cubiculum MAC | Erwachen

  • Helena war nun erst einmal versorgt. Sie schlief und würde morgen hoffentlich schon wieder etwas froher auf ihr Leben blicken. Auch wenn das eigentliche Problem noch lange nicht gelöst war. Gab es dafür überhaupt eine Lösung? Vermutlich nicht. Wenn überhaupt, dann nur mit Corvinus zusammen. Er war nicht nur Ursache, sondern auch der Schlüssel.


    Ursus wußte, daß er Corvinus über alles informieren mußte. Und er mußte ihn informieren, bevor er irgendwelchen Tratsch hörte. Also ging er am besten jetzt gleich zu ihm. Trotz der unmöglichen Zeit. Denn Ursus wußte, wenn er sich jetzt hinlegte um zu schlafen, würde er sicherlich nicht als erster am Morgen wieder wach sein. Jetzt, wo die Anspannung abgefallen war, fühlte er die Erschöpfung wie Blei in seinen Gliedern. Es kostete ihn schon alle Willenskraft, nicht gleich ins Bett zu gehen, sondern das Zimmer von Corvinus aufzusuchen.


    Ohne anzuklopfen trat Ursus in das Zimmer ein und stellte die mitgebrachte Öllampe auf den Tisch. Einen Moment lang blickte er aus dem Fenster und atmete tief durch. Die Nacht war fast schon vorbei. Ein erster Silberstreif war bereits am Horizont zu sehen, der den beginnenden Tag ankündigte. Was für eine Nacht! Doch für die Welt da draußen war es eine Nacht wie jede andere gewesen. Was interessierte die Welt schon die Tragödie einzelner Menschen?


    Schließlich riß Ursus sich von dem so erholsam friedlichen Anblick los. Er trat an das Bett heran und faßte den schlafenden Onkel an der Schulter, um ihn ganz sanft zu schütteln. "Marcus? Marcus, wach auf..."


    Es war Ursus in diesem Moment gar nicht bewußt, was für einen Anblick er bieten mußte. Blut im Gesicht, auf der Tunika, an Armen und Händen. Naß war er mittlerweile nicht mehr, doch man konnte der Tunika ansehen, daß sie heute Nacht nicht nur mit Blut in Berührung gekommen war. Zerknittert und fleckig war sie auch an den Stellen, die nicht mit Blut besudelt waren. Die Haare waren zerzaust und strähnig. Er mußte aussehen, wie einem feuchten Grab entstiegen. Wie ein fleischgewordener Albtraum.

  • Als sich die gut geölte Tür beinahe geräuschlos öffnete und ebenso leise wieder schloss, hielt mich Morpheus noch tief in seinem zweifelhaften Reich gefangen. Wächserne Gestalten mit schaurigen Masken umringten mich, peinigten mich, waren ich. Kurz meinte ich, Helenas Antlitz zu erhaschen, doch sie stellte sich als eine Art blondschopfige Deandra raus, als sie sich mir zuwandte, anklagend den Finger hob und -


    Perplex riss ich die Augen auf und starrte in die Dämmerung über mir, welche die Lampe verbreitete. Zuerst sah ich nichts, noch geblendet vom Mahr des Traumes, dann gewahrte ich ein Wesen, dessen schuppige Haut im spärlichen Licht des Modes zu glänzen schien. Noch während die Frucht der Angst in mir keimte, keuchte ich erschrocken und stützte mich auf die Ellbogen, um wegzukriechen. Dann jedoch venahm ich die Stimme, die mich beim Namen nannte, und aus dem glitschigen Ungetier wurde ...nun ja, ein glitschiger Ursus. Mit hämmerndem Herzen und leicht wankender Stimme nuschelte ich ein "Mmh?" - mehr aus dem Reflex heraus, mein Erschrecken zu überspielen, denn aus dem Grund, dass es einer Reaktion bedurfte. Ziemlich zerstrubbelt und nicht minder verschlafen richtete ich mich schließlich halb auf, gestützt auf die Ellbogen, und sah Ursus fragend an. "Was ist denn los?" murmelte ich, noch ehe mir auffiel, in welchem Zustand Ursus an meinem Bett stand und dass es nicht das Mondlicht war, das ihn beschien, sondern seine mitgebrachte Lampe. Verdutzt blickte ich auf die blutigen Flecken, und langsam stahl sich die Erkenntnis auf mein Gesicht. Mit einer jähen Bewegung setzte ich mich vollends auf, der Schreck stand mir aufs Gesicht geschrieben. "Titus!" rief ich scharf und nun vollends wach. "Du blutest! Was ist passiert?"

