hortus | Mondnacht

  • Siv lauschte fasziniert den Geschichten, die Corvinus erzählte. Seine Stimme hüllte sie ein wie in einen Kokon, die Worte feine Fäden, die sich um sie woben. Sie wusste, sie hätte sich für das Pferd entschieden – bedeutete ein Pferd doch nicht nur Krieg, sondern in ihren Augen vor allem Freiheit. "Ich entschieden für Pferd. Cel… Celärys? Pferd ist Zeichnen für sein frei… ich finde." Sie lächelte leicht. "Ja, Geschichten wir haben, in Germanien. Viele." Siv überlegte kurz, aber da sie gerade bei Geschichten über Pferde waren, fiel ihr die Entscheidung nicht schwer, was sie im Gegenzug erzählen könnte. "Sleipnir – ist Pferd von Odin. Odin ist Gott, viel hoch, viel… Ist Anführer. Wie Zeus, bei römisch Götter. Sleipnir nicht hat Fliege, aber hat… acht…" Hier musste Siv kurz überlegen, und mit gesenkter Stimme ging sie die Zahlen durch, bis sie die erreichte, die sie brauchte, bevor sie wieder normal weitersprach: "Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht… Acht Beine, Sleipnir hat acht Beine. Das weil er kann gehen zu alle Orte, kann tragen Odin, nicht nur Boden, auch in Luft, bei Wasser, sogar in Unterwelt. Sleipnir ist Sohn von Loki, das auch Gott sein – ein Hrimhurse, ein Frostriese, bauen Asgard, Zuhause von Götter, und dafür sein Preis Freya – sein auch Göttin – als Frau, und Sonne und Mond, wenn ist schnell. Aber Asen nicht wollen gebt Freya, das weil Loki sich… verwandeln… sich gebt Form von Pferd, von Stute. Der Hrimhurse nämlich hat gehelft von Svadilfari, sein Hengst. Und Svadilfari seht Loki, als Stute, und geht weg – und so der Hrimhurse nicht fertig gesein, schnell wie gesagt sein fertig." Siv grinste verschmitzt. "Nach Zeit, Loki hat Kind – Sleipnir."


    "Vorurteile…? Ich denke dass das das ist, ja. Und nein. Nicht ist leicht, manchmal, nicht schnell in Zeit zu sein – nicht machen Vorurteil." Siv sah nachdenklich vor sich hin. An ihren Vater zu denken schmerzte – umso mehr, da sie bisher weitestgehend und recht erfolgreich jeden Gedanken an ihn verdrängt hatte. Seltsamerweise tat es aber nicht so weh wie normalerweise – die Geborgenheit, die sie im Augenblick empfand, wirkte sich auch darauf aus. Dennoch begann ihre Stimme leicht zu zittern, als sie antwortete. "Ja. Ich vermisse ihn. So sehr…" Die Worte waren leise. "Er nicht mehr ist Leben. Er… er gesein da, als, als… Überfall, von Römer, bei dem ich sein gefangen… Er gesein dabei. Aber nicht gefangen ihn. Da sein Speer, und er tot. Muss sein tot. Der Speer ist ganz gegeht in ihn, in Körper. Ich gewollt zu ihm, gewollt zu sein bei ihm… Aber Römer nehmen mich mit. Und mein Vater, ist gesein alleine, wenn Hel gekommt…" Siv konnte nicht sagen, was sie mehr schmerzte – dass ihr Vater bei diesem Überfall gestorben war oder dass sie nicht bei ihm hatte sein können, als Hel ihn schließlich geholt hatte. Und es schmerzte, darüber zu reden – weil sie zum ersten Mal die Erinnerung und damit den Schmerz wirklich zuließ. Gleichzeitig tat es seltsamerweise gut, Corvinus davon zu erzählen.


