Cubiculum Cl. Epicharis | Gedankenaustausch

  • Die Tage vergingen ohne nennenswerte Ereignisse. Ostia schien ebenso wenig Anreiz für einen Ausflug zu bieten wie Mantua, also weilte ich häufig auf meinem Zimmer, stellte Überlegungen an, las in irgendwelchen Büchern, dachte nach. Bei der Lektüre stieß ich auf einen Absatz, der mich nicht nur nachdenklich machte, sondern regelrecht bannte. Wieder und wieder las ich jene Zeilen, grübelte über diese einleuchtenden Zeilen nach und fragte mich, warum ich nicht selbst auf so schlaue Gedanken gekommen war. Um sie mit jemand zu teilen, rutschte ich vom Bett, setzte mich zunächst auf die Kante, legte den rechten Zeigefinger an die entsprechende Stelle und schlug das Buch zu.
    Lange musste ich nicht überlegen, wen ich besuchen wollte: Epi, meine Schwester, und Prisca, meine ehemalige Nichte, mit der ich bisher vieles geteilt hatte, lagen nahe. Ich entschied mich am heutigen Tage für meine Schwester, weil sie im Vergleich zu Prisca in weitaus weniger eingeweiht war. Ein Umstand, den ich hätte längst abändern sollen, aber immer vor mir hergeschoben hatte. Dabei lag meine Zurückhaltung keineswegs an ihr, sondern allein an meinem Bedürfnis nach ungestörter Nachdenkzeit. Gleichzeitig befreiten Gespräche mit Freundinnen immer, ich wusste das, und heute war mir danach.


    Ich erhob mich, verließ mein Zimmer und steuerte voller Tatendrang auf Epis Cubiculum zu. Die Hoffnung, nicht in das Redaktionsgebäude der Acta gehen zu müssen, trug mich bis vor ihre Tür. Ich hielt das Ohr nahe an das Holz, bevor ich mit den Fingerknöcheln anklopfte, konnte aber nicht in Erfahrung bringen, ob mein Versuch vergeblich sein würde.

  • Epicharis hatte soeben den bereits gegebenen Auftrag wieder verworfen, ein schmiedeeisernes U, ein D, ein I und zwei As zu organisieren und stattdessen verlangt, man möge die Letttern C und L auch noch von der Tür reißen, als es klopfte. Nordwin, der die Tür von den unnötigen Buchstaben befreien sollte (immerhin waren hier ohnehin nur Claudier unterwegs und es gab auch nur eine einzige Epicharis), riss die Tür auf und starrte den Besucher an. Die Besucherin. Denn da stand niemand anderer als Deandra.


    Während Nordwin noch verdattert glotzte, sprang Epicharis auf und schubste ihn zur Seite, denn sie hatte gesehen, wer da stand und klopfenderweise um Einlass bat. "Deandra!" rief Epicharis. Nordwin machte Platz, ließ die Dame eintreten und trat dann selbst hinaus, nicht ohne die Tür hinter sich zu schließen. Kurz darauf war ein leises Schaben zu hören, mit dem die beiden Lettern C und L allmählich vom Holz gekratzt wurden. Epicharis umarmte ihre ältere Schwester fest. "Ach Liebes, ich habe mich schon gefragt, wann du dich endlich mal wieder blicken lässt", jammerte sie neckend und löste sich dann von Deandra. "Ich wusste gar nicht, dass du wieder in Rom bist! Wie geht es dir? Ich habe davon gehört, eine Sklavin konnte ihr Plappermäulchen nicht halten und da habe ich sie kurzerhand ausgequetscht. Komm, wir setzten uns. Erzähl mir doch erstmal, wie das genau war." Epicharis brach über Deandra herein wie ein plötzlicher Regenguss und schob sie mit sanfter Gewalt zu einem Sessel, drückte sie hinein und goss ihr und sich plappernd süßen Apfelmost ein. Anschließend setzte sie eine gespannte Miene auf und wartete auf die Geschichte.

