Was soll das Schauspiel bewirken?
Die Aufgabe des Schauspiels ist es, wie Aristoteles sagte, eine Reinigung der Seelen der Zuschauer (und auch und vielleicht in noch viel größerem Maß der Schauspieler) durch Mitleiden oder anderes Mitfühlen zu erreichen. Dabei muss der erste Handelnde der Tragödie so gestaltet sein, dass jeder Zuschauer sich selbst in ihn hineinversetzen kann, so als stecke ihn ihm die Seele eines jeden Zuschauers. Es ist für jeden freien Menschen nötig, seine Seele genauso gründlich zu reinigen wie seinen Körper, denn nur mit reiner Seele kann ein Bürger über das Wohl der Polis entscheiden, nur mit reiner Seele ist ein Mann seiner Familie ein gerechter und guter Herr.
So ist jedes Schauspiel auch zugleich wieder, wie ursprünglich, ein Mysterium. Ein Mann geht aus dem Theater und hat den Schmutz der Seele mithilfe von Schaudern, Zittern, Zähneklappern, Heulen und Lachen hinter sich gelassen. Ob die Reinigung durch Heulen oder durch Lachen geschieht, ist gleichgültig. Lachen und Heulen sind die Grundfähigkeiten eines jeden Menschens und eines jeden Gottes. Nur ein Mensch oder ein Gott kann lachen oder heulen, ein Tier ist dazu nicht in der Lage.
Doch wie erreicht man Geheul und Gelächer?
Kurzer Abriss über die Lehre von der Dichtkunst des Aristoteles, insbesondere bezogen auf die Tragödie
Nach Aristoteles ist der Kern einer ganzen Reihe von Künsten die Nachahmung der Wirklichkeit, jedoch nicht als bloße Nachahmung des Ganzen, sondern als Darstellung des Wahrscheinlichen und Möglichen innerhalb dieser Wirklichkeit. Der Dichter nimmt, gleich einem Bildhauer, von unserer Wirklichkeit soviel fort, bis nur noch etwas übrig bleibt, was sich als Prüfstein für das Verhalten von Menschen eignet. Dies nimmt er als Grundstein für eine Wirklichkeit innerhalb des Kunstwerkes.
Zu den Künsten, die Aristoteles als "nachahmend" bezeichnet, gehören auch der Tanz und das Schauspiel, im weiteren Sinne auch die Malerei und die Bildhauerrei. Jedoch fehlt Malerei und Bildhauereidas Element der fortlaufenden Handlung, der zeitmäßigkeit, sie nehmen als Wirklichkeit das Sichtbare eines Augenblicks, jedoch auch hierbei, wie in der Dichtkunst, nur einen Teil, der die Eigenschaft hat, dass er sich erhöhen lässt durch die Hände des Künstlers.
Erwähnter Prüfstein als wichtigste Aufgabe der Handlung bezieht sich nicht auf die Figuren einer drama, sondern soll allgemeingültig auf die Menschheit als Ganzes angewandt werden. Dadurch, dass der Dichter nur einen kleinen Teil der Wirklichkeit aufgreift, wird das allgemeine Prinzip dahinter deutlich, schmerzhaft deutlich oder lustvoll deutlich für die, die das Werk betrachten, sei es als Zuhörer des Rhapsoden, sei es als Zuschauer einer Tragödie oder Komödie.
