, reinige ihn, nimm ihn auf in deine Jüngerschaft!", murmelte der Chor im Hintergrund. Nikolaos' Oberkörper schnellte, wie automatisch, wieder nach oben. Er erhob sich mit bebenden Knien und pochenden Schläfen. Er drehte sich, er sprang, er schrie, er lachte. Er wirbelte herum und drang ein in die Menge der Eingeweihten.

  • Er wußte nicht, wielange er tanzte und sich wandt im Meer der Leiber, das zu einer einzigen Masse wurde, wie Atome zu Stoffen werden. Heiß war es zwischen den Leibern, blutig und schweißerfüllt schien selbst die Luft zu sein. Alte Weiber, junge Mädchen, Männer im kräftigsten Alter, Matronen, Knaben, Greise, dünne Menschen, menschliche Fleischberge. Die Leiber wälzten sich im Reigen um den Altar. Fleisch traf Fleisch. Das flackernde Licht der Fackeln ließ die Unterschiede verschwinden. Fleisch war Fleisch.
    Nikolaos hatte sein Gewand verloren im wilden Reigen, wie die meisten. Auf einem Teppich aus besudelten Gewändern, die einst weiß oder glänzend schwarz gewesen waren, trampelten sie, setzten sie ihre zarten ägyptischen oder griechischen Füße oder aber ihre fleischumhüllten Hufe, ihre Pranken, ihre schimmligen und von Maden bewohnten Sohlen, die keine Schuhe kannten oder die zarten, täglich mit Rosenwasser gewaschenen Füße, lange Füße, breite Füße, Frauenfüße, Knabenfüße, die blau geäderten Füße von Greisen.
    Der Hierophant riss die Fleischbrocken, die die Opferhelfer zuvor aus dem Leib des Stieres geschnitten hatten, mit den bloßen Händen aus dem Fleischberg. Erstaunlich geordnet traten wieder einzelne Menschen vor, dieses Mal auch die bereits Eingeweihten, und nahmen Fleisch im Empfang. Nikolaos kam spät an die Reihe, er hatte zwischen den wabernden Leibern zweier Greisinnen geruht, seinen Kopf zwischen die Brüste der einen gelegt, selig trunken schlummernd. Er wankte, als er auf den Hierophanten zu ging. Es schien sich um ihn zu drehen, der Schwindel hatte ihn ergriffen, seine Hände zitterten, als sie das blutige Fleisch empfingen. Er hielt den Fetzen über dem Kopf und sah hinauf und schrie verzückt.
    "Iakche! Iakche! Iakche!"
    Dann führte er den Fleischbrocken zu Mund und biss hinein. Das rohe Fleisch war zäh, doch seine Zähne schienen sich in die Zähne von Hyänen verwandelt zu haben, die ein Bein nicht freigeben, bis sie es abgenagt haben. Blut rann seine Mundwinkel hinab. Blut rann hunderte Mundwinkel hinab, es schmatze und verschlang in dem Gewölbe. Der Tanz begann wieder, einige kauten noch, während sich Fleisch dem Fleisch näherte, einigen rissen die Eckzähne heraus und blieben im Fleisch stecken, einige Zähne fielen zu Boden und wurden achtlos mit der Kleiderflut über den Boden gerührt von den Füßen und Händen und den sich wälzenden Leibern.



    Sim-Off:

    Ich möchte an dieser Stelle klarstellen, dass es mir nicht um die Verherrlichung der hier beschriebenen Dinge (Tierquälerei, Blutbäder im wahrsten Sinne des Wortes, sexuelle Ausschweifungen, Omophagie) geht, sondern um die Darstellung dessen, was es vermutlich in der antiken griechischen Religion unter anderem auch gab. Dabei habe ich mich bemüht, nicht zu anstößig zu schreiben, sollte sich jemand an etwas hier beschriebenen stören, möge er mir dies bitte via Pn mitteilen. Verläßliche historische Quellen über die dionysischen Mysterien gibt es leider kaum, ich habe hier eine Mischung aus vielen, oft sehr unterschiedlichen Aspekten des Kultes verarbeitet. Es ist aber eher Fiktion als eine wissenschaftlich korrekte Beschreibung.