  • Nur langsam schien Corvinus aus den Tiefen des Schlafes aufzutauchen. Ursus wartete einfach ab und blickte Corvinus mit einem seltsamen Gemisch aus Mitleid und Neugier an. Mit der ersten verwirrten Frage hatte Ursus ja gerechnet. Aber nicht mit der Feststellung, er würde bluten.


    Aus einem Reflex heraus guckte Ursus bei diesem Ausruf des Schreckens verdutzt an sich herunter. Und bemerkte erst jetzt, was für ein wahrhaftig schockierendes Äußeres er zur Zeit haben mußte. "Was? - Oh... nein, das ist nicht mein Blut. Entschuldige, ich habe ganz vergessen... wie ich aussehen muß. - Ich... ich wollte Dich nicht erschrecken."


    Mit einem erschöpften Seufzen setzte sich Ursus auf die Bettkante und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. - Was nicht gerade zu einer Verbesserung seines Aussehens führte. "Es...es geht um Helena. Sie hat versucht, sich das Leben zu nehmen."


    Seine Stimme hatte nichts von Anklage. Eigentlich klangen seine Worte nur müde. Und ein wenig ratlos. "Sie... hatte diesen Brief geschrieben. Als Abschiedsbrief. Er ... ist für Dich." Ursus zog die kleine Schriftrolle hervor. Auch sie war mittlerweile von dunklen Flecken verunziert, doch zum Glück nur auf der Außenseite. Die beschriebene Seite war rein.


    Ein wenig zögernd reichte Ursus den Brief weiter. Er setzte dazu an, noch etwas zu sagen, ließ es dann aber doch. Zuviel auf einmal war auch nicht gut.


    Marcus,
    ein Leben ohne Liebe ist grausam. Aber ein Leben überschattet von einer unerfüllten Liebe ist mehr als ich ertragen kann. Du kannst mich nicht lieben, du willst es nicht und ich kann nichts dagegen tun. Ich wünsche dir, dass du irgendwann die Frau findest, die so für dich empfindet wie ich es tue und das ihr zusammen glücklich werdet. Bitte vergiss mich nicht! Trotz allem.
    Helena

  • Ungeduldig harrte ich aus, bis Ursus sich durch sein Gestammel gehangelt hatte und mir sagte, dass es nicht sein Blut war. In verständnisloser Manier hoben sich meine Brauen und zogen sich fragend zusammen, als Ursus sich bereits auf die Bettkante sinken ließ und meine Verwunderung schlagartig in Sorge umschlug. Irgendetwas war vorgefallen. Einbrecher? Aber ich hatte die Hunde nicht anschlagen gehört, also konnte das doch nicht der Fall sein...?


    Der müde Ton ließ mich - nach dem harmlosen Satzanfang - ein ebenso harmloses Satzende vermuten, doch bereits als Ursus erwähnte, dass Helena in etwas involviert war, das ohne Zweifel mit dem ganzen Blut zu tun hatte, setzte ein Frösteln ein, das sich über meinen Körper zog und mir begann, die Luft abzuschnüren. Sie hat versucht, sich das Leben zu nehmen. Sie hat versucht.... sich das Leben zu nehmen. Sie hat versucht, sich das Leben zu nehmen! Sie hatte sich töten wollen. Es war ihr Blut. Ihres. Das ihn besudelte und meine Laken färbte, anklagend und tiefrot wie das eines Opfertieres, in dessen Kehle ein Messer tief eingedrungen war... Ursus schien plötzlich nicht mehr vorhanden zu sein, ebensowenig seine Worte im Raum. Ich starrte einen der dunklen Flecken an, die im gelben Licht der Öllampe eher bräunlich wirkten. Ich kannte den Grund, aus dem sie das getan hatte. Ich war der Grund. Meine Worte. Mein Verhalten. Die Tatsache, dass ich sie zurückgewiesen hatte. Die Leere in ihren Augen, ich hatte sie gesehen!


