Eine Verlorene und ein Finder

  • "Ich glaube, jeder Mensch vermisst seine Heimat irgendwie - auch wenn die wenigsten es wirklich gerne zugeben. Selbst mein Herr vermisst Hispania, dort ist er aufgewachsen, aber er spricht nicht darüber, man merkt es nur an sehr wenigen, kleinen Dingen, woran er denkt und wonach er sich sehnt," erklärte Straton und atmete leise ein. Er kannte Aquilius gut genug, um diese kleinen Zeichen zu erraten, die von den wenigsten Menschen sonst gelesen wurden, und er wusste auch sehr gut, dass es ihm nicht behagen würde, dass es überhaupt jemand vermochte. Wie die meisten Flavier wusste sich sein Herr gut vor anderen Menschen zu verbergen, sie trauten den wenigsten, und noch weniger legten sie ihre Gedanken offen.
    "Wenn Dein Herr irgendwann einmal nach Achaia reisen sollte, kannst Du ihn ja bitten, Dich mitzunehmen - ich bin mir sicher, Dir würde meine Heimat gefallen. Viele Menschen haben schon über den Reiz Achaias geschrieben, und Dichter sind jene, die es mit den schönsten Worten tun. Sie beschreiben fremde Orte mit einer Melodie in ihren Worten, die jeder vestehen und hören kann, und durch ihre Kunst erfährt man mehr über anderes, als man es selbst ausdrücken könnte."


    Straton nahm noch ein Bröckchen Käse, nickte dem Händler bei der würzigeren Sorte zu, dass er ihm davon etwas einpacken möge, und zeigte schließlich auf kleine, winzige Käsekleckse mit der intensivsten Sorte, dass er auch diese zu probieren wünsche. Auch Siv bekam nun gleich vom Händler ein Stück dieses wirklich sehr außergewöhnlich stark schmeckenden Käses gleich auf die Hand, und mit halb geschlossenen Augen kostete der Grieche, ob auch dieser Käse es wert wäre, ihn seinem Herrn zu bringen.
    "Das klingt nach einem sehr wilden, rauhen Land, aus dem Du stammst. Sind die Winter sehr kalt? Schnee habe ich bisher nur einmal gesehen, es fällt schwer, sich viel davon vorzustellen, wenn er so selten ist wie hier." Die germanischen Worte konnte Straton natürlich nicht verstehen, aber er entnahm dem Klang ihrer Worte, dass sie die Erinnerung an ihre Heimat bewegen musste, dass es starke Bilder waren, die sie vor sich sah, sie konnte sie nur noch nicht ausdrücken. "Ich kann mir ein Land mit viel Regen nur schwer vorstellen - in Achaia und Hispania ist es im Sommer trocken, und auch hier in Italia regnet es nicht sehr viel, mehr im Winter denn im Sommer. Wie seltsam musst Du Dich hier fühlen, da doch so vieles anders zu sein scheint."

  • Siv warf Straton einen kurzen Blick zu, während ihre Finger das Stück Käse zerkrümelten, das sie in der Hand hielt. Nachdenklich starrte sie dann auf das Ergebnis in ihrer Handfläche und bewegte ihre Finger, so dass die kleineren Bröckchen hin und her wanderten. Die Gedanken an ihren Herrn wollte sie lieber beiseite schieben, zu vieles war da, was sie nicht verstand, was sie verwirrte. Sie hatte sich immer noch nicht ganz an den Gedanken gewöhnt, dass sie ihn, nun ja, ganz sympathisch fand – und das, obwohl er Römer war. Einer von dem Volk, das das ihre überfiel, unterdrückte, versklavte. Sie wollte ihn nicht mögen, wollte sich nicht ihm verstehen. Es war schon schlimm genug, dass sie gelegentlich das Bett ihm teilte und sie es gern tat, aber das war immerhin etwas, womit sie inzwischen klar kam, was sie vor sich selbst rechtfertigen konnte. Warum sollte sie nicht ihren Spaß haben? Aber für solche Stunden bei ihm zu liegen war eine Sache. Eine ganz andere, die ganze Nacht in seinem Bett zu verbringen, und es zu genießen, wenn er sie einfach nur im Arm hielt. Oder sich gern mit ihm zu unterhalten, gern in seiner Nähe zu sein… Sie wollte es nicht genießen. Und doch tat sie es seltsamerweise. Es gab Momente, in denen sie sich nicht einmal wirklich wie eine Sklavin vorkam, und doch war sie eine, und das machte es nur noch schwieriger. Wie konnte sie vergessen, dass sie sein Besitz war, jedenfalls in seinen Augen und denen aller anderer? Dass sie sich nicht als sein Besitz sah, spielte keine Rolle, nicht hier. Und ihn um etwas bitten… Siv seufzte. "Ich nicht gerne bitte. Ich wolle, will… für mich, ich will tun, was ich will." Das war es nicht, was sie eigentlich meinte, und die Germanin verzweifelte mal wieder an der Sprache, was sie aber nicht davon abhielt, es noch einmal zu versuchen, langsam, stockend, auf der Suche nach den richtigen Worten. "Was ich will… Ich will… dass ich… erreiche. Ohne bitten. Und Römer bitten ich, ich nicht will. Mehr wenig will als andere."