    "Norden", wiederholte sie dann und hob die Mundwinkel zu einem Lächeln, das nicht minder melancholisch war wie das seine. "Ja, du Glück hast. Andere nicht magen Geschichten… Aber ich." Sie atmete tief die frische Nachtluft ein. Ein Moment verging in Schweigen, bevor der Römer hinter ihr wieder das Wort ergriff. Sie seufzte leise, genoss sie die Atmosphäre doch, aber auch ihr wurde kühl, und sie war müde. "Ja", antwortete sie daher leise. Flüchtig dachte sie daran, dass sie eigentlich draußen hatte schlafen wollen – aber nach diesem Abend, nach diesem Gespräch, wollte sie weiter bei ihm sein, wollte ihn neben sich spüren, wenn sie einschlief. Also sagte sie nichts weiter, sondern stand nur gemeinsam mit ihm auf, bückte sich noch einmal nach der Decke und sah ihn noch mal an. Ohne weiter nachzudenken, in einem puren Reflex handelnd, stellte sie sich dann auf die Zehenspitzen und küsste ihn, berührte sacht seine Lippen mit den ihren und kostete ihn. Für einen Moment verharrte sie noch so, ihr Gesicht vor seinem, bevor sie einen Schritt zurücktrat und ihn erneut ansah. "Danke."

  • "Celeris", wiederholte ich das lateinische Wort für Schnelligkeit. "Schnell." Dass sie das Pferd mit Freiheit assoziierte, war für mich nachvollziehbar. Es verursachte mir sogar um ein Haar ein schlechtes Gewissen, denn immerhin war ich derjenige, der ihr die Freiheit würde schenken können, wenn ich es wollte. Doch anderen gegenüber wäre es ungerecht gewesen, und rein wirtschaftlich betrachtet wäre es töricht gewesen, Siv nach dieser kurzen Zeit bei uns schon frei zu lassen. Interessiert - und angestrengt ob ihrer Lateinkenntnisse - lenkte ich meine Aufmerksamkeit der Geschichte zu, die sie nun vortrug. Flüchtig schmunzelte ich bei ihrem Zahlversuch, nickte und runzelte im nächsten Moment die Stirn. Bei den Germanen schien es um einiges rauher zuzugehen, nicht nur im normalen Leben, sondern auch unter den Göttern, wie es schien. Kein römischer Gott wäre doch je auf den Gedanken gekommen, einen seiner Gefährten als Heiratspreis auszusetzen. Im weiteren Verlauf verlor ich dann vollends den Faden, sah Siv verwirrt an und schüttelte den Kopf. "Dieser Loki hat ein Pferd geboren?" fragte ich irritiert und hob die Schultern.


    Die Lippen geschürzt, hörte ich nun eine weitere Geschichte, diesmal eine, die auf einer wahren Begebenheit beruhte. Sivs Vater war also tot, getötet worden von römischen Soldaten. Wieder runzelte ich die Stirn, diesmal aber, weil sich mir durch diese Schilderung der Grund ihres Verhaltens Römern gegenüber erschloss. "Das tut mir leid", sagte ich. "Jetzt verstehe ich, warum du meinesgleichen nicht ausstehen konntest. Kannst." Ich hob erst einen Mundwinkel zu einem schwachen Lächeln, dann die Hand, um Siv mit dem Handrücken über die Wange zu streichen. Ihre auflockernden Worte schließlich schlossen den Abend auf ihre Weise ab. Ich lächelte schwach, dann bedeutete ich Siv, dass ich aufstehen wollte. Sie rutschte nach vorn und ich erhob mich. Im nächsten Moment spürte ich ihre Lippen auf den meinen, und überrascht über diesen plötzlichen Angriff tat ich nichts, außer dazustehen. Siv löste sich recht schnell wieder und ließ mich verwundert zurück, um sich zu bedanken. Was sollte ich entgegnen? Es gab nichts, was ich hätte sagen können, zumal ich nicht einmal wusste, wofür sie sich genau bedankte. So lächelte ich also nur kurz, ergriff dann locker ihre Hand und sagte: "Dann komm."


    ~ finis

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