    Erstarrt, wie ich war, hörte ich nicht mehr, was Ursus sagte, sah ihn nicht mehr, sondern an seiner statt Helena, die mich aus diesen seltsamen, leeren Augen anstarrte. Anklagend, traurig, entschlossen. "...ich..." krächzte ich heiser mit zitternder Stimme. Ja, Marcus, du hättest dass verhindern können! Mit geweiteten Augen, in denen schwarze Pupillen wie große, stille Seen aus Angst und Schuld lagen, starrte ich immer noch einen der Flecken an, die Ursus anhafteten. Verklärt blinzelte ich, nahm das leise Knistern des verbrennenden Öls verstärkt wahr und nun auch wieder Ursus, der mir mit zweifelhaftem Blick einen Pergamentfetzen hinhielt. Wie lange war er schon hier, fragte ich mich. Die Kälte war mir vollends in die Glieder gefahren, der Alptraum schien auf eine bizarre Art doch Wirklichkeit geworden zu sein. Helena. Sie hat versucht, sich das Leben zu nehmen. Der Satz hallte in meinem Kopf wider, als sei er eine riesige leere Halle. Scheinbar nahm ich den Brief. Es sah zumindest so aus, auch wenn ich nichts fühlte. Meine Finger waren taub und meine Bewegungen stockend und langsam, ganz so als wäre ich nicht eben einem Traum entstiegen, sondern einem Grabe.


    Nur widerwillig sprangen meine Augen von Wort zu Wort, schwarz auf erlesenem Pergament. ...mehr als ich ertragen kann.. Wieder und wieder las ich diesen Teilsatz, nachdem ich mir jedes einzelne Wort dort einverleibt hatte, nachdem sie sich in meine Seele gebrannt und sie gezeichnet hatten. Mehr als sie ertragen konnte. Langsam ließ ich den Brief sinken, bis die Hand in meinem Schoß angekommen war und das Papier ihr entglitt. Ich schloss die Augen, wollte Ursus nicht ansehen müssen. Ich hatte angst vor der Anklage in seinem Blick, denn nichts anderes, so war ich mir sicher, würde ich dort finden. Vielleich Hass. "Wo...?" begann ich planlos und schwankend, und bereits nach diesem ersten Wort brach ich wieder ab, die Augen immer noch geschlossen. Eine Hand hatte sich um etwas Stoff geschlossen und presste es so fest zusammen, dass ich mir selbst halbmondförmige Kerben in die Hand drückte und die Knöchel weiß hervortraten.


    Bei den Göttern! Das hatte ich doch nicht gewollt!

  • Schon die wenigen Worte waren wohl bereits zuviel gewesen. Corvinus stand der Schock deutlich ins Gesicht geschrieben. Er brauchte Zeit. Zeit, das Gehörte zu verarbeiten. Zu verstehen, was geschehen war. Ursus wartete und betrachtete seinen Verwandten dabei eher besorgt als anklagend.


    Wozu wäre in dieser Situation auch eine Anklage gut gewesen? Zum einen kannte Ursus nicht die ganze Geschichte, wie hätte er da überhaupt eine Anklage aussprechen können? Und zum anderen: Schuld schien sich Marcus ja selbst genug zuzuschreiben. Wie dieses ich… geklungen hatte. Heiser und zitternd, wie erstickt. Und furchterregend blass war er. Dazu die schreckgeweiteten Augen, die er schließlich schloss, vermutlich um den ihm verhaßten Ursus nicht länger anblicken zu müssen.


    Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, Corvinus so direkt mit dieser Tragödie zu konfrontieren? Sein Schock war tiefer, als Ursus es erwartet hatte. Am Ende hatte er es jetzt mit zwei Patienten zu tun und nicht nur mit einem. Und er wusste nicht, ob er dem jetzt noch gewachsen war.


    Prüfend beobachtete er Corvinus. Verkraftete er es? Im Moment war dies nicht mit Sicherheit festzustellen. Und so wartete er erst einmal ab, ob die Erkenntnis der Geschehnisse und ihrer Ursachen Corvinus erdrücken würde oder ob er sich fangen konnte, um weitere Informationen aufzunehmen.


    Die Schriftrolle war mittlerweile aus Corvinus Hand in seinen Schoß, und von dort aus zu Boden geglitten. Mehr aus Reflex, denn aus Überlegung beugte sich Ursus vor und hob sie wieder auf. Jedoch rollte er sie wieder zusammen und legte sie dann zur Seite. Es war wichtig gewesen, dass Marcus sie las. Doch jetzt war sie nicht mehr von Wichtigkeit.


    Ursus’ Blick fiel auf die Hand, die sich um den Stoff der Decke verkrampft hatte. Seine eigene Hand zuckte schon vor, um sich auf diese Hand zu legen und Corvinus damit zu zeigen, dass er nicht allein war. Doch würde der sich das gefallen lassen? Von ihm? Er zögerte. Und dann tat er es doch, vorsichtig, weil er sicher damit rechnete, auf harsche Weise weggestoßen zu werden.