  • Ein Mann war ein Stier geworden. Er lief umher, stieß ein tierisches Gebrüll aus und wütete unter den Menschen, die seine Herde geworden waren.
    Blut aus unzähligen Wunden, die niemand spürte, mischte sich mit dem Blut des Opfertieres. Fleischbrocken flogen umher, ebenso Fetzen von Gewändern und die kläglichen Reste des großen Tympanions, das zu Fetzen gespielt worden war. Die Töne der Auloi waren nur noch schwach und schief. Viele Musikanten hatte die alles niederwalzende Menge verschlungen.
    Wein ergoß sich über die Wände und den Boden der Höhle. Die Räucherlampen waren verloschen, die Räucherkräuter im Rausch von Rasenden verschlungen oder zu Boden gefallen.
    "Dioynsos, mein Gemahl!", rief eine Frau, und sogleich antworteten ihr weitere Frauen, bis sich daraus ein rasender Chor entwickelte, dessen Sängerinnen in Kreisen durch die Höhle liefen und den verbliebenen Wein, den sie in Krügen trugen, Menschen in die Gesichter zu schütten. "Seht, seht, seht!", rief die Frau, die mit einem in der Stadt angesehenen Mann verheiratet war und die meist aus dem Obergeschoß des Hauses ihres Mannes nicht herauskam, denn der Mann hielt sehr stark an den alten Sitten fest. "Seht, seht! Wir feiern heute Hochzeit! Wünscht mir Segen und bald ein Kind, das ich dem Dionysos schenken werde!" Die Frau brach in Gelächter aus. Sie stolperte, hielt sich an der Wand fest, und sank zu Boden, wo sie, immer noch schrill lachend, liegen blieb.

  • Ein Mann, seine Gemahlin (was hier niemand wusste und was hier bedeutungslos war) und zwei Sklaven hatten sich in eine Ecke zurückgezogen. Als die Frau, die jung und kräftig war, Nikolaos vorbeiwirbeln sah, rief sie ihn an und lud ihn ein. Zwischen blutgetränkten Kleiderfetzen lagen sie, das Gelächter schwoll an.
    Längst waren die Klänge der Auloi verstummt und die Musikinstrumente achtlos fortgeworfen. Längst war Nikolaos wie ertaubt. Nur noch gedämpft hörte er, das Gelächter der Frau, das Gelächter ihres Mannes und der Sklaven, sein eigenes Gelächter.
    Eine Gruppe um den Hierophanten stimmte erneut den Hymnus an, und nach und nach fielen alle mit ein. Sie unterbrachen ihre Tätigkeiten, um sich zu erheben. Feierlich sangen sie, feierlich standen sie da, alle wie Knaben und Mädchen bei einer Prozession einer Stadtgottheit, feierlich und unschuldig standen sie in ihren zerrissenen Kleidern, im Blut, im Schmutz, im Schweiß.