    Aber Siv wusste nur zu gut, dass sie jetzt in einer Situation war, in der sie gar nicht anders konnte. Sie durfte nichts, es sei denn es wurde ihr erlaubt, und selbst wenn sie nicht jedes Mal bitten musste, war doch alles, was sie tat oder bekam, nichts anderes als etwas, das ihr gewährt worden war. Und Achaia klang schön… Die Germanin schüttelte leicht den Kopf und vertrieb die trüben Gedanken. Stück für Stück aß sie den zerkleinerten Käse und lächelte, als sie an ihre Heimat dachte. "Wild, ja. Rau?" Sie überlegte, wusste aber nicht was das Wort hieß. Etwas wie wild, vermutete sie. "Winter sind kalt, viel kalt. Sehr kalt. Und lang. Und viel Schnee." Sie deutete mit der Hand die ungefähre Höhe an, die Schnee im Winter normalerweise erreichte. "Und Wasser ist… Gewässer gefrieren, und auf dem Eis kannst du rumrutschen. Wasser… Schnee? Nicht, nicht weiß und… leicht, aber… fest. Du kannst laufen, auf Wasser, im Winter." Fragend sah sie Straton an. "In Germanien auch, auch viel Tier. Es Gefahr, alle sein, sein… müssen sein… aufpassen. Aber schön. Du, du können leben. Du… Du fühlst dich so lebendig, wenn du im Wald herumstreifst." Siv legte den Kopf in den Nacken und sah zum Himmel. Sie seufzte träumerisch, als sie in Gedanken das tat, wovon sie sprach. "Hier viel anders, ja. Sein… seltsam. Ich nicht kann… wissen, wie Sommer hier. Ich kann’s mir nicht vorstellen, meine ich. Es ist ja schon so seltsam, wie der Winter hier ist, aber da kann ich mir noch denken, es wär Herbst oder so… Aber der Sommer? Ich nicht… aach, ich nicht… kann denken so viel heiß. Aber ich erlebe wie sein. Ich viel erlebe seit, seit… hier sein."

  • "Du bist stolz," stellte Straton nach einigen Augenblicken sinnierend fest und es war weder Hähme noch Ehrfurcht im Klang seiner Stimme, schlichte Neutralität. Genausogut hätte er feststellen können, dass es gerade regnete, leidenschaftslos wohl in genau demselben Regen dann stehend, als könnte ihn nichts davon wirklich berühren. "Die wenigsten Menschen stoßen sich daran, andere um etwas zu bitten, wenn Du Dich hier in Rom umschaust, wirst Du sehr viele finden, die im eigenen Leben nichts erreicht haben und von den Almosen anderer leben. Die Spiele, welche der Staat oft veranstaltet, sind das beste Mittel, diese Menschen zu beschäftigen, und Brot bekommen sie auch - es ist traurig, zu was Menschen fähig sind, wenn sie erst einmal bequem werden." Daraus klang nun mehr als Sachlichkeit, mit dem Wissen um die Qualität und Quantität seiner Arbeit leistete sich Straton den Luxus, auf jene römischen Bürger herabzusehen, die er als Schmarotzer an der Gefälligkeit anderer betrachtete - die vielgerühmte Masse des Volkes, inzwischen politisch fast bedeutungslos, die sich nur nach dem colosseum drängelte, um sich in ihrem täglichen Müßiggang zu zerstreuen, fand ganz und gar nicht die Zustimmung oder aber den Respekt des Griechen, der wie die meisten Sklaven auch einen ausgesprochen randvollen Tagesplan hatte und seine Aufgaben bewältigte.


    "Für den Anfang wirst Du bitten müssen, auch wenn Dir dies nicht schmeckt - aber je mehr Du lernst, je mehr Du kannst, desto eher hast Du die Chance darauf, gebeten zu werden, weil man Deine Kenntnisse schätzen lernt. Viele Sklaven setzen sich kein Ziel und verharren in Untätigkeit, aber ich denke, dass Du vieles wirst erreichen können, wenn Du es willst und daran arbeitest." Wieder gab er dem Händler einen Wink, der Ziegenkäse schien ihm zu behagen und erneut wurde ein großes Stück vom vorhandenen Block abgeschnitten und für ihn in ein Leinentuch eingewickelt, dann einem anderen der flavischen Haussklaven übergeben. Stratons ganze Haltung deutete an, dass er wusste, was er wollte und wie er es bekommen würde, und so hatte auch dieser Händler den Sklaven wie einen guten Kunden, nicht wie den Besitz eines anderen Menschen behandelt. Als sie hingegen von ihrer Heimat und den klimatischen Verhältnissen berichtete, wurden seine Züge ein wenig weicher, fast unmerklich ließ er sich von ihrer Begeisterung und Wehmut etwas anstecken, denn ihre Worte passten gut zu jenen Berichten, die er über ihre Heimat gelesen hatte - ein ungezügeltes Land, in dem noch so vieles möglich war.


    "Du meinst Eis," sagte er auf ihre Erklärung hin. "Hier nutzt man es, um Getränke und Speisen zu kühlen, in großen Blöcken wird es in den Alpen gebrochen und hierher gebracht, als Spielzeug für die Reichen," vollendete er die Erklärung mit einigen eindeutigen Gesten über die Größe der Eisblöcke - seit er gesehen hatte, wie die Römer solche transportierten, nur um Getränke kalt zu halten, hielt er dieses Volk für nahe am Wahnsinn, und wurde einen jeden Tag einmal mehr in seiner Annahme bestätigt, man musste nur ein wenig mit offenen Augen durch die Stadt gehen. "Man sagt, Reisen erweitere den Horizont - je mehr Du Fremdes siehst, desto mehr kannst Du Dir vorstellen, desto klarer siehst Du, wie Dein eigenes Volk lebt, was es erreichen kann, was es erreicht hat. Wenn Du erst einmal ein Jahr hier warst, wirst Du über vieles noch ganz anders denken als heute ... was hat Dir an Deiner Heimat am besten gefallen?"