    "Sie ist wieder in ihrem Zimmer. Sie schläft jetzt", antwortete Ursus und versuchte dabei fest zu klingen. Hoffentlich kam Marcus jetzt nicht auf die dumme Idee, zu Helena zu laufen. Sicher brauchte Helena auch die Hilfe von Corvinus, ganz gewiß sogar. Doch im Moment würde sie ihn bestimmt nicht sehen wollen. Es würde nur alles noch schlimmer machen. "Sie hat viel Blut verloren, aber wenn sie keine weiteren Dummheiten macht, dann wird sie es überstehen. Der Medicus schien da zuversichtlich zu sein. Siv ist bei ihr geblieben und kümmert sich um sie." Was hätte er nur ohne die Germanin gemacht? Sie hatte sich wirklich als Juwel erwiesen.

  • Wäre ich imstande gewesen, klar über die Bedeutung von Ursus' Blicken und seiner Gesten nachzudenken, hätte ich vermutlich erraten, was er dachte. So aber hatte ich genug mit mir selbst und meinen eigenen Gedanken zu tun, welche gepflastert mit Vorwürfen sich stetig wiederholten, und Ursus' absurde Befürchtung, ich könne labil zusammenbrechen, blieb von mir unbemerkt.


    Und dennoch: Sie war nicht tot, sie lebte. Sie hatte es überlebt, das allein zählte und war wichtig. Ich schluckte krampfhaft den Kloß herunter, welcher sich in meiner Kehle verankert hatte und nun im Magen weilte, klein, hart und Übelkeit verursachend. Als eine Art Reflex auf den Schock zu später - oder früher - Stunde, sammelte sich bittere Galle unter meiner Zunge. Ich schluckte auch sie und blinzelte irritiert, um wieder klar zu werden. Als ich ihren Aufenthaltsort erfuhr, war der erste Gedanke, zu ihr zu gehen und um Verzeihung zu bitten, doch auf jenen Gedanken folgte sogleich die Einsicht, dass dies vermutlich das Dümmste war, was ich tun konnte in ihrer jetzigen Situation. Nein, es war besser, wenn ich sie nicht sah. Oder eher, wenn sie mich nicht sah. Ich holte tief Luft und tat einen mächtigen Seufzer. Man hatte also bereits einen medicus organisiert. Dass Siv bei ihr war, beruhigte mich. "Siv. Gut. Sie soll sich abwechseln, am besten mit Cadhla. Jemand muss bei Helena bleiben, bis sie wieder genesen ist. Bis wir...hm, wissen, dass sie keine Dummheiten mehr anstellen wird." Ich sah Ursus an, blickte dann innerlich verwundert auf seine Hand und nahm die meine fort, um Anstalten zu machen, aufzustehen. Schlaf würde ich in dieser Nacht ohnehin keinen mehr finden.


    "Warum hat sie das nur getan", murmelte ich halblaut und mehr zu mir selbst als zu Ursus, als ich neben dem Bett stand und seufzend den Kopf schüttelte. Und wie konnte ich mir jemals sicher sein, dass sie nicht wieder so töricht versuchte, sich das Leben zu nehmen? Ich brauchte... Was ich brauchte, war... Ja.... Nachdenklich starrte ich ein Loch in die Wand neben der Zimmertür.


    ...und allmählich reifte eine Idee in mir.

  • Natürlich. Er zog die Hand fort, als hätte ihn irgendetwas ekliges berührt. Ursus zog seine Hand ebenfalls wieder zurück und erhob sich auch, als Corvinus aufstand. Er fühlte sich wie mit Eiswasser übergossen. "Das... ist bereits veranlaßt", antwortete Ursus nur und fühlte sich wie ein Lakai, der seine Schuldigkeit getan hatte und nun gehen konnte.


    "Mattiacus übernachtet übrigens hier im Haus, ich habe ihm ein Zimmer herrichten lassen. Vielleicht möchtest Du ja später noch mit ihm sprechen, bevor er wieder geht." Er klang sachlich, doch ein klein wenig Enttäuschung war doch auch herauszuhören.


    Natürlich wußte er, daß er damit eigentlich entlassen war. Und auch, daß die zuletzt gesprochenen Worte nicht wirklich an ihn gerichtet waren. Vielleicht hätte er einfach gehen sollen, ohne auf die Worte einzugehen. Aber dann sprach er eben doch, so unvernünftig dies vermutlich auch war. "Sie liebt Dich. Ausgerechnet jemanden, den sie nicht lieben darf. Ist das nicht ein Grund, um zu verzweifeln?" Warum sich immer alle ausgerechnet in Corvinus verliebten, war Ursus ein Rätsel. Vielleicht mußte man eine Frau sein, um so etwas zu verstehen.