  • Ich fuhr zurück, als die Tür plötzlich aufgerissen wurde, und fühlte mich ertappt wie als kleines Mädchen, als ich an der Tür lauschte, hinter der ich Mutter und Vater vermutete. Wissen konnte man das nie bei den nachfolgend merkwürdigen Geräuschen, aber von der Logik her musste es stets so gewesen sein, wenn ich sie doch mit eigenen Augen hineingehen sehen hatte. Ein böser Blick traf Nordwin, der mich fast zu Tode erschrocken hatte, bevor ich Epis Zimmer betrat. Zum Nachdenken kam ich allerdings nicht, weil ich in alt bekannter Art umarmt und liebevoll zugedichtet wurde. Erst nachdem sie mich aus ihren Armen entlassen hatte, konnte ich sie meinerseits begrüßen.


    „Tut mir leid, Epi. Ich hatte mich verkrochen, weil es so viel zu grübeln gab.“ Ich setzte eine schuldbewusste Miene auf, während ich mich ergeben zu einem Sessel schieben ließ. Und obwohl die Zeit recht knapp zum Umdrehen war, schaffte ich es noch rechtzeitig, bevor ich dem Druck von Epis Händen nachgab und mich auf die Sitzfläche fallen ließ. Dem Fragenerguss, der mich gänzlich unvorbereitet traf, folgte Apfelmost in einem Becher, den ich dankend annahm und zunächst einen Schluck trank. Nach dem Absetzen gewahrte ich ihren gespannten Blick, musste schmunzeln und zuckte gleichzeitig ratlos mit den Schultern.


    „Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Und was meinst du mit: ‚Ich habe davon gehört’? Wovon denn? Eigentlich wollte ich dir von einer großartigen Lebensweisheit berichten, die sich gerade in meiner jetzigen Situation wunderbar anwenden ließe. Na gut, sofern ich sie alleine anwenden kann.“


    Ich seufzte vernehmlich. „Ach, Epi. Es ist so viel passiert.“ Vermutlich würde ich mehr als eine Stunde Monolog benötigen, um auch nur annähernd die Vorfälle der letzten beiden Jahre anzureißen. Allein das letzte halbe Jahr bot Stoff für einen ganzen Nachmittag, wenn man ihn auswalzen würde.

  • Epicharis hatte es zwar noch nie leiden können, wenn Deandra sie scheinbar liebevoll "Epi" nannte (für sie selbst klang es eher in ihren Ohren, als ob Deandra sie nicht für voll nehmen würde oder sie wie ein kleines Kind behandelte - schließlich nannte sie Deandra ja auch nich Deda oder Derri oder gab ihr sonst einen beschränkt klingenden Namen), aber heute sah sie geflissentlich darüber hinweg. Es gab ja auch weitaus Interessanteres als solcherlei!


    Eine gespielt nachtragende Grimasse zog Epicharis. "Verkrochen. Das trifft es genau", gab sie zurück und nahm dann einen Schluck Apfelwein. Genau das Richtige in dieser Situation für Deandra, entschied sie. Fruchtig, süß und nicht die Zunge beschwerend. Scheinbar locker bettete Epicharis ihre Unterarme auf den halbhohen Lehnen des Sessels, in der rechten Hand das Glas haltend und den Blick auf Deandra gerichtet. "Am besten fängst du von vorn an. Mein letzter offizieller Kenntnisstand umfasst leider nur deine Mitteilung zwecks der überhasteten Flucht nach Ostia", sagte Epicharis und kontne nicht vermeiden, dass sich ein ganz leiser, vorwurfsvoller Tonfall einschlich. Da sie es noch rechtzeitig merkte, milderte sie die Worte rasch mit einem Lächeln ab. "Inoffiziell hörte ich Gerüchte darüber, dass du nicht mehr verlobt seist, was ich gar nicht glauben kann?" fuhr sie fort und beide Brauen hoben sich, um den fragenden Ausdruck auf ihrem Gesicht zu vollenden. "Was ist denn passiert, dass in diesem Hause Sklaven meinen, sowas verbreiten zu müssen? Da ist doch nichts Wahres dran - oder doch?" Wimpern klimperten. Und ehe Epicharis Deandra weiter ausfragte und nicht mehr zu Wort kommen ließ, steckte sie schnell ihre Nase in den Becher und trank einen Schluck. Diese Lebensweisheit interessierte Epicharis längst nicht so sehr wie die Gerüchteküche, wenn sie mit der Familie in Zusammenhang stand.


