• Ticinius hatte sich entschlossen, einen kleinen Spaziergang zu unternehmen. Durch das Laufen hoffte er Klarheit in seine Gedanken zu bekommen und zu einer Entscheidung zu gelangen.


    Er hatte nun schon fast den gesamten Tag über seine Zukunft nachgedacht, denn er war sich sehr unsicher, was er nun machen sollte. Da er der Sohn eines Senators war, wäre als erste Stufe seiner Laufbahn das Vigintivirat angemessen, doch er traute sich noch nicht zu, ein so verantwortungsvolles Amt zu übernehmen. Außerdem war das Jahr noch nicht sehr weit fortgeschritten und die neue Amtsperiode noch weit entfernt. Doch was sollte er in der Zwischenzeit machen? Er war voller Tatendrang, doch wusste nicht so recht, was er nun machen sollte. Vielleicht einen Senator finden, der bereit wäre, ihn als scriba personalis zu beschäftigen? Eine Studienreise unternehmen, um die Welt kennenzulernen? Vielleicht nach Aegyptus, um dort das Museion zu besuchen? Oder doch in Rom bleiben und sich hier weiterbilden? Je mehr Möglichkeiten ihm einfielen, desto mehr Entscheidungen musste er treffen.


    Leise seufzte er und blieb stehen. Wo war er hier gelandet? Nach kurzem Umherblicken hatte er sich soweit orientiert, um zu erkennen, dass er in der Nähe eines Tempels stand. Doch welcher war es? Da er andernfalls wahrscheinlich eine Zeit lang umher irren würde, um eine ihm bekannte Stelle der Stadt zu entdecken, entschied er sich, einfach einen vorübergehenden Passanten zu fragen:


    "Verzeihung, welchem Gott ist dieser Tempel hier geweiht?"

    statim sapiunt, statim sciunt omnia, neminem verentur, imitantur neminem atque ipsi sibi exempla sunt

  • Ursus befand sich wieder einmal auf dem Weg zum Vestatempel, heute ohne den ewig mißmutigen scriba Phyrrus. Da das Wetter endlich mal wieder ausnehmend schön war, kühl zwar, aber sonnig, hatte er sich zu einem Umweg entschlossen und ließ sich auch Zeit auf dem Weg. Er kam mit der Arbeit gut voran und brauchte von daher kein schlechtes Gewissen zu haben, weil er ein wenig Zeit zu seinem Vergnügen vertrödelte.


    Gemütlich schlenderte er durch die Straßen, sprach hier und da mit den Leuten, denn er wollte ja durchaus auch bekannt werden in der Stadt, stand er doch erst ganz am Anfang seiner Karriere. Ganz abgesehen davon, daß es Spaß machte und er auf diese Weise allerlei Neuigkeiten erfuhr.


    So gab er auch ganz bereitwillig und freundlich Auskunft, als ein junger Mann, etwa in seinem Alter, ihn nach dem Tempel fragte. "Dies ist der Tempel der Minerva. Suchst Du einen bestimmten Tempel? Ich erkläre Dir gerne den Weg."

  • Ticinius schaute sich den Mann, den er angesprochen hatte, kurz näher an und hörte seine Antwort an. Der Tempel der Minerva? Der war doch bei den Horti Maecantis... Ticinius guckte kurz verwirrt, riss sich dann aber wieder zusammen und antwortete ihm:


    "Vielen Dank für die Auskunft. Ich suche keinen Tempel, ich habe mich verirrt und wusste nicht mehr, wie ich zurück komme. Ich bin nämlich erst seit kurzem in Rom und kenne mich noch nicht in der ganzen Stadt aus. Mein Name ist übrigens Marcus Matinius Ticinius."


    Kurz lächelt er, dann fällt ihm auf, dass der Mann bestimmt besseres zu tun hat, als seine halbe Lebensgeschichte anzuhören. Deshalb hört er fürs Erste auf zu sprechen und wartet, ob dieser überhaupt Interesse hat, das Gespräch fortzusetzen.

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  • "Titus Aurelius Ursus", stellte sich Ursus vor und lächelte. "Erfreut, Dich kennenzulernen, Matinius Ticinius." Dem verwirrten Gesichtsausdruck seines Gegenübers nach zu urteilen, war er wohl ganz und gar nicht dort, wo er sein wollte. Rom war in der Tat groß und unübersichtlich für denjenigen, der erst seit kurzem hier weilte.