    "Sie wird Rückhalt brauchen. Von uns allen..." Hoffentlich versuchte Corvinus nicht, Ursus davon abzuhalten. Er wußte, dann würde es zu einem wirklich schlimmen Streit kommen, denn er würde sich nicht abhalten lassen. Sie war auch seine Cousine. Und auch er liebte sie, was er in dieser Nacht mehr als deutlich gemerkt hatte. Wenn auch natürlich nicht auf diese Weise. Sondern wie man Verwandte, denen man sich nahe fühlte, eben liebte. Bisher hatte er nicht mal gewußt, daß er sich ihr nahe fühlte...

  • Es waren unbedachte Kleinigkeiten, die unser Verhältnis zueinander schwieriger gestalteten, als es ohnehin schon war. Und sie hatten einen weiteren Haken: Sie blieben in der Ausübung zwar unbemerkt, doch die Folgen taten dies nicht. So auch jetzt, denn der kühle Unterton in Ursus' Worten blieb mir nicht verborgen. Ich runzelte irritiert die Stirn, beschloss aber, nicht darauf einzugehen. Es gab weitaus Wichtigeres, als sich nun damit zu befassen.


    "Gut", sagte ich schlicht und ging zu der Sitzgruppe hinüber, denn über einer der Sessellehnen hing eine tunica, die ich nun überzog. "Mattiacus - der Decimer?" fragte ich gedämpft, während der Kopf noch im Stoff steckte. Hernach traten jener und die Arme aus den dafür vorgesehenen Öffnungen aus und ich sah Ursus an. "Ja... Sobald er aufgestanden ist." Noch war ich damit beschäftigt, die tunica umständlich zu richten und die mir immer noch zu sehr schwankende Stimme gleich meinem Gemüt gefasster werden zu lassen, da konfrontierte mich Ursus erneut mit dem Brief, mit dem Grund für Helenas Misere und mit der Schmach, die ich damit auf mich geladen hatte. Ich griff mir beiderseitig an den gesenkten Kopf und flüchtete einige Schritte weit. "Ja, JA, JA! Verdammt!" wütete ich und schnaubte, einerseits frustriert, wie andererseits hilflos. Als ich mich Ursus wieder zuwandte, war mein Gesicht eine Mischung aus unterdrücktem Zorn, resultierend aus Hilflosigkeit, und Verzweiflung. "Ich weiß, Titus. Und ich wünschte, es wäre nicht so." Ich zog eine Grimasse und seufzte tief. Ja, war es nicht wahrhaftig ein Grund zum Verzweifeln?


    Abrupt wandte ich mich um, trat ans Fenster und schob einen Vorhang schwungvoll beiseite, um hinaus zu sehen. Am Horizont war bereits ein heller Streif zu sehen, was bedeutete, dass der Morgen nicht mehr fern sein konnte. Ich verschränkte die Arme vor der Brust, fuhr mir über das kratzige Kinn und starrte hinaus. "Vielleicht ist es besser, sie fortzuschicken. In den Süden zu ihrer Tante Matidia. Wie Sisenna", sagte ich leise und tonlos. Beschämt schloss ich dann die Augen. Dies war keine Lösung, und obwohl ich das wusste, hatte ich es gesagt.

  • Ursus sah zu, wie Corvinus sich ankleidete. Das alles hier... am liebsten wäre er einfach gegangen. Aber das konnte er Helena nicht antun. Ihr zuliebe mußte er sich doch mit seinem Onkel auseinandersetzen, so wenig ihm das gefiel. Sie konnten eben einfach nicht miteinander, aus welchen Gründen auch immer.


    Mit solch einem Ausbruch, wie er nun erfolgte, hatte Ursus allerdings nicht gerechnet. Da die ganze Zeit, auch schon bei Helena, immer nur mit gedämpfter Stimme gesprochen worden war, zuckte er bei den lauten Worten heftig zusammen. Der Streß der letzten Stunden war eben auch nicht spurlos an ihm vorüber gegangen.


    Dem zornigen Blick, mit dem Corvinus ihn bedachte, erwiderte Ursus mit einem fast schmerzvollen Stirnrunzeln. Er schwankte zwischen Verletztheit und Mitleid. Das Mitleid siegte schließlich, auch wenn eine innere Stimme ihm zubrüllte, daß dies nur ein Fehler sein konnte.


    Als Corvinus an das Fenster trat und schwungvoll den Vorhang beiseite schob, machte Ursus einen zögernden Schritt auf ihn zu. Dann noch einen - und noch einen. Er stand nun direkt hinter ihm. Und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Einen Versuch war das immerhin wert.


