Helena starrte in der Dunkelheit an die Decke ihres Zimmers und lauschte ihren eigenen Atemzügen. Mitternacht war schon lange vorbei und in der Villa war es still. Helena wandte langsam den Kopf und sah zur Tür. Die vergangenen Stunden waren seltsam gewesen. So viel ging ihr durch den Kopf, dass es unmöglich war einen klaren Gedanken zu fassen. Aber ihre Entscheidung stand fest. Es gab keinen Ausweg! Die gute Marina hatte gespürt, dass mit ihrer jungen Herrin etwas nicht in Ordnung war, aber Helena hatte Fragen in diese Richtung abgewehrt. Sie hatte Kopfschmerzen vorgeschoben und ihre Leibsklavin dann so schnell wie möglich aus dem Zimmer gejagt. Und nun lag sie schon seit Stunden wach und wartete auf den richtigen Zeitpunkt. Es war eine sternenklare Nacht. Der Mond, fast voll, tauchte das Zimmer in ein silbriges Licht. Helena schloß kurz die Augen und richtete sich dann auf. Ihre nackten Füße verursachten kein Geräusch als sie zu der Truhe hinüber ging und sie vorsichtig öffnete. Sie schob die Kleider zur Seite, bis sie auf dem Grund der Truhe angekommen war und ertastete das kleine Bündel, das sie am Vortag dort versteckt hatte. Helena nahm es an sich, ohne den Inhalt noch einmal zu überprüfen. Sie wusste genau was sich dort drin befand: ein Dolch, ein Krug Wein und eine kleine Pergamentrolle. An den Dolch zu kommen war einfacher gewesen als sie vermutet hatte. Dieses Mal war es vorteilhaft gewesen, dass Marcus so selten zu Hause war. In einem unbeobachteten Moment hatte Helena sich in sein Arbeiteszimmer geschlichen und dort den Dolch von dem kleinen Gestell entwendet, dass in einem der Regale stand. Er war nur als Zierde gedacht, aber Helena hatte sich vergewissert, dass er scharf war. Scharf genug für das, was sie vorhatte.
Das dünne, weiße Nachtgewand schützte Helena kaum vor der Kühle der Nacht. Eine leichte Gänsehaut bildete sich auf ihren Armen, doch sie achtete nicht darauf. Stattdessen trat sie vor ihren Spiegel und musterte das Bild, das sie dort sah. Eine junge Frau, durchaus schön zu nennen, wäre da nicht die Leere in ihren Augen. Die Haare fielen ihr sanft über die Schultern, frisch gewaschen, das war ihr irgendwie wichtig gewesen. Marina hatte ihren Körper eingeölt und nun stieg ihr der leichte Duft von Rosen in die Nase. Helena schloß kurz die Augen und wandte sich dann aprubt ab. Sie fasste das Bündel fester und verließ ihr Zimmer. Selten war es so ruhig gewesen. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte es ihr vielleicht einen Angstschauer den Rücken hinunter gejagt, doch jetzt erschienen ihr die weiten Gänge und Hallen der Villa nur leblos und trist. So wie ihr Leben. Auf dem Weg durch die Gänge war nur das leise Tapsen ihrer nackten Füße zu hören. Schnell hatte sie die Tür erreicht, die sie in den Garten führen würde. Leise öffnete Helena die Tür und huschte hindurch. Im Gegensatz zur Villa herrschte hier Leben. Grillen zirpten, in der Nähe miaute eine Katze und vom Teich her war das Quaken der Frösche zu hören. Genau dorthin führten nun Helenas Schritte. Sie hatte sich die Stelle genau ausgesucht, als sie am Tag zuvor im Garten spazieren gegangen war. Der Teich war von der Villa aus nur schwer einzusehen, so dass sie vor einem flüchtigen Blick aus dem Fenster geschützt war. Am Teich angekommen bleib Helena einen Moment stehen. Es war ein schöner Anblick, der seltsamerweise irgendetwas in ihrem Herzen berührte. Die Sterne und der Mond spiegelten sich in dem ruhigen Wasser, nur unterbrochen von den Seerosen, deren Blüten nun aber geschloßen waren.