  • Siv zuckte leicht mit der linken Achsel bei Stratons Feststellung. Sie war stolz, und sie wusste das auch – und zumindest in ihrer Heimat war sie damit nicht immer auf Gegenliebe gestoßen. Aber ihr Begleiter klang nicht so, als wollte er ihr aus dieser Eigenschaft sofort einen Strick drehen, also ging sie nicht weiter darauf ein. Dafür hörte sie mit einiger Überraschung, wie er über die Römer sprach. Einige von diesem Volk schienen wesentlich bessere Eigenschaften zu besitzen, als sie ihnen zugetraut hätte, aber auf der anderen Seite wies es auch mehr an Verrücktheiten auf. "In Germanien… viele nicht gern bitten." Sie runzelte leicht die Stirn, während sie versuchte zu verstehen, was Straton erzählte. "Nicht dann, wenn… wenn andere möglich. Wenn möglich selbst machen. Römer…" Siv schüttelte abwertend den Kopf. "Ich nicht verstehe wie können leben so. Nicht verstehe wie… wie nicht machen selbst. Ich meine wenn, wenn können." Sie seufzte leise, als Straton bestätigte, was sie letztlich wusste: dass sie würde bitten müssen, dass ihr gar nichts anderes übrig blieb. Was aber dann kam, war interessant. Siv sah ihn überrascht an. "Ge… beten? Sie… bitten mich? Wenn ich weiß viel? Aber… wieso?" Sie wollte gerne mehr wissen, einfach weil es ihr Spaß machte, aber sie hatte während ihres Gesprächs mit Straton bisher noch nicht wirklich darüber nachgedacht, was das für sie bedeuten konnte. Ihre Stimme klang etwas zweifelnd. Wie viel konnte eine Sklavin denn erreichen? "Du denken, denkst, ich dürfe mehr nur weil mehr weiß?"


    Siv beobachtete, wie der Sklave neben ihr dem Händler anwies, einen weiteren Käse einzupacken, und ebenso behandelt wurde wie am vorigen Stand, während sie über ihre Heimat sprach. Von Germanien erzählte sie gerne, stellte Siv fest, jedenfalls wenn sie einen Zuhörer hatte wie Straton, der aufmerksam war – wirklich aufmerksam, und nicht nur so tat. "Eis", wiederholte sie, um es sich besser merken zu können, dann zog sie überrascht die Augenbrauen hoch. "Eis hier? Von… Alpen? Was Alpen? Und… hier viel warm, zu warm, für Eis. Sie… Römer können… bringen Eis hier?" Für einen Moment war Siv gegen ihren Willen beeindruckt, als sie sich fragte, was um alles in der Welt dieses Volk noch zustande brachte. Aber sie verscheuchte dieses Gefühl recht schnell wieder. Inzwischen verließen sie den Stand wieder und gingen zum nächsten, und Siv verbrachte erneut mehr Zeit damit, Menschen auszuweichen oder im Weg zu sein als mit normalem Gehen. Sie wusste einfach nicht, wie die Leute es hier zustande brachten, sich so fließend und ohne größeres Stocken aneinander vorbei zu bewegen. Aber was sie am besten gefallen hatte, war nicht schwer zu sagen. "Wald. Der Wald. Die, die… Wilde. Leben mit wild, und Wald…" Sie seufzte. "Im Wald du frei bist. Frei von alles. Frei von… von dem, was die anderen von dir erwarten. Was du tun sollst, was du lassen sollst… Andere Menschen wollen, wollen dass man tut Sachen… Wald will nichts. Will nur, nur sein. Ich weiß, dass Leben mehr sein, dass mehr… muss. Aber sein in Wald ist… gut. Gut wenn alles zu viel."

  • Die Einkäufe am Käsestand wandten sich ihrer Erfüllung zu, und Straton bezahlte diese, ohne mit der Wimper zu zucken - der Preis war sicherlich nicht der billigste gewesen, aber es war guter Käse, und der war einige Sesterzen mehr wert, als billige Ware, die dann auch billig schmeckte - nichts würde den Unmut seines Herrn leichter erregen als Essen, das ihm nicht schmeckte, wenn man bedachte, wie spät er derzeit nach Hause kam, dann blieben ihm nicht viele andere Freuden als eine angenehme Entspannung beim Essen. Wenn er also irgendwo Abstriche akzeptieren würde, dann bei sehr vielem, aber sicherlich nicht beim Essen.
    "Das scheint mir auch so," kommentierte der Grieche ihre Worte über die Abneigung der Germanen zu Bitten recht trocken - Severus war genauso, und dazu noch unverschämt, als hätte er jederzeit das Recht, sich schlecht zu benehmen und könnte dann noch hoffen, ob seiner Unverschwämtheiten noch mehr zu bekommen, als er bisher hatte. Wirklich sympathisch war ihm der germanische Menschenschlag bisher nicht gewesen, und Siv bildete eine Ausnahme, die er selbst nicht unbedingt erwartet hätte.