    "Sie glaubt, Dich als Mann zu lieben. Aber ... vielleicht kennt sie einfach ihre eigenen Gefühle noch nicht richtig. Sie ist doch noch jung und unerfahren." Als wäre er selbst ein Greis, der schon alles hinter sich hatte. Trotzdem sprach er weiter. Nicht vorwurfsvoll oder belehrend, sondern eher besorgt und mitfühlend. "Wenn Du sie fortschickst, wird vermutlich alles nur noch schlimmer. Sie wird sich abgeschoben fühlen und Dich hassen und lieben zugleich, sich erst richtig da hineinsteigern. Glaubst Du, sie würde dort nicht wieder versuchen, sich etwas anzutun? Wir.... wir sollten ihr gemeinsam zeigen, daß wir sie lieben. Wie man eben eine nahe Verwandte liebt. Vielleicht erkennt sie dann, daß es bei ihr nicht anders ist, daß Du einfach nur der Mensch bist, der ihr am nächsten steht. Sie sollte wissen, daß wir sie wollen und uns um sie sorgen. Sie gehört zur Familie und sie sollte sich auch als Teil der Familie fühlen." Das war zumindest seine Meinung.


    Ob Corvinus verstehen würde, daß er ihm - und natürlich Helena - tatsächlich einfach nur helfen wollte? Vermutlich wohl nicht.

  • Ich öffnete die Augen wieder, als ich erneut Ursus' Hand spürte, diesmal auf der Schulter. Tief in mir drinnen betitelte ihn gerade etwas als weibische Memme, aber eigentlich tat es ausgesprochen gut, zu wissen, dass er zumindest versuchte, mich dieses Mal zu verstehen und mir vielleicht sogar klarzumachen, dass ich nicht allein auf weiter Flur stand mit meinen Problemen, die jetzt nicht mehr die meinigen allein waren, sondern doch tatsächlich zur Familienangelegenheit avanciert waren, wie mir urplötzlich aufging.


    "Sie mag jung und unerfahren sein, aber diese Gefühle hegt sie schon eine geraume Weile. Ich weiß es seit der Meditrinalia, aber das muss bereits in Germanien seinen Anfang genommen haben. Nur war mir das da noch nicht klar", sagte ich ruhig und resigniert zu der Welt draußen vorm Fenster. "Du kannst dir sicher vorstellen, dass ich einigermaßen perplex war, als sie es mir gestanden hat. Nur gut, dass sonst niemand etwas mitbekommen hat. Seither habe ich den Kontakt zu ihr zugegebenermaßen gemieden, weil ich nicht wusste, wie ich reagieren soll. Gestern dann konnte ich den Besuch zur Klärung nicht länger hinauszögern. Glaub mir, Titus, ich habe ihr versichert, dass sie mir gewiss nicht wenig bedeutet, nur eben..." Ich zuckte unbeholfen mit den Schultern - was zu Folge hatte, dass Ursus' Hand mindestens rutschte - und sprach weiter. "Sie ist meine Base, und als solche habe ich sie stets behandelt und werde ich sie auch weiterhin behandeln, denn selbst wenn ich es anders wollte, so dürfte es nicht sein." Ich holte tief Luft und wandte mich zu Ursus um. "Mir liegen solcherlei Dinge nicht besonders, ich fühle mich stets unförmig und plump dabei, ganz wie dieses hippopotamus, das man den Germanicern zur Hochzeit geschenkt hat. Ich habe mir die größtmögliche Mühe gegeben, behutsam vorzugehen." Ich legte eine Hand in den Nacken. "Nur scheinbar war das nicht genug. Wäre ich nicht erst zu ihr gegangen, hätte sich das alles nicht ereignet. Ich sollte von jetzt an vielleicht so wenig Zeit wie möglich mit ihr verbringen", resümierte ich matt und presste die Lippen etwas aufeinander.

  • Es war schon erstaunlich genug, daß Corvinus seine Hand nicht einfach abschüttelte und ihn schlicht aus dem Zimmer warf, damit er sich nicht weiter einmischte. Ursus hatte mit einer solchen Reaktion gerechnet. Doch sie blieb überraschenderweise aus.


    Als Corvinus mit den Schultern zuckte, nahm Ursus seine Hand wieder fort und hörte ihm einfach zu. In Germanien hatte es also schon begonnen. Doch war es wirklich verwunderlich? Corvinus war doch für Helena nicht nur ein Vetter. Er war zugleich Bruderersatz, vermutlich sogar eine Art Vaterersatz. Dazu hatte sie wahrscheinlich nur wenige Gelegenheiten gehabt, jemand anderen so nah kennenzulernen. Ohne Zweifel liebte sie ihn. Sehr sogar. Aber war es wirklich die Art von Liebe, die Mann und Frau miteinander verband?