Nachdem ihr Blick einen Moment auf diesem Bild geruht hatte setzte sie sich in der Nähe unter einen Baum und lehnte sich an den Stamm. Ihr Atem ging ruhig und zum ersten Mal seit Tagen fühlte sie sich wirklich entspannt. Es stahl sich sogar ein leichtes Lächeln auf ihre Lippen. Nur noch wenige Minuten und ihre Verzweiflung würde für immer verschwunden sein. Eine Erlösung! Das Bündel lag neben ihr auf dem Boden, doch noch rührte sie es nicht an. Stattdessen schloß sie die Augen. Das Gras auf dem sie saß war feucht und durchnässte ihr Kleid. Ein leichter Lufthauch strich über ihre Haut wie eine zärtliche Liebkosung. Nun ließ sie auch die Erinnerung an das Gespräch zu, dass sie hierher gebracht hatte. Ich bin nicht der, den du dir wünscht! Der Schmerz, der sich so tief in sie gebohrt hatte, fand nun seinen Weg an die Oberfläche. Ein verzweifeltes Schluchzen drang über Helenas Lippen und stille Tränen rannen über ihre Wange. Ich möchte die Helena haben, die du, hm, vorher warst. Ihre Hand wanderte zum Bündel und griff nach dem Weinkrug. Es war ein guter Wein, immerhin war es auch ein besonderer Anlass. Sie hatte schon von vielen Seiten gehört, dass Alkohl Schmerzen betäuben würde. Ausprobiert hatte sie es noch nie, aber es würde schon funktionieren. Helena entfernte den Verschluß und nahm einen tiefen Schluck. Wahrscheinlich war es nur pure Einbildung, aber es ging ihr gleich besser. Sie setzte den Krug erneut an ihre Lippen und nahm mehrere Schlücke hintereinander. Doch sie musste aufpassen, denn wenn der Wein zu schnell seine Wirkung tat, würde sie das, was sie vor hatte nicht mehr tun können. Den Krug auf ihren Beinen balacierend nahm sie die Pergamentrolle aus dem Bündel. Eine Weile hielt sie sie regungslos in der Hand, den Blick in die Ferne gerichtet. Sie kannte jede Zeile auswendig.
Marcus,
ein Leben ohne Liebe ist grausam. Aber ein Leben überschattet von einer unerfüllten Liebe ist mehr als ich ertragen kann. Du kannst mich nicht lieben, du willst es nicht und ich kann nichts dagegen tun. Ich wünsche dir, dass du irgendwann die Frau findest, die so für dich empfindet wie ich es tue und das ihr zusammen glücklich werdet. Bitte vergiss mich nicht! Trotz allem.
Helena
Es waren nur wenige Zeilen, obwohl sie ihm so viel hätte sagen können. Aber was nutzen viele Worte? In dem Brief stand alles was er wissen musste. Helenas Blick klärte sich und sie legte die Pergamentrolle neben sich ins Gras. Der Dolch war das Letzte das sie nun aus dem Bündel holte. Man sah ihm an, dass er nicht dafür gedacht war menschliches Blut zu schmecken. Die Rubine am Griff funkelten im Licht der Sterne fast schwarz. Helenas Finger fuhren fast zärtlich über die Klinge. Auf eine Art und Weise, die sie sich nicht erklären konnte, musste es einfach Marcus' Dolch sein. Sie ließ den Dolch sinken und nahm wieder den Weinkrug zur Hand. Sie konnte sich Zeit lassen, denn bis zum Sonnenaufgang waren es noch ein paar Stunden. Der Krug war bis zur Hälfte geleert, als sie die ersten Auswirkungen spürte. Ein leichter Schwindel hatte von ihr Besitzt ergriffen. Nun war es also soweit! Seltsam ruhig stellte Helena den Weinkrug ab und sah auf den Dolch hinunter. Ihre Hand zitterte nicht als sie danach griff. Fest umschloßen ihre Finger den Griff, der die Kälte der Nacht angenommen hatte. Sie hob ihren linken Arm, holte einmal tief Luft und ließ die Klinge über ihr Handgelenkt gleiten. Als der Stahl ihr Fleisch durchschnitt zuckte ein heißer Schmerz durch ihren Körper. Helena stöhnte auf und krümmte sich kurz zusammen, die Augen fest geschloßen. Doch sie begrüßte den Schmerz und schon kurze Zeit später richtete sie sich wieder auf. Fasziniert beobachtete sie, wie sich das Blut auf ihrem weißen Kleid ausbreitete. Wie eine erblühende Rose. Ihr eigenes Blut fühlte sich warm an auf ihrer kühlen Haut.