    "Tja, dann mal los, ich bin ganz Ohr", sagte sie, stellte den Becher weg und fasste die Hände locker auf dem Schoß zusammen. Jetzt war Deandra an der Reihe.

  • Nun ja, ich hatte erwartet, dass meine Schwester wenig begeistert über meine Zurückgezogenheit war, also nahm ich ihre Bemerkung gelassen - eine Entschuldigung sollte reichen. Die Angewohnheit, mich mehrfach zu entschuldigen, wollte ich endlich einmal abstreifen. Als sie das Stichwort ‚Ostia’ für den Beginn meines Berichtes gab, holte ich bereits Luft, um mit einer Schilderung des Auslösers und der nachträglichen Vorfälle zu beginnen, als sie etwas von Entlobung sprach. Augenblicklich weiteten sich meine Augen, die angestaute Luft verließ geräuschvoll meinen Mund und mein Kopf näherte sich ihr um Nuancen, während sich mein Blick fragend auf sie richtete.


    „Nicht mehr verlobt? Ähm …“ Mir verschlug es für Momente die Sprache. Natürlich stand diese Situation mal im ostianischen Raum, aber wenn dem tatsächlich so wäre, sollte doch wohl ich am ehesten davon wissen, dachte ich bei mir. Oder mein Vater. Ich fragte mich, ob er mir diese Nachricht eventuell noch nicht zukommen lassen hatte, verwarf diesen Gedanken aber wieder. Epi hatte gesagt, die Sklaven verbreiten diese Gerüchte. Flüchtig überlegte ich, ob es diejenigen gewesen sein konnten, die mit mir in Ostia waren, oder ob es sich um Sklaven handelte, die einem möglichen Treffen zwischen Corvi und meinem Vater beigewohnt hatten. Letzteres erschien mir aber auch wieder unlogisch, denn wenn selbst Epicharis nichts wusste, dann musste der Informationsherd außerhalb dieser Villa zu finden sein. Bliebe also doch Ostia als Quelle dieser Weißheiten übrig. Ich warf einen Blick auf den Ring mit den Pferdeköpfen, erinnerte mich, dass ich einmal ebenfalls erwogen hatte, die Verbindung zu lösen, stellte fest, dass es gut war, diesen Gedanken niemals ausgesprochen zu haben, und versuchte mir, Corvis Worte noch einmal ins Gedächtnis zu rufen, aber vergeblich. Etwas in mir schien sich erfolgreich gegen diese Erinnerung zu wehren. Weder der Wortlaut noch die damalige Deutung lagen mir in Erinnerung.


    „Ich, ähm…“ Meine rechte Hand spielte am Ohrring. „Ah, ich hasse Sklavengeschwätz!“, brauste ich plötzlich auf, erhob mich und trat an das Fenster. Bestimmt würde Epi nachbohren, aber ich hatte etwas Zeit gewonnen.

  • Das Kratzen an der Tür hörte bald auf, und Schritte entfernten sich. Scheinbar prangten die überflüssigen Buchstaben nicht mehr am Holz. Sehr gut!