    "Das heimtückischste an dieser wunderbarsten Stadt der Welt ist, daß sie sich ständig und andauernd verändert", lachte Ursus und meinte es ganz und gar nicht böse. "Sag mir einfach, wo Du hin möchtest und ich erkläre Dir, wie Du dort hin gelangst. Und sollten wir in etwa den gleichen Weg haben, führe ich Dich auch gerne. Ich bin auf dem Weg zum Vesta-Tempel, habe es aber nicht eilig. Bei diesem schönen Wetter wäre es wahrhaft eine Schande, sich zu hetzen oder gar nur in der Stube zu hocken. Du bist erst seit kurzem in Rom? Darf ich fragen, woher Du stammst?" Er fragte einfach frech und hoffte, daß der andere genauso Lust zu einer Plauderei hatte wie er. Was er natürlich nicht wissen konnte.

  • Erfreut nahm Ticinius zur Kenntnis, dass er einen Gesprächspartner gefunden hatte:


    "Auch ich bin erfreut, dich kennenzulernen. Es wäre nett, wenn du mich zum Forum Romanum führen könntest. Der Vesta-Tempel ist ja dort in der Nähe, oder irre ich mich?" Als die Frage auf seine Herkunft kommt, denkt er kurz an Tarraco zurück, seine Heimatstadt. "Ich stamme aus Hispania, genauer gesagt aus der näheren Umgebung von Tarraco. Mein Vater war eine Zeit lang Proconsul und wohnte dort. Tarraco ist zwar eine große Stadt, aber nicht mit Rom vergleichbar. Darf ich annehmen, dass du hier in Rom aufgewachsen bist oder zumindest schon eine Zeit lang hier lebst, so gut, wie du dich auskennst?", fragte er. Die Aurelier waren immerhin eine bedeutende patrizische Familie, die schon einige Senatoren gestellt hatte. Da würde es Ticinius nicht wundern, wenn Ursus in Rom aufgewachsen ist.

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  • Ah, das war natürlich noch besser. Ein Wegbegleiter, mit dem man weiterplaudern konnte. "Ja, da hast Du recht, der Vestatempel befindet sich in der Nähe des forum romanum. Da haben wir also den gleichen Weg, das freut mich. - Gehen wir hier entlang." Er deutete auf die Einmündung einer offenbar belebten Straße und ging gemächlich darauf zu. "Ich hoffe, Du hast es nicht eilig, denn ich wollte das schöne Wetter noch ein wenig genießen, bevor die Pflicht wieder ruft." Der Vater ein ehemaliger proconsul. Ursus versuchte, sich an einen Consul namens Matinius zu erinnern. Die gens war ihm natürlich durchaus ein Begriff, doch er konnte jetzt auf die Schnelle keinen consul aus der Familie benennen, geschweige denn sagen, wann er consul gewesen war. Peinlich genug. Zuhause würde er gleich nachforschen, solche Wissenslücken durfte man gar nicht erst einreißen lassen.


    "Du hast recht, ich bin in Rom geboren und aufgewachsen. Und ich erforschte es gründlicher, als es meinem Vater lieb war." Ursus lachte verschmitzt. Es hatte einige male Ärger gegeben, als er sich in Gegenden herumgetrieben hatte, in denen ein junger Patrizier tatsächlich alles andere als sicher war. Doch als Kind hatte er sich über derlei Gefahren eben wenig Gedanken gemacht - sorglos wie alle Kinder nun einmal waren. "Aber ich habe einige Jahre in Griechenland verbracht und dort studiert. - Mehr von der Welt kenne ich leider noch nicht. Hispania soll ja sehr schön sein, habe ich gehört. Und bringt recht anständige Weine hervor. - Bist Du nur zu Besuch in Rom oder hast Du Deinen Wohnsitz dauerhaft hierher verlegt?"

  • "Ganz im Gegenteil, ich habe im Moment viel Zeit", antwortete Ticinius und hörte Ursus aufmerksam zu. Als dieser erzählte, dass er Rom gründlich erforschte, musste er lächeln. Auch in seiner Kindheit und Jugend hatte er oft Ärger bekommen, da seine Streifzüge in der Nähe des Hofes nicht immer ungefährlich waren. Obwohl es dort nur noch wenige wilde Tiere gab - diese waren wahrscheinlich in irgendeiner Arena gestorben - war doch die Natur war nicht ungefährlich. Beispielsweise sein Versuch, eine Brücke über einen kleinen Fluss zu bauen, hatte damit geendet, dass diese unter seinen Füßen zusammenbrach und er in den Fluss stürzte. Doch da er schwimmen konnte, ist dies noch einmal gut gegangen.