    "Ich denke, wenn Du die Wahl hast, zwischen einem vorhersehbaren, bequemen Leben, und einem Leben, bei dem Du täglich um Deine Existenz selbst ringen musst, wird nur ein sehr charakterstarker Mensch die zweite Möglichkeit wählen - faule Menschen gibt es überall, allerdings werden sie hier in Rom noch besonders in ihrer Faulheit unterstützt." Straton warf einen prüfenden Blick auf einen der flavischen Sklaven, der den gekauften Käse entgegen nahm und wandte sich dann wieder den durcheinander drängelnden Menschenmassen zu, die sie bald würden verlassen können - noch ein Stand fehlte auf seiner Einkaufsliste, und jenen steuerte er nun an, eine Insel unter vielen Menschen, die sich ruhig und stetig voranbewegte, ohne sich durch die vielen durcheinander rufenden Römer beeindrucken zu lassen.
    "Je mehr Du kannst, desto wertvoller wirst Du als Mensch angesehen werden - denn Menschen, die nichts können, gibt es viele. Hast Du aber ein Talent, das besonders ist, oder ein Können, das für andere nützlich ist, werden sie Dich irgendwann bitten müssen, damit Du hilfst, weil es außer Dir nicht viele geben wird, die man bitten kann. Wenn Du zeigst, dass Du imstande bist, Dich anzustrengen, zu lernen, Dich zu verbessern, wird ein kluger Herr dies anerkennen."


    Kurz umspielte die Mundwinkel des Griechen jenes sparsame, selten genug auftauchende Lächeln, als er für einen Moment lang eine Erinnerung auftauchen ließ, aber diese Regung verblasste schnell wieder. "Die Alpen sind ein Gebirge - sehr hohe Berge - auf deren Gipfel Schnee und Eis zu finden sind, einige Tagesreisen nördlich von hier, zwischen Deiner Heimat und Italia. Du hast sie sicher auf dem Weg hierher überqueren müssen - und ja, die Römer können das, wenn man nur schnell genug reist und genug davon mitnimmt." Im Grunde war das unnötiger Luxus, aber es war immer dasselbe - wann immer man glaubte, dass etwas besonders selten und schwer zu bekommen war, dann wollte man es umso mehr haben. Der Teil des Marktes, in dem die Obststände lokalisiert waren, tauchte in der Ferne zwischen vielen Körpern auf, und Straton hielt unbeirrt darauf zu. "Auch hier gibt es Wald, und nicht einmal wenig. Vielleicht wird er Dir gefallen - Du solltest Deinen Herrn einmal fragen, ob er einen Ausflug zu den Wäldern plant, dann kannst Du ihn sehen. Ich weiss nicht, ob so viel wilde Natur mir gefallen würde - sie ist letztendlich doch sehr unordentlich."

  • Siv warf ihrem Begleiter einen halb verständnislosen, halb grübelnden Blick zu. Im Grunde verstand sie nur den Teil mit dem ‚faule Menschen gibt es überall’ wirklich, der Rest strotzte von Wörtern, die sie nicht wusste. Die Wahl zwischen einem Leben und einem anderen. Redete er von Sklaven und Freien? Aber es war nicht wirklich so, dass Sklaven die Wahl hatten. "Was für Leben du meinst? Die du hast Wahl? Die du, die du… kannst wählen? Faule Menschen ja, gibt es. Aber in Germanien, du nicht… du kommst einfach nicht weit wenn du faul bist. Dafür muss zu viel gemacht werden. In Heimat wir müssen arbeiten. Können nicht faul sein, weil sonst… sonst… nicht gehen. Es zu viel Arbeit sein, und wer faul ist… bleibt auf der Strecke, irgendwann. Spätestens wenn die anderen die Lust verlieren, für ihn mitzuarbeiten." Stratons nächste Worte machten sie nachdenklich. "Wertvoll…" Natürlich wurde der Wert eines Menschen immer auch daran bemessen, was er konnte, zumindest von den meisten. Das war bei ihnen zu Hause nicht anders. Die, die nicht so viel zur Gemeinschaft beitragen konnten wie andere, hatten nicht dasselbe Ansehen – abgesehen von den Alten, die bereits ihren Teil getan hatten, und den Kindern, die noch alles vor sich hatten. Aber jemand wie sie beispielsweise, der nichts konnte oder aus Faulheit nichts tat, hatte auf Dauer keinen leichten Stand. War, letztlich, weniger wert – auch wenn dieser Wert nicht in Gegenständen bemessen wurde, wie die Sklaven hier in Münzen. Siv machte sich gern nützlich, und sie lernte gern – aber hier bedeutete das, dass sie für Römer wertvoller wurde. Selbst wenn das für sie Vorteile bringen mochte, wollte sie das wirklich? Sie seufzte fast unhörbar und schob auch diese Gedanken fort. Es hatte keinen Sinn darüber zu grübeln, weil sie zu keinem Ergebnis kommen würde. Und letztlich, da kannte sie sich gut genug, würde sie das tun, wonach ihr war, was sie wirklich wollte – ihr Interesse an dem, was zum Beispiel Straton zu erzählen hatte, war weit größer als ihr Trotz gegenüber den Römern.