  • Als der Gesang endetete, deutete der Hierophant auf eine junge Frau, wohl noch jünger als Nikolaos. Diese trat zu ihm an den Altar. Der Hierophant warf sich vor ihr auf den Boden. Das Mädchen versetzte ihm einen leichten, vorsichtigen Fußtritt gegen die Stirn, woraufhin der alte Mann sich schwerfällig erhob. Er hielt der Frau eine Wange hin, der sie einen knallenden Schlag mit der Hand verpasste. Nun wählte das Mädchen drei weitere Frauen aus. Diese vier wurden vom Hierophanten aus der Höhle geführt.
    Nach einiger Zeit kehrten sie zurück. Das Mädchen, das nun eine Krone trug, die aus Blumen geflochten war, ritt auf einem reich geschmückten Ziegenbock, den der Hierophant an einem Band aus Seide führte. Jede der drei anderen Frauen trug ein Zicklein. Diese Tiere waren nicht betäubt. Sie meckerten ängstlich und wanden sich, doch die Frauen ließen sie nicht entkommen. Das reitende Mädchen hatte in einer Hand eine Art Szepter aus Holz, dessen Ende wie das Bein einer Ziege geformt war. Auch um das Szepter waren Blumenranken gewunden. In der anderen Hand hielt es einen Krug. Der Hierophant führte es an den Altar. Das Mädchen blieb auf dem Ziegenbock sitzen, während das erste Zicklein auf die Steinplatte gelegt wurde. Mit dem Szepter deutete das Mädchen auf vier, besonders kräftige Frauen. Diese stellten sich daraufhin an je eine Ecke des Altares und nahmen jeweils ein Bein des ängstlich meckernden und sich windenden Zickleins. Das berittene Mädchen goß Wein aus dem Krug über das Zicklein. Dann zogen die Frauen an den Beinen. Sie waren wie rasend. Das Ziegenkind schrie nun. Auf beängstigende Weise waren diese Schreie menschlichen sehr ähnlich. Es versuchte, mit den Beinen auszuschlagen, doch die Griffe der Frauen waren fest. Ein Knacken und Reißen war zu hören, die erste der Frauen hatte das ihr zugehörige Ziegenbein gebrochen. Die anderen drei erhielten nun Unterstützung. Zwei Frauen griffen nun auch nach dem Kopf des Tieres. Der bäumte sich wild auf. Die Augen des Zickleins waren irr und verdreht. Aus dem Maul rann Geifer. Wieder ein Knacken. "Wir zerreißen dich, Rufender!", kreischten die Frauen. Das erste Bein des Zickleins war mit vereinten Kräften aus dem Leib gerissen. Irr vor Schmerzen stieß das verstümmelte Tier einen Schrei aus. Einer der Opferhelfer reichte dem berittenen Mädchen den Opferhammer. Die Frauen ließen einen Moment vom Tier ab. Das Mädchen ließ, einen tiefen, durchdringenden Schrei ausstoßend, den Hammer auf den Rücken des Zickleins fallen. Der Leib barst, der Rücken brach. Sofort machten sich die Frauen wieder ans Werk. Nun war es ein Leichtes, die Glieder auszureißen und den Leib in Stücke zu reißen. Frauen, die ein Bein ergattert hatten, liefen umher und schlugen mit dem blutigen Ende Männern ins Gesicht, woraufhin sich diese niederwarfen und der Frau als Reittier dienten. Die Männer meckerten wie Ziegen. Erst wenn der Mann erschöpft zusammenbrach, oder sich zu Boden warf, um sich seiner Last zu entledigen, suchte die Frau einen neuen Ziegenbock . Das zweite, echte Zicklein wurde nun auf den Altar gelegt. Es wiederholte sich. "Wir zerreißen dich, Lärmer!", riefen die Frauen, die mit diesem Opfertier beschäftigt waren. Bald ritten alle Frauen auf Männerrücken und schwenkten Ziegenbeine wie Keulen oder Fleischfetzen wie Fahnen oder Rippen wie Schwerter. Auch das dritte Zicklein wurde bald zerrissen.



    Sim-Off:

    Ich bin nicht masochistisch veranlagt, die hier beschriebenen "Demütigungen" von Männern durch Frauen dienen dazu, um zu illustrieren, dass innerhalb von Mysterienreligionen oft die ansonsten patriarchalische Gesellschaft der Hellenen umgewertet wurde zu einer Art "mutterrechtlichen". Es wird vermutet, dass viele der Rituale in Mysterien (das hier beschriebene ist größtenteils aber meiner Phantasie entsprungen) aus vorgeschichtlicher Zeit stammen, in der die Gesellschaft der Vorfahren der Hellenen vielleicht mutterrechtlich gewesen war.

  • Als die Frauen eine Weile gewütet hatten und ein Großteil der Männer erschöpft und mit Blut besudelt am Boden lag, zwischen Kleider- und Fleischfetzen, zwischen Blut- und Weinlachen, stürmte die Meute der Frauen, angeführt durch die Erwählte, die steinerne Treppe hinauf und ins Freie.
    In der Höhle war es nun still. Einige der Eingeweihten waren in den Schlaf oder in den Halbschlaf gesunken, einige waren bewusstlos. Die Fackeln waren heruntergebrannt und die Lampen hatten nicht mehr viel Öl. Die Welt schien sich zu drehen um Nikolaos. In seinen Ohren schien immer noch der Lärm widerzuhallen. In seinen Augen schien immer noch das Licht wiederzuscheinen. Trugbilder schienen ihn zu verspotten. Ziegen tauchten in Ecken der Höhle auf und lösten sich wieder in Luft aus. Brüste und Euter umgaben ihn, um sich in blutig daliegendes Fleisch zu verwandeln und dann in Asche. Blumen wuchsen aus seinen Körperöffnungen und verdorrten sogleich. Ein alter Ziegenbock kam auf ihn zu. Chaire, Nikolae! Chaire, Nikolae! Chaire, Chaire! Chaire! Chaire! Chaire!... Der Ziegenbock brach in Gelächter aus, das sich bald in das dem Ziegen eigenes Meckern verwandelte. Die Höhlenwände waren wie aus Fleisch und bebten wie unter Herzschlägen. Gelächter hörte Nikolaos wie aus der Ferne und wie durch dicke Mauern.