    Er registrierte, dass Ursus ihm eine Frage gestellt hatte, deshalb hörte er auf, in Erinnerungen zu schwelgen und antwortete: "Ehrlich gesagt, weiß ich noch nicht, ob ich dauerhaft in Rom bleibe. Ich habe vor, in nächster Zeit das Vigintivirat zu absolvieren, traue mir dies aber noch nicht zu. Vielleicht bitte ich einen Senator, mich als scriba personalis zu beschäftigen, vielleicht gehe ich nach Alexandria, um dort zu studieren. Ich bin mir noch nicht sicher, was ich machen werde."

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  • An dem leicht entrückten Gesichtsausdruck des Matiniers konnte Ursus sehen, daß dieser wohl mit den Gedanken weit weg war. Doch es mußten wohl sehr angenehme Gedanken sein. Ursus störte sich nicht daran, sie besprachen ja schließlich keine Staatsgeheimnisse oder Geschäfte.


    "Wenn ich als momentan amtierender Vigintivir Dir da einen Rat geben darf: Einem Senator als scriba zu dienen, dürfte Dich am ehesten darauf vorbereiten, ganz abgesehen davon, daß Du dann sicher auch Gelegenheit hast, den einen oder anderen Senator kennenzulernen, was nie verkehrt ist. Ein Studium ist gut, aber für sich allein zu theoretisch. Schon mal einen Überblick zu haben, wo Du welches Verzeichnis und welche Liste findest, und welche Informationen Du in welchem Verzeichnis oder Liste zu suchen hast, ist ausgesprochen hilfreich. Auch die einen oder anderen Gesetzeskenntnisse sind unerläßlich, aber da kommt es natürlich sehr darauf an, welches der Ämter Du anstreben möchtest. Den cursus res vulgares hast Du sicher schon absolviert? Der ist unerlässlich, eine Voraussetzung für das aktive und passive Wahlrecht, und soweit ich informiert bin, wird gerade wieder einer an der Schola Atheniensis angeboten." Sie kamen an einem kleinen Stand vorbei, an dem ein Obsthändler seine frisch und saftig aussehende Ware feilbot. "Mir ist nach einem Apfel. Möchtest Du auch einen?"

  • Als das Gespräch auf seine Zukunft kam, hörte Ticinius aufmerksam zu, um nichts zu verpassen. Das Ursus Vigintivir ist, wusste er noch nicht, und da dies kein Amt mit imperium ist, konnte er dies auch nicht erkennen. Ticinius nahm sich vor, demnächst die Namen der amtierenden Magistrate auswendig zu lernen. Er hatte gehört, einige Senatoren und sonstige wichtige Personen besäßen einen nomenclator, einen Sklaven, der für sie die Namen auswendig lernt und ihnen diese mitteilt. So einen Sklaven besitzt er nicht. Genau genommen besitzt er überhaupt keinen Sklaven, obwohl natürlich in der Casa der Matinier viele arbeiten.


    "Ich danke dir für deinen Rat", sagte er, "und werde ihn beherzigen. Dann werde ich gucken, wer überhaupt an einem scriba personalis Interesse hat und mich dann dort vorstellen. Auch Gesetzestexte werde ich mir ansehen." Daran hatte er bisher noch gar nicht gedacht. Ticinius wusste nicht einmal, welches Amt er anstreben soll, doch dies wird er schon noch herausfinden. "Den cursus res vulgares habe ich noch nicht absolviert, doch werde dies so schnell wie möglich nachholen." Als beide an dem Stand stehen blieben, antwortete er: "Ich würde gerne einen Apfel nehmen. Wie viel kostet denn einer?" Er griff in seine Tunica, um einen Geldbeutel herauszuholen.

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  • "Dich kostet er gar nichts", lachte Ursus und kaufte zwei Äpfel, von denen er einen an Ticinius weiterreichte. "Ja, mach den cursus so schnell wie möglich. Was man hat, hat man." Er biß herzhaft in den Apfel. Ah, der war wirklich genau so gut, wie er aussah. Als er ausgekaut hatte, blickte er wieder zu seinem Begleiter. "Welches der Vigintivir-Ämter interessiert Dich besonders?" Manchmal hatte man ja das Glück, das Amt zu bekommen, welches man angestrebt hatte. Er selbst hatte dieses Glück gehabt.