    "Ich nicht weiß… ich will… ob ich will wertvoller werden. Für Römer. Aber ich will gern neue Sachen wissen, interessante." Siv zuckte leicht die Achseln, um anzudeuten, dass sie es dafür wohl in Kauf nehmen würde, Römern mehr zu gefallen. Dann lachte sie. "Berge? Oh ja, Berge ich sehe auf Weg hier. Ich mag Berge." Siv lächelte bei dem Gedanken daran. Nicht dass sie die Gelegenheit gehabt hatte viel zu sehen, aber es war genug gewesen um ihr zu helfen – zu helfen die Reise und die Soldaten einigermaßen auszuhalten. Anschließend schüttelte sie den Kopf. "Eis hier bringen. Das ist doch verrückt, warum? Das, das… sein… irr." Sie waren inzwischen zu dem Teil des Marktes gekommen, wo es frisches Obst gab, und Siv hatte inzwischen einen Trick gefunden, wie sie sich leichter durch die Menschen bewegen konnte – sie hielt sich dicht bei Straton, etwas schräg hinter ihm. Das machte es zwar etwas schwieriger sich zu unterhalten, aber auf diese Art lief sie weit weniger Gefahr, von irgendwelchen Menschen angerempelt zu werden. Schließlich erreichten sie den Stand, der Stratons Ziel gewesen war, und wo er wie schon zuvor in einem Tonfall, der im Grunde nichts anderes als befehlend zu nennen war, Kostproben verlangte. Siv allerdings achtete im ersten Moment nicht wirklich darauf. Dass es Wald hier gab, wusste sie, sie war ja beim Julfest dort gewesen. Aber seitdem hatte sie keine Gelegenheit mehr gehabt, dorthin zu gehen… Es war, wie Straton so schön sagte, wieder eine Sache, bei der sie würde fragen müssen. Wie eigentlich bei allem. Sie verdrehte kurz die Augen, ging aber nicht mehr darauf ein. Stattdessen lachte sie erneut bei seinem letzten Satz. "Unordentlich? Natur unordentlich?" Der Gedanke, Natur unter solchen Aspekten zu betrachten, war ihr neu und amüsierte sie. "Du nicht kannst Natur… sagen dass ordentlich, oder unordentlich. Natur ist. Du auch nicht kannst gehen und, und… machen Wald ordentlich. Wald nicht ein Zimmer ist, oder ein Haus. Aber du recht bist, wenn du sagst dass, dass… Frage was du kennen. Ich nicht kennen Stadt, du nicht kennst Wald."

  • "Nun, Römer können wählen," sagte Straton langsam, als ihm ihr teils verwirrt, teils einfach überrumpelt wirkender Blick auffiel. Er rief sich selbst zur Ordnung, hatte er doch einen elementaren Fehler begangen, sich eine eigene Meinung in Gegenwart eines anderen Menschen gestattet, den er noch nicht recht einzuschätzen wusste. Wenigstens schien sie nicht alles von dem verstanden zu haben, was er gesagt hatte, im Zweifelsfall würde er wohl auf diese Aussage nicht unbedingt festzunageln sein - wie seltsam, sich im Angesicht dieses eigentlich so unschuldig wirkenden Naturmädchens solche Dinge zu überlegen, dachte Straton bei sich und seufzte innerlich. Vielleicht waren es bereits zu viele Jahre im flavischen Haushalt gewesen, die er mit zuvielen Intrigen hatte verbringen müssen, zu viele Dinge, die er gesehen und erlebt hatte, hatten ihre Spuren hinterlassen, gleichsam den Jahren, die er bisher gesehen hatte. Der Lauf der Zeit ließ sich nicht aufhalten, und schlimmer noch, der Lauf des Schicksals umso weniger. Wann hatte er aufgehört, unschuldig zu sein, den Menschen nicht mehr offen gegenüberzutreten? Mit einigem inneren Erstaunen musste Straton feststellen, dass er sich daran nicht einmal mehr erinnerte, so lange musste es her sein.


    "Reiche Römer bezahlen Spiele - Gladiatorenkämpfe - damit die Menschen sich nicht langweilen, Amtsträger bezahlen Korn und Brot, damit die Menschen nicht hungern, denn sie fürchten die Kraft, die von vielen ausgeht. Du gehörst zu einem patrizischen Haushalt, Siv, und dort wird es an wenig mangeln, aber viele Römer besitzen weniger als Du, tragen schlechtere Kleidung und bekommen weniger Essen, und jene, die wissen, dass sie schlechter als die Sklaven der Reichen leben, die tragen Zorn in sich, und jenen Zorn versucht man mit Brot und Spielen abzulenken," fügte er an, die Erklärung nun wieder in einfacheren Worten wählend, damit sie ihm auch folgen konnte. An Auffassungsgabe mangelte es ihr zweifellos nicht, nur noch an den richtigen Worten, um sich verständlich zu machen und ihrerseits zu verstehen. Aber das würde früh genug kommen, wichtiger fand er es, dass sie die Gesellschaft Roms zu verstehen lernte, denn die Untiefen dieser waren ungleich gefährlicher als die Wälder ihrer Heimat.
    "Nun, Du magst Berge, die Römer mögen ... Eis und kalte Speisen. Würde man nicht vieles tun, um zu bekommen, was man will? So holt man eben das Eis von den Gipfeln der Berge, um kalte Speisen zu bekommen." Kurz schmunzelte der Grieche, als er ihr Kopfschütteln sah, doch dann wandte er sich wieder dem angebotenen Obst zu.


    "Hier, nimm Dir einige Feigen, und diese Datteln solltest Du auch probieren," in der hohlen Hand hielt Straton seiner Begleiterin die süßen, ungezuckerten Früchte hin, damit sie kosten konnte. "Das sind Früchte aus dem tiefen Süden, wo die Menschen schon dunkle Haut haben und Sprachen sprechen, die auch uns fremd sind, die wir doch das griechische und lateinische beherrschen." Er hätte nicht sagen können, warum ihm dieser Pflichteinkauf Spaß bereitete, aber im Stillen genoss er es, einem so wissbegierigen Menschen etwas zeigen zu können, mit seinen eigenen, begrenzten Mitteln. Und auch ihr Lachen hatte etwas lebendiges, besonderes. Sie hatte wirklich noch nicht gelernt, sich zu verstellen, und das war in den Tagen der römischen Kaiser etwas besonderes, etwas einzigartiges. "Nun, die Natur scheint mir in vielem nicht besonders gut organisiert. An manchen Stellen wächst zuviel von einer Pflanze, an anderen Orten zuwenig - würde man auf ein rechtes Maß achten, müsste niemand hungern. Und es ist doch sehr unpraktisch, wenn im Herbst das Laub von den Bäumen fällt, immerzu muss man es zusammenrechen - bei Tannen ist das überhaupt kein Problem, sie sind auch im Winter noch grün und sehen nicht so dürr und mager aus wie Laubbäume. Nein, diese Natur ist nicht mein Geschmack, immerzu hat man nur Arbeit damit."