Dabei zwingt in der Tragödie der Prüfstein der Handlung den Protagonisten, der gut und edel sein muss, edler als ein Mensch in der unkünstlerischen Wirklichkeit, etwas zu tun, was falsch ist, und lässt ihn daran zugrunde gehen. Dadurch, dass der Protagonist wenig Fehler hat, ist jener entscheidene, tragische besonders deutlich zu erkennen. In der Komödie hingegen verhält es sich genau umgekehrt. Hier ist der Protagonist so nieder wie echte Menschen oder gar mit noch mehr Fehlern besetzt. Allerdings darf er nicht insgesamt schlecht sein, da er sich ansonsten des Mitgefühls der echten Menschen entzieht, genauso verhält es sich bei der Tragödie. Die Tragödie ist laut Aristoteles die "Darstellung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von einer bestimmten Größe (Anmerkung des Autoren: d.h. sie muss überschaubar sein) in anziehend geformter Sprache." Letzteres ist wieder ein Hinweis auf die künstlerische Gestaltung, die letztendlich ein Kunstwerk ausmacht. Der Dichter sollte seine Personen nicht sprechen lassen, wie Personen sprechen, sondern ihnen eine dichterische Sprache geben. In der Tragödie soll nach Aristoteles die Handlung nicht erzählt werden, sondern dargestellt, nicht nur mithilfe des Wortes, sondern auch durch Bewegung und Klang. Zum Zweck hat die Tragödie die Reinigung der Zuschauer von üblen Gefühlen und Leidenschaften, die gefährlich sind, dadurch, dass er sie während des dramas in gesteigerter Weise anhand des Mitgefühls mit dem Protagonisten auslebt und somit danach gewissermaßen geleert ist von ihnen.
Wie dies nicht nur in der Dichtung, sondern auch im Schauspiel bewirkt werden kann
Nun liegt es aber nicht nur am Dichter, sondern auch an den Schauspielern, die Zuschauer in den Zauberbann des Mysteriums zu ziehen. Zuerst einmal ist es nötig, dass jedem Schauspiel ein Mann vorsteht, der genau weiß, wie das Schauspiel am Ende durchgeführt werden soll. Meist ist dieser Mann der Dichter des Schauspiels selbst. Er soll, wie ein Mystagoge beim Mysterium, darauf achten, dass die Schauspieler, die zugleich Hierophanten sind, die Zuschauer also die Neulinge vortrefflich in das Mysterium einweihen, allerdings nur bis zu einer bestimmten Ebene. Kein Zuschauer soll wissen, wie das Schauspiel entstanden ist, welche Mühen die Handelnden hatten, welche frevelhaften Zwistigkeiten während der Proben stattfanden. Dies würde die Gemüter der Zuschauer vom eigentlichen Zweck des Schauspiels abbringen. Ich spreche von Zuschauern als Neulingen, denn anders als bei den Rahmen-Mysterien unterscheidet sich jedes Schauspiel vom anderen, allerdings nur soweit, wie es die allgemeinen Regeln erlauben. Somit ist jeder Zuschauer einerseits eingeweiht, wenn er schon einmal im Theater war, andererseits voller Erwartung auf das, was ihm noch unbekannt ist.
Der Leiter des Schauspiels sollte die Figuren so mit Schauspielern besetzen, dass sowohl die Körper als auch die Seelen von Darstellern und Figuren eine gewisse Übereinstimmung haben. Ich spreche von einer gewissen Übereinstimmung, denn eine vollständige Übereinstimmung ist unmöglich.
So besetze der Leiter die Rollen mit Menschen, die ihnen am ähnlichsten sind. Der Greis wird von einem Mann gespielt, der zwar nicht so alt ist, dass ihm das Spielen unmöglich wäre, jedoch alt genug, um glaubhaft zu sein. Den Jüngling spielt der Jüngling, den Mann mittleren Alters ein Mann mittleren Alters. Für zarte Weiber nehme man zarte Jünglinge voller Blut, für kräftige Bauernweiber und feiste Matronen Jünglinge mit einem Überhang an Schleim in der Peripherie. Dabei ist es wichtig, sicher zu gehen, dass der Jüngling jung genug ist und seine Stimme nicht während der Proben oder gar während der Aufführunstage brüchig wird und zu der eines Mannes wird. Sehr männliche Weiber können auch durch Männer gespielt werden.
Was für die Figur an der Person des Schauspielers mangelt, wird durch Masken ersetzt. Außerdem haben die kräftigen Gesichtszüge der Maske, den Sinn, auch aus der Ferne das Gesicht erkennbar zu machen. Durch die Maske wird die Stimme des Schauspielers so verstärkt, dass es auch in den hinteren Reihen möglich ist, seine Worte deutlich zu hören. Trotzdessen sollte ein Schauspieler, wenn er auf der Bühne spricht sehr laut sprechen, wenn er gar schreit sollte er so schreien, dass es ihm selbst unerträglich laut vorkommt.