    "In den ersten paar Tagen ist es bestimmt nicht falsch, wenn Du ihr aus dem Weg gehst", stimmte Ursus den Worten seines Verwandten erst einmal zu. Sicher war es für beide ein Problem, sich das nächste mal wiederzubegegnen.


    "Auch wenn ich nicht weiß, was ihr gesprochen habt und auf welche Weise das Gespräch abgelaufen ist: Ich glaube nicht, daß das Endergebns ein anderes gewesen wäre, wenn Du nicht mit ihr gesprochen hättest. Vielleicht hätte es etwas länger gedauert, aber ... auch Mißachtung hätte sie in die Verzweiflung getrieben. Sie ist Deine Cousine, eine nahe Verwandte. Du konntest ihr nichts anderes sagen, als daß es unmöglich ist, mehr in ihr zu sehen." Obwohl es der Wahrheit entsprach und Ursus auch überzeugt davon war, fiel es ihm doch unglaublich schwer, Corvinus zumindest inhaltlich korrektes Verhalten zuzugestehen. Und nicht nur das. Es ihm sogar zu versichern.


    "Und wem liegen solche Dinge schon?" War nicht jeder ein unförmiges, plumpes hippopotamus, wenn es um Gefühle ging? Für manche Dinge gab es keine richtigen Worte.


    "Es wird weder Helena noch Dir nützen, wenn Du darüber nachgrübelst, ob Du es irgendwie hättest vorhersehen müssen oder gar hättest verhindern können. Es ist geschehen. Sie lebt und wird bald wieder gesund sein." Wenn sie nicht irgendetwas Dummes tat. "Sei so nett zu ihr wie früher, damit sie spürt, daß sie Dir weiterhin viel bedeutet. Zeig ihr, daß Du Dir Sorgen um sie machst. Das wird sicherlich schwer werden, aber ich glaube, das hilft ihr am meisten. Und vielleicht... braucht sie etwas zu tun. Eine Aufgabe." Damit sie nicht zuviel herumgrübelte.

  • "Ich werde ihr aus dem Weg gehen, solange ich es vermag", erwiderte ich mit einem angedeuteten Kopfschütteln auf Ursus' Worte hin. Es war einfacher - für sie und wohl auch für mich. Ich scheute nicht oft eine Konfrontation oder ein unangenehmes Gespräch, doch in puncto Helena perfektionierte ich dieses Umschiffen allmählich. Ungewollt, aber unvermeidbar. Kaum, dass Ursus mir versicherte, es sei nicht meine Schuld gewesen, hob ich den Kopf und sah ihn mit einer Mischung aus Unglaube und Missmut. "Ich danke dir für den Aufmunterungsversuch, aber ich denke, wir beide wissen, dass das nicht stimmt", erwiderte ich nüchtern, wagte jedoch eine flüchtige Grimasse, die an ein Lächeln erinnerte. "Aber du hast recht. Es bringt nichts, zu grübeln. Ich muss nur die Konsequenzen ziehen und ihr keinen Grund mehr geben, so etwas noch einmal zu tun. Vielleicht sollte ich weniger freundlich sein. Oder ihr einen Ehemann suchen, der sie auf Trab hält", überlegte ich bewusst laut und mit Absicht recht barsch in Bezug auf Helena. "Es wird ihr wohl kaum helfen, in mir nur ihren Vetter zu sehen, wenn ich nett und freundlich zu ihr bin und mich um sie sorge." Ich seufzte tief und setzte mich an den Tisch. Die ersten Vögel begannen bereits draußen zu singen. "Vielleicht hat die Flavia Interesse. Ich muss mal mit Caius reden." Nein, einem anderen Gedanken würde ich gegenwärtig nicht erlauben, an die Oberfläche zu brechen. Helena brauchte Beschäftigung. Und zwar so viel, dass sie nicht wieder auf dumme Gedanken kommen würde. Einzig die Tatsache, dass sich mein Magen während meiner aufgesetzten Entschlossenheit zu einem kleinen, harten Klumpen zusammenzog, bremste den vermeintlichen Tatendrang und machte mich etwas nachdenklich.

  • Ursus schaute zweifelnd drein, zuckte aber dann mit den Schultern. "Wie Du meinst." Das war sicherlich der für Corvinus leichteste Weg. Aber Ursus war der Meinung, daß es für Helena nicht das beste war. Doch sich jetzt und hier mit Corvinus zu streiten, dafür fehlte ihm nach der Aufregung dieser Nacht einfach die Kraft. Außerdem wußte er ja auch nicht sicher, ob er mit seiner Annahme überhaupt recht hatte. Schließlich war er kein Fachmann für Seelennöte.