    Wieder biß er vom Apfel ab und musterte Ticinius aufmerksam. Es war eigenartig. In letzter Zeit entpuppten sich die meisten seiner Zufallsbekanntschaften als Anwärter für die Ämterlaufbahn. Aber schaden konnte das nicht. Es war immer besser, die Menschen zu kennen, mit denen man später zu tun bekommen würde. Und Ticinius machte auf ihn einen sehr sympathischen Eindruck.

  • Dankend nahm Ticinius den Apfel entgegen und biss ebenfalls hinein. "Ich bin mir noch nicht sicher, für welches Amt ich kandidieren soll", antwortete er Ursus auf seine Frage, "entweder für das Amt des tresviri capitalis oder das des decemviri litibus iudicandis. Münzprägung und Straßenreinigung üben auf mich gar keinen Reiz aus. Einerseits bekommt man als decemviri litibus iudicandis Einblick in die Verwaltung, was sicher nicht schlecht ist, vor allem, da man damit während eines Teils des weiteren Cursus Honorum beschäftigt sein wird. Außerdem muss ich zwischen dem Vigintivirat und der Quaestur mein Militärtribunat ableisten, und so viel ich weiß, muss man dafür eher administrative als militärische Fähigkeiten besitzen. Andererseits bekommt man als tresviri capitalis einen Einblick in die Justiz, was ebenfalls günstig für das Amt des Praetors oder das des Iuridiculus wäre."


    Die Entscheidung würde ihm nicht leicht fallen, egal wie sie ausfallen würde. In Gedanken versunken, geht er neben Ursus und isst dabei seinen Apfel.

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  • "Och, so uninteressant hätte ich die Straßenreinigung auch nicht gefunden. Da kommst Du in Gegenden und erhältst Einblicke, die Dir gewiß nie wieder gewährt werden. - Wenn ich Octavius Marsus das nächste mal treffe, werde ich ihn mal fragen, was er schon alles erlebt hat. - Ja, tresvir capitalis hätte mich durchaus auch interessiert... Ich habe schon überlegt, ob eine zweite Amtszeit als vigintivir vielleicht sinnvoll wäre, dann als tresvir capitalis. Wie Du schon sagst: Man erhält einen guten Einblick in die Justiz." Ursus war sich noch nicht sicher. Er wollte sich ohnehin auch erst dem Militär zuwenden.


    "Du wirst Deinen Weg schon machen, Ticinius. Und ich wünsche Dir viel Glück dafür. Schau, da vorne kommen wir schon zum forum romanum, dem Herzen Roms." Jeden Tag hielt sich Ursus einige Stunden hier auf. Denn hier erfuhr man alles, was in der Stadt vor sich ging. "Hier findest Du alles und jeden und erfährst auch alles. Auch die Dinge, die Du noch nie wissen wolltest", scherzte er schmunzelnd.

  • Aufmerksam hörte Ticinius zu und registrierte, dass er nicht der einzige ist, der nicht wusste, was er in Zukunft machen sollte. Mittlerweile hatten auch schon beide das forum romanum erreicht.


    "Wir werden sehen, was die Zukunft für uns bereithält.", sagte Ticinius. "Auch ich wünsche dir viel Glück und Erfolg für deine weitere Zukunft, egal, wie du dich entscheidest. Wir werden uns auch sicher wieder begegnen, bevor wir beide Senatoren sind." Bei der Vorstellung musste er schmunzeln. Obwohl nach dem Cursus Honorum früher oder später jeder mit einen Senatssitz beschert wurde, würde es dennoch mindestens drei Jahre dauern, bis es soweit war. "Ich danke dir für deine Führung zum forum romanum. Jetzt weiß ich auch wieder, wie ich nach Hause gelange." Kurz wartete er, ob Ursus noch etwas sagen wollte, dann fuhr er fort: "Vale, Aurelius Ursus".


    Nachdem er sich verabschiedet hatte, schaute er sich kurz um und ging dann in eine Nebenstraße, auf dem Weg zu seiner Casa.

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  • Ursus grinste breit. "Davon bin ich auch überzeugt, daß wir uns noch wiederbegegnen, bevor wir beide Senatoren sind. Und ich freue mich schon auf die nächste Begegnung. Vale, Matinius Ticinius." Er hob noch einmal kurz die Hand zum Gruß und setzte dann seinen eigenen Weg fort.


    Solche Zufallsbekannschaften waren es gerade, die das Leben in Rom so interessant machten, fand Ursus. Hier konnte man immer etwas erleben, immer jemanden kennenlernen, immer Neuigkeiten erfahren.

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