  • Das Tor am oberen Ende der Treppe wurde aufgerissen. Die Türöffnung war ein schwach glimmendes Rechteck. Ein Schatten schob sich in das Licht. Es war die Anführerin der Frauen.
    "Er steigt empor!", rief sie in die Höhle hinab. Ihre Stimme hallte hundertfach an den Wänden Wieder. Die Männer schreckten aus dem Schlaf oder aus dem Rausch. Zögernd erhoben sie sich sich. Schwankend näherten sie sich dem schmalen Treppengang. Langsam stiegen sie hinauf.
    So auch Nikolaos. Die Stufen erschienen ihm weich, als könne er in ihnen versinken wie in Schlamm. Das Licht am Ende der Treppe blendete ihn, obgleich es schwach war und eher grau als gelb oder weiß. Ein Rotschimmer mischte sich ins Grau. Der Gott stieg empor! Die Männer auf der Treppe beeilten sich nun, um dem Dionysos ihren Gruß erweisen zu können.
    Endlich war auch Nikolaos oben angekommen. Er reihte sich in die Menge, die gen Osten sah, wo wie ein roter Feuerball die Sonne aufstieg. Den ganzen östlichen Himmel hatte er angesteckt mit seinem Feuer.


    "Dionyse! Stifter des Weins und der Freuden!
    Dionyse! Reines Ziegenkalb, edler, kraftvoller Stier!
    Dionyse! Sohn des Zeus!
    Dionyse! Sohn der Persephone,
    Dionyse! die als Mädchen mohnbekränzt
    Dionyse! sitzt im dunklen Haus ihres Gemahls!
    Dionyse! Zweimalig Geborener!
    Dionyse! Zerrissender und Verschlungener!
    Dionyse! Besamer der Erde mit deinem Blut!
    Dionyse! Dein Blut
    Dionyse! das den letzten Schnee
    Dionyse! rot färbt wie die Morgenröte!
    Dionyse! Herr der Weinreben!
    Dionyse! Herr der Schlangen!
    Dionyse! Vater des Priapos,
    Dionyse! der die Knaben Männer
    Dionyse! werden läßt!
    Dionyse! Vater des Hymenaios,
    Dionyse! der der Ehe Segen schenkt!
    Dionyse! Vater der Thalia!
    Dionyse! Vater des Phthonos!
    Dionyse! Vater des Weingesichtigen!
    Dionyse! Vater der Aglaia!
    Dionyse! Vater der Euphrosyne!
    Dionyse! Gemahl und Bruder der Isis,
    Dionyse! die ist die Herrin der Nacht
    Dionyse! und die Herrin des Meeres
    Dionyse! und die weise Heilerin
    Dionyse! und die weise Zauberin!
    Dionyse! Herr der Unterwelt!
    Dionyse! Sinkende Sonne!
    Dionyse! Rufender!
    Dionyse! Lärmender!
    Dionyse! König!
    Dionyse! Retter!
    Dionyse! Beschützer!
    Dionyse! Reinigender!"


    Der Morgennebel löste sich langsam auf. Das Grau schwand. Die Morgensonne schickte ihre ersten Strahlen hinab. Diese blendeten Nikolaos, er musste blinzeln.


    "Dionyse! Wiederaufsteigende Sonne!"


    Der letzte Anruf war nur noch heiser und schwach. Im gleichen Maße, wie der Gott wieder zum Leben erweckt wurde, aufblühte und seine alte Kraft zurückgewann, wurden seine Anhänger schwächer und müder. Wie erstarrt standen sie eine Weile zwischen den Dünen, vor dem Eingang zum unterirdischen Gewölbe und sahen in den Himmel. Als es gänzlich hell geworden war, zerstreuten sie sich und gingen dorthin, woher sie gekommen waren.


    Das Mysterium war zuende.

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