  • Siv musterte Straton, während er dazu ansetzte, seine Worte von zuvor zu erklären – jedenfalls ging sie davon aus, dass es eine Erklärung dazu war. Sie zog den linken Teil ihrer Unterlippe zwischen die Zähne und zog leicht die Augenbrauen zusammen, während sie sich auf das konzentrierte, was er sagte. Obwohl er diesmal wieder einfachere Worte wählte, fiel es ihr nicht leicht, genug zu verstehen, um wirklich den Sinn nachzuvollziehen. "Sie… Römer zahlen… für Römer Spiele? Und Essen?" Siv runzelte die Stirn in ihrem Versuch zu begreifen, was er über das römische Gesellschaftssystem erzählte. Die Menschen hungerten und langweilten sich, und andere, die Reicheren, zahlten für sie. Weil viele Kraft besaßen? Etwas verwirrt strich sie sich ein paar Strähnen aus dem Gesicht. "Römer haben Kraft? Viel Kraft? Oder… oder du meinst wie, wie… Wie eine Kampftruppe – je mehr sie sind, desto stärker werden sie? Aber wieso lassen sich die Menschen-" Sie unterbrach sich selbst und versuchte, Worte auf Latein zu finden. "Warum Menschen nicht mehr haben Zorn, wenn, wenn andere Römer zahlen Essen? Ich meine… wenn Zorn echt, und tief, und heiß, dann… dann ist nicht so einfach. Nicht einfach Zorn zu, zu… zu besänftigen." Sie konnte ein Lied davon singen, wie schwer es sein konnte, sich unter Kontrolle zu bekommen, wenn man wirklich wütend war. Und sie konnte es sich nicht so ganz vorstellen, dass es so leicht sein sollte, Menschen, eine Menge Menschen, die zornig waren, mit Essen und Spielen zu besänftigen, vor allem wenn es so war, wie Straton sagte – dass es sogar Sklaven besser ging als ihnen. Und das warf noch mehr Fragen bei ihr auf. Was waren die Römer für ein Volk, wenn Sklaven, manche zumindest, besser behandelt wurden als ihresgleichen? "Die Römer… die die… sagen. Befehlen. Sie… haben Angst? Angst vor Römer, vor, vor Menschen, die… die sein ihr Volk?" Das war etwas, was sie noch viel weniger begriff.


    Die Germanin griff nach den Früchten, die Straton ihr empfahl, und obwohl sie sie bereits kannte, war sie doch immer noch fasziniert von deren Fremdartigkeit. Genauso faszinierend war, wovon der Grieche sprach – Menschen mit dunklerer Haut und wieder einer anderen Sprache, Menschen wie Leone… In ihr erwachte die Sehnsucht danach, diese Länder zu sehen, während einige Bewohner des Landes in ihrem Kopf dunklere Haut bekamen. "Leone auch kommen von da. Und, und er sagt dass da viel mehr heiß wie hier. Und kein Winter, kein… kein kalt." Sie lutschte das süße Fruchtfleisch einer Dattel, während sie sich überlegte, wie heiß es wohl tatsächlich sein mochte in solchen Ländern. Die nächsten Worte brachten sie aber wieder zum Lachen. "Du Laub musst weg tun, wenn im Garten. In Wald nicht. Natur nicht, nicht… will dass du Arbeit hat. Oder Fragen. Natur ist da. Und du, du… du läufst rum, und genießt es, und versuchst mit ihr zu leben und das zu von ihr zu kriegen, was du kannst, was du brauchst um zu überleben. Das ist Arbeit, ja, aber man macht sich doch nicht extra Arbeit, um irgendwelches Laub im Wald zusammen zu sammeln oder Zweige oder so, nur damit es, ich weiß nicht, besser aussieht. Vor allem denk ich gar nicht mal, dass das besser aussieht. Natur sein… frei. Tun was will. Daher hier das, und da… anders. Ich finde das sein, ist gut. Interessant. Spannend."

  • Wie hatte er auch erwarten können, dass die komplexe Gesellschaftsstruktur der Römer, die sie gern selbst als kulturelle Leistung verkauften, auf den ersten Blick verständlich sein würde, er schüttelte schließlich oft genug selbst den Kopf über den Blödsinn, den die Römer so gern veranstalteten. Das Prinzip von panem et circensis nachvollziehbar zu erklären fiel auch Straton schwer, der doch fast sein ganzes Leben mit diesem Volk verbracht hatte - und dann die Worte zu wählen, die für jemanden, der wenig Latein konnte, auch noch nachvollziehbar waren ... nun, er musste es zumindest versuchen. "Das römische Volk ist nicht übermäßig reich, zumindest nicht die meisten darunter - einige wenige Familien leben im Luxus, unter anderem die gens Aurelia und die gens Flavia, denen wir beide dienen. Wir als Sklaven leben deswegen besser, bekommen mehr zu essen und tragen bessere Kleidung als die meisten Römer selbst bezahlen könnten. Diese vielen, die wenig besitzen, meist keine Arbeit haben und nicht wissen, was sie tun sollen den Tag über, langweilen sich schnell. Wer sich langweilt und Hunger leidet, könnte einen Aufstand machen, also spenden reiche Römer Geld, damit diese Menschen essen können." Er nickte dem Händler zu, auf dass er ihm die gewünschte Menge an frischem Obst einpacken konnte - unter anderem die Datteln und Feigen, von denen sie gerade eben probiert hatten.