    "Es ist Deine Entscheidung, Marcus. Du hast die Macht, ihre Zukunft zu bestimmen. Sie hat dabei nichts mitzureden, sondern muß akzeptieren, was immer Du bestimmst, wohin immer Du sie schickst. Doch die von Dir bestimmte Zukunft leben muß sie nicht. Was sie heute Nacht getan hat, kann sie jederzeit wieder tun." Es war kein Vorwurf. Denn noch hatte Corvinus ja nichts entschieden. Noch sprach er nur Überlegungen aus. Und auch Ursus sprach nur Überlegungen aus. "Vielleicht... gestehst Du Dir selbst einfach die Zeit zu, darüber noch ein wenig nachzudenken?"


    Corvinus wollte anscheinend den für ihn selbst bequemsten Weg wählen. Feige nannte Ursus das. Und nicht ein einziges mal schien Corvinus danach zu fragen, was für Helena das beste war. Er dachte nur darüber nach, wie er selbst auf einfachste Weise aus der unangenehmen Geschichte herauskam. Zuviel zur Familie und daß diese zusammenhalten und füreinander einstehen sollte.


    Für Ursus stand jedenfalls fest, daß Helena den Rückhalt der Familie brauchte. Und wenn Familie dann eben ohne Marcus bedeutete, dann halt ohne ihn. Vielleicht half Prisca ihm ja dabei, Helena dieses Gefühl zu vermitteln? Oder sogar Philonicus? Einen Versuch war es auf jeden Fall wert.


    "Ich werde mich um sie kümmern, so oft ich kann." Was natürlich auch nicht so immens oft war. Er hatte schließlich auch einiges zu tun. "Und hoffe, daß Du eine Entscheidung triffst, die ihrem Wohl und Glück Rechnung trägt." Es hatte nicht mal Sinn, weitere Vorschläge zu machen. Corvinus wischte ja alles zur Seite, was er sagte.


    Wenn er nur nicht so schrecklich müde wäre! Vielleicht könnte er Helena dann besser helfen. Im Moment hatte er jedenfalls das Gefühl, daß für sie alles nur noch schlimmer werden würde.

  • "Ihr Wohl liegt mir am Herzen. Täte es das nicht, würde mich der Umstand, dass sie versucht hat, sich das Leben zu nehmen, wohl kaum so berühren", erwiderte ich nüchtern und ließ eine Hand matt auf den Tisch fallen. "Ich treffe solche Entscheidungen nicht leichtfertig, Titus. Irgendwann wird sie ohnehin heiraten müssen, damit sie nicht ins Gerede kommt. Vielleicht ist der Zeitpunkt jetzt gerade deshalb gut, weil es für sie einen Umbruch bedeutet. Wie dem auch sei... Ich werde darüber nachdenken und mich umhören, wer überhaupt infrage käme." Allmählich gewann die Rationalität wieder die Oberhand, und das machte mich sicherer.


    Ich sah Ursus an und seufzte. Er sah schrecklich aus. So, wie ich mich fühlte. "Titus, du solltest dich waschen und ins Bett gehen", sagte ich und zog einen Mundwinkel nach oben. "Du siehst grauenvoll aus, mein Neffe."

  • Hoffentlich meinte er auch, was er da sagte. Ursus hatte da so seine Bedenken. Schon zu oft waren Worte und Taten von Corvinus nicht gerade das gleiche gewesen. Und von einem guten Zeitpunkt zu sprechen, war ohnehin der größte Unsinn, den Ursus je gehört hatte. Doch es war zwecklos, dies jetzt einzuwenden. Entweder Corvinus merkte es selbst, - oder Helena würde es ihm beibringen. Diese Nacht würde sie verändern. Entweder wurde sie ein willenloses Schaf, oder sie würde lernen, ihre eigenen Wünsche durchzusetzen und so ihr Glück selbst in die Hand zu nehmen. Dabei konnte Ursus jetzt nicht mal sagen, was davon ihm eigentlich lieber wäre.


    Als Corvinus auf sein Aussehen ansprach, blickte Ursus kurz an sich herunter und zuckte dann mit den Schultern. "Ja, das sollte ich wohl." Er war einfach nur müde. Und auch enttäuscht. Enttäuscht, daß Corvinus nicht begriff, daß Helena Hilfe brauchte und keinen Abstellplatz. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als einfach zu versuchen, Helena Kraft zu geben.


    "Dann, gute N.. nein... Bis später." Er blickte ihn einen Moment lang noch ernst an, dann wandte er sich um und verließ das Zimmer.

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