Siv unterdrückte ein erleichtertes Aufseufzen, als Matho endlich auf ein Haus zeigte und verkündete, dass dies die Villa der Aurelier in Mogontiacum sei. So sehr sie die Reise genossen hatte, das Reiten, die Umgebung, die vertraute Sprache, die Tatsache, dass zur Abwechslung mal sie diejenige war, die verstand und sich vernünftig ausdrücken konnte – natürlich verstanden hier auch alle Latein, die einen mehr, die anderen weniger, und es gab auch viele Römer, die nur Latein sprachen, aber dennoch, in den Gasthäusern, den Städten, auf Märkten, da kam man weiter, wenn man Germanisch sprach –, so sehr sie das alles eigentlich genossen hatte, seit Merit krank geworden war, hatte das vieles von seinem Reiz verloren. Nachdem in jenem Gasthaus kein Medