Prothesis- die Aufbahrung des Epistates:
Zwei Tage lang würde der Leichnam des Epistates in einem der prunkvollen Nachbarräume des Haupttempels aufgebahrt werden. Zwei Tage lang würden die Menschen aus Alexandria Zeit haben, sich von dem Mann, der viele Jahre lang das Museion geleitet und geführt hat, zu verabschieden. (Oder ihn noch mal zu verfluchen). Und ihm noch die letzte Ehre zu erweisen. Lichtdurchflutet war der Raum am Tage, die goldenen Strahlen fielen auf das Totenbett des Epistates. Gewaschen und gesalbt ruhte der Epistates auf dem harten Marmortisch. Sein Körper war mit weißen Binden umwickelt. Ein weißes Tuch bis zu seinem Kinn ausgebreitet. Seine Gesichtszüge mit Rafinesse derart gestaltet, dass er in einem tiefen Schlaf zu schlummern schien. Rote und weiße Blumen waren um seinen Körper gestreut, ein Kranz aus purpurnen Orchideen umschmiegte sein weißhaariges Haupt. Auf seiner Zunge lag ein Drachme (die ein aufmerksamer Beobachter durchaus sehen konnte, war der Mund doch ein klein wenig geöffnet).
Um das Totenbett waren vier Kohleschalen aufgestellt, aus denen Düfte mit wohl riechenden, brennenden Kräutern aufstiegen und am Abend und der Nacht ein rot glimmendes Licht verbreiteten. Neben dem Bett waren stets einige ältere Frauen, deren Haare zerrauft waren, und die leise vor sich hin jammerten und die Totenklage vollführten. Manches Mal legten sie auch die Hände über den Kopf zusammen und schluchzten weiter. Zudem standen hinter ihnen drei Männer, die in der rituellen Haltung im Klagegestus aus harrten, mit ausgestreckter Rechten und an den Kopf geführten linken Hand. Auf Stühlen an der Seite saß eine Frau, die höchstens dreißig Jahre sein konnte. Ihre dunklen Haare waren streng nach hinten geflochten, ihre Kleidung in einem tristen Grau gehalten. Blass und ernst starrte die Frau auf das Totenbett und rührte sich schon seit Stunden nicht. Neben ihr saßen drei Kinder, von 12 bis hin zu 5 waren diese vom Alter her, zwei Mädchen und ein Junge. Die Kinder wurden zusehends ungeduldig. Wenn sie auch gedrückte Mienen offenbarten.
In dem Moment betrat Sosimos den Raum. Der Gelehrte ging langsam auf das Totenbett zu und sah mit beherrscht, kalter Miene auf den toten Körper hinab. Er streckte die rechte Hand aus und tippte sich mit der Linken gegen den Kopf. Einen Augenblick verharrte er so, bis er sich umwandte und vor die Frau trat. „Mein Beileid, werte Eirene.“ Die Frau sah zu dem Philologos auf und nickte stumm. Anschließend verfiel sie in ein weiteres Brüten. Sosimos wandte sich um und nahm auch neben dem Totenbett Platz, um einige Stunden hier zu verbringen. Schüler, Angestellte, Menschen aus der Stadt, immer wieder traten sie in die mit dunklem und weißen Marmor ausgekleideten Raum, verweilten einige Zeit still vor dem Leichnam, verkündeten ebenso Beleidsbotschaften und gingen dann wieder. Nur wenige blieben längere Zeit.