    Nicht gut allerdings war der Ausdruck, mit dem Deandra ihre kleine Schwester musterte: Absolute Verblüffung. Epicharis hatte es doch gewusst, dass an diesen Entlobungsgeschichten etwas faul war. Es hätte sie auch sehr gewundert, wenn der Aurelier die Claudier wirklich derart vor den Kopf gestoßen hatte oder es noch beabsichtigte. Ein zufriedener Gesichtsausdruck zeigte sich nun also auf Epicharis' Antlitz. In einer vertrauten Geste beugte sie sich vor und legte eine Hand auf Deandras Arm. Schon wollte sie ein paar beruhigende Worte fallen lassen, als der plötzliche Umschwung von Deandras Laune Epicharis hellhörig werden ließ. Würde sie denn so reagieren, wenn nicht wenigstens ein Fünkchen Wahrheit in diesem Geschwätz steckte? Wohl kaum. Epicharis' Stirn runzelte sich, als sie Deandra mit Blicken folgte und schließlich auf ihrem Rücken hängen blieb. Sie blieb jedoch sitzen und strahlte stoische Gelassenheit aus. "Ich auch. Aber irgendwo müssen diese Geschichten doch ihren Ursprung haben. Du bist nicht gerade jemand, über den die Sklavenschaft Lügen verbreiten würde. Warum auch? Viel mehr hätten sie bei Ofella oder Callista einen Grund dazu", sagte sie und schmunzelte, wenn auch nur kurz. "Magst du dich nicht wieder hersetzen und mir erzählen, was passiert ist? Hm? Ich meine...wenn es auch nur im Ansatz stimmen sollte, dann kann ich mir schon vorstellen, was Vater davon halten wird. Ich glaube kaum, dass die Aurelia dann noch sehr eng mit unserer Familie befreundet sein wird, meinst du nicht?"

  • Ich überlegte nicht, was ich meiner Schwester auf die Nachfrage, die mit unumstößlicher Gewissheit kommen würde, antworten sollte, sondern grübelte selbst über die erfolgte Formulierung nach. Entweder befand ich mich zum Augenblick der Äußerung in einem schockartigen Zustand, sodass alles an mir vorbei flog, oder ich hatte es ihm nachhinein verdrängt, um das Entsetzen in Grenzen zu halten. Und entsetzt war ich über sein Auftreten, seine Denkweise, seine Ungerechtigkeit, seine Gefühllosigkeit gewesen, ohne Frage. Doch der Schmerz lag in der Vergangenheit, ich hatte mein Herz verschlossen und wehrte mich dagegen, dass jemand oder etwas daran rührte.


    Ich spürte ihre Hand auf meinem Arm, hörte ihre Worte, hätte gerne an sie geglaubt, aber als ich mich umdrehte lag dennoch eine starre Maske auf meinem Gesicht. Das einfühlende Verhalten meiner Schwester empfand ich jedoch als wohltuend, ebenso ihre Worte, sie brachen meine Abwehr auf, daher gab ich nach und setzte mich. Mit einem wunden Ausdruck in den Augen blickte ich sie an.


    „Er hat sowas angedeutet, ja“, wisperte ich. Noch immer ruhten meine leicht vergrößerten Augen auf ihrem Gesicht, als könne ich von dort irgendeine Erklärung bekommen. „Ich kann mich allerdings nur noch schemenhaft an seinen Besuch in Ostia erinnern. Es kommt mir alles so unwirklich vor. Hat er denn inzwischen einmal mit Vater gesprochen?“


    Immerhin wäre dies ein notwendiger Schritt, falls er sein Vorhaben tatsächlich umsetzen wollte, woran ich allerdings mit der Kraft meines Herzens zweifeln wollte, es aber nur zeitweise vermochte. Im Augenblick gelang es mir schlecht. Ich seufzte. Epis letzte Worte waren im Grunde kein Trostpflaster, aber sie wirkten dennoch so. Nicht dass ich ihm etwas Schlechtes wünschte, aber wenn mich meine Familie nun schützend umfangen würde, wenn sie auf meiner Seite stehen würden, wäre das eine wertvolle Hilfe für den Fall der Fälle.


    „Epi, ich verstehe nicht warum, er hat mir wehgetan. Ich habe nichts Schlechtes gesagt oder getan. Meine Abreise nach Ostia kann doch nun wirklich kein ausreichender Grund für eine Entlobung sein. Oder?“

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