    "Wer einen vollen Bauch hat und sich immernoch langweilt, könnte den Gedanken entwickeln, mehr zu fordern als nur Brot, und deswegen gibt es die Spiele. Sie lenken ab, sie bieten den Geruch nach Blut und Aufregung, und die Menschen vertreiben sich die Zeit damit und vergessen, dass sie eigentlich nicht fähig sind, sich selbst zu ernähren. Ein wütendes Volk kann einen Kaiser stürzen, und das ist in der Vergangenheit schon passiert - deswegen achtet man darauf, dass es Brot und Spiele gibt." Der Gedanke, dass eine die Welt so sehr beherrschende Zivilisation wie die der Römer auf Furcht der Reichen vor den Armen gebaut war, hatte durchaus etwas Amüsantes an sich. "Sie fürchten sich, ihre Macht zu verlieren, und ein zorniges Volk hört nie auf Gesetze oder Traditionen, die solches verhindern könnten - es ist einfach zornig, ohne zu denken. Letztendlich haben viele Römer inzwischen einfach vergessen, zu was sie fähig sein könnten, weil ihr Leben angenehm und bequem geworden ist." Die verpackten Obstbeutel kamen ebenso in die Obhut der begleitenden Sklaven, dann nickte Straton Siv leicht zu. "Ich habe alles erworben, was ich kaufen wollte, jetzt können wir uns auf den Weg machen."


    Ihr Lachen erhob sich über den geschäftigen Markt, und während er ihnen einen Weg durch die Menschenmenge suchte, fühlte Straton, dass er noch eine Erklärung nachschicken musste. "Die wilde Natur scheint mir schlecht organisiert. Sie ist gefährlich durch die umherlaufenden Tiere, die alle den Menschen gefährlich sein können. Es ist unendlich kompliziert, Früchte dort zu finden und die meiste Zeit existiert ein Wald nur dazu, um da zu sein. Selbst die Bäume wachsen nicht effizienzorientiert gebogen, um sie für den Schiffbau nutzbar machen zu können - letztendlich muss man sich stets waschen, wenn man aus dem Wald kommt. Nein, ich kann diese Natur nicht schätzen, selbst wenn sie vielleicht aufregend sein könnte. Die Gefahren und Schwierigkeiten überwiegen den Nutzen bei weitem."

  • Siv zog die Brauen zusammen, so angestrengt hörte sie inzwischen zu und dachte nach. Bisher hatte sie von Rom herzlich wenig gesehen, und außer den römischen Soldaten, die sie gefangen hatten, den Aureliern und deren Besuch hatte sie im Grunde niemanden kennen gelernt. Dass sie im Grunde besser lebte, als manche der Römer, überraschte sie nicht wirklich, aber dass es so viele waren, die offenbar wesentlich schlechter lebten, das hätte sie nicht gedacht. "Die Römer? Die… die all, alles, alle nehmen? In Germanien, und, und… Gallien, und… Achaia und anderes Land?" Ihre Stimme drückte das Unglauben aus, das sie empfand. Die Römer hatten so viel erobert, waren überall, unterwarfen fremde Völker, versklavten sie und nahmen sich, was sie brauchten – wo ging das alles hin? "Wie… So… Aurelier zahlt. Für, für, arme Römer. Für essen. Er schenkt?" Das Wort spenden sagte ihr nichts, aber wenn die Menschen, wie Straton gesagt hatte, keine Arbeit hatten, dann musste es wohl so sein, dass das Geld, das Essen, geschenkt war. Siv schnaubte, leicht verächtlich. Geschenke dieser Art waren Almosen, und sie wäre lieber verhungert, als so etwas anzunehmen. "Sie nehmen schenken? Sie, sie… sehen… Spiele? Und das… das ist gut? Das… damit sind dann alle zufrieden? Das ist gut, zufrieden für Leute? Das ich nicht verstehe. Ich lieber arbeite. Zuhause, alle arbeiten, alle muss arbeiten, für Leben. Muss, muss… Teil tun." Die Germanin schüttelte leicht den Kopf, während sie den Markt verließen, und sah Straton an. "Und das klappt wirklich? Dass die Menschen damit zufrieden sind? Das geht?" Sie begriff es immer noch nicht ganz, und sie wusste nicht, ob es daran lag, dass sie nach wie vor nicht alles von dem verstanden hatte, was der Grieche ihr erzählt hatte, oder ob sie das System, das zugrunde lag, einfach nicht nachvollziehen konnte. Sie vermutete beides. Vielleicht war das Leben in Germanien einfach zu hart, als dass es funktionieren könnte, wovon Straton gesprochen hatte. Natürlich gab es auch bei ihnen die, die mehr hatten, aber der Unterschied war lange nicht so groß, dass diese die Ärmeren so sehr unterstützen konnten wie es hier in Rom offenbar der Fall war. Und ihnen dann auch noch Spiele zu bieten, damit sie sich nicht langweilten… Spätestens wenn der Winter kam, wäre der Gedanke an derartige Ablenkungen schnell verschwunden. Da mussten alle mithelfen, damit der Winter ohne allzu viele Verluste überstanden werden konnte. "Vielleicht… viel, zu viel Menschen hier. Zu viel Menschen für leben wo jeder können arbeiten. Oder…" Stratons letzter Satz gab ihr zu denken. "Leben zu leicht, hier, du meinst?"