Einige Augenblicke blieb Helena regungslos sitzen, bis der Schwindel sich verstärkte. Es wurde Zeit. Langsam stand sie auf, aber erst nachdem sie den Dolch, nun befleckt durch ihr Blut, auf die Pergamentrolle gelegt hatte.Sie schwankte ein wenig als sie den kurzen Weg zum Teich hinüber ging. Das Wasser hatte die gespeicherte Wärme des Tages schon abgegeben und war nun empfindlich kalt. Doch das störte sie nicht weiter. Helena ging weiter, bis das Wasser fast ihre Schultern berührte. Dann ließ sie sich langsam nach hinten fallen. Das Wasser umfing sie und gab ihr das Gefühl zu schweben. Ihr Blick war auf den Mond gerichtet, der sich fast direkt über ihr befand. Plötzlich fiel ihr ein Lied ein, dass ihre Mutter früher des Öfteren für sie gesungen hatte. Bald würde sie sie wiedersehen. Helena lächelte schwach und hob ihren unverletzten Arm, als wollte sie den Mond berühren.
"Es waren zwei Königskinder,
Die hatten einander so lieb,
Sie konnten zusammen nicht kommen,
Das Wasser war viel zu tief.
"Herzliebster, kannst du nicht schwimmen?
Herzlieb, schwimm herüber zu mir!
Zwei Kerzen will ich hier anzünden,
Und die sollen leuchten dir."
Das hört eine falsche Norne,
Die tat, als ob sie schlief.
Sie tat die Lichter auslöschen,
Der Jüngling ertrank so tief
Es war an ei'm Sonntagmorgen
Die Leut' waren alle so froh
Bis auf die Königstochter,
Sie weinte die Äuglein rot.
"Ach Mutter, herzliebste Mutter,
Der Kopf tut mir so weh;
Ich möcht so gern spazieren
Wohl an die grüne See."
Die Mutter ging nach der Kirche,
Die Tochter hielt ihren Gang.
Sie ging so lang spazieren,
Bis sie den Fischer fand.
"Ach Fischer, liebster Fischer,
Willst du verdienen großen Lohn?
So wirf dein Netzt ins Wasser,
Und fisch mir den Königssohn!"
Der Fischer wohl fischte lange,
Bis er den Toten fand.
Nun sieh' da, du liebliche Jungfrau,
Hast hier deinen Königssohn.
Sie schloß ihn in ihre Arme
Und küßt' seinen bleichen Mund:
"Ach, Mündlein, könntest du sprechen,
So wär mein jung Herz gesund."
Sie schwang um sich ihren Mantel
Und sprang wohl in den See:
"Gut' Nacht, mein Vater und Mutter,
Ihr seht mich nimmermeh'!"
Da hörte man Glockengeläute,
Da hörte man Jammer und Not,
Da lagen zwei Königskinder,
Die waren beide tot."
Helenas Stimme wurde immer leiser, bis sie vollkommen erstarb. Die Hand, die gerade noch nach dem Mond gegriffen hatte, zitterte und sank dann hinunter. Während sich das Wasser um sie herum rosa färbte wurde es um Helena herum schwarz.
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