    Als er schließlich den Hinweis gab, dass sie nun gehen könnten, war Siv im ersten Moment überrascht. Sich mit Straton zu unterhalten war so interessant gewesen, dass sie ganz vergessen hatte, wie sie überhaupt dazu gekommen war, mit ihm über den Markt zu ziehen. Sie nickte nur und folgte ihm erneut durch die Menge, diesmal eine der Straßen ansteuernd, die sie vom Markt weg und in das Villenviertel führen würde. Seine Ansicht über die Natur amüsierten sie nach wie vor, und daran änderte auch seine Erklärung nichts, die er noch anfügte. "Natur ist… gar nicht organisiert. Will nicht, muss nicht. Ist gefährlich, ja. Und… einfach da." Bei dem Gedanken, dass Bäume so wachsen müssten wie Schiffe, hätte sie auch gelacht, hätte sie auch laut gelacht, aber sie verstand nicht, was Straton meinte, also reagierte sie darauf nicht. Dafür grinste sie, als er übers Waschen sprach. Aber sie begriff, dass sie und Straton offenbar grundlegend verschiedene Ansichten über die Natur hatten. Für sie war die Natur nicht da, um für den Menschen möglichst nützlich zu sein – wer stark und geschickt war, bekam meistens das, was er zum Leben brauchte, aber er musste dafür etwas tun, musste sich unterordnen, weil er Teil des Gefüges war und nicht etwa darüber stand. Straton schien in diesem Fall wie die Römer zu denken. "Muss Natur Nutzen haben? Für Mensch ich meine? Mensch ist Teil. Mensch muss anpassen. Nicht anders."

  • "Viele sind faul auf Kosten anderer," sagte Straton knapp, und es war den Worten durchaus anzuhören, dass er wenig Freude dabei empfand, dies festzustellen. Nicht zuletzt, weil das Leben als Sklave bedeutete, täglich zu arbeiten und nicht darin nachzulassen, konnte er nur wenig Verständnis für jene aufbringen, die es sich damit leicht machten, die sportulae ihrer patroni einzusammeln, kostenlos Getreide und Brot zu bekommen und die restliche Zeit bei den Spielen zu vertrödeln, bei öffentlichen Theatervorstellungen oder eben in den Thermen.
    "Aber das wirst Du sicherlich mit der Zeit noch erfahren, dass die wenigsten gerne tätig sind, und die Disziplin, sich beschäftigt zu halten, wenn man nicht muss, nicht allzu weit verbreitet ist." Gerade unter Patriziern mit einem reichen Erbe geschah es immer wieder, dass man wenig tat, weil man sich über nichts Gedanken machen musste und auch nicht nach einem Amt strebte - wenigstens schien sein Herr endlich begriffen zu haben, dass man nicht sein ganzes Leben mit Frauen und Wein vertändeln konnte, wenn man sich noch mit Achtung im Spiegel betrachten wollte. Für eine Weile verstummt, steuerte er gegen die entgegenkommenden Menschen an, immer darauf achtend, dass Siv auch mitkam, deren Vorsicht in der Menge fast etwas anrührendes hatte. Schweigend hielt er immer wieder inne, damit sie aufholen konnte, und die kleine Karawane an tragenden Sklaven ebenfalls, welche die erworbenen Genüsse sicher zur villa zu tragen hatten.


    "Ich denke, die Natur sollte ihren Nutzen für den Menschen besitzen, immerhin entwickelt er sie auch weiter. Getreidesorten, die besser wachsen, züchten wir, ebenso kräftigere Rinder und wollreichere Schafe - würde der Mensch diese nicht brauchen, wären solche Entwicklungen wohl nur durch Zufall entstanden, wenn überhaupt. Letztendlich ist der Mensch sicherlich ein Teil der Natur, und sollte auch auf ihr Gedeihen achten, aber die Natur ist auch Teil des Lebens eines Menschen - und muss ihren Nutzen besitzen, sonst könnte man auch darauf verzichten. Niemand kann ernährt werden, wenn etwas einfach nur schön aussieht," fasste der Achaier seine Gedanken zusammen, als sie endlich die größte Ansammlung an einkaufswilligen Bürgern verlassen hatten, und im Gespräch über die unterschiedlichen Ansichten der Natur und ihres Nutzens verflog der Heimweg der beiden Sklaven samt Anhang erstaunlich schnell - bis sich die Wege der Träger und von Siv samt Straton trennten, da die villa Aurelia noch ein Stück des Weges von der villa Flavia entfernt lag.
    Er selbst hatte sich lange nicht mehr so gut unterhalten, selbst mit einer Frau, die das lateinische so ungenügend beherrschte wie Siv, war das Gespräch anregend und interessant gewesen, dafür hatten sie auch einfach zu verschiedene Standpunkte - und als er sie schließlich an der porta der villa Aurelia abgeliefert und sich von ihr verabschiedet hatte, empfand er ein gewisses Bedauern über diesen Umstand. Aber vielleicht würden sie sich irgendwann wieder einmal so unterhalten können, immerhin war sein Herr mit ihrem Herrn befreundet ...


    * ~ * finis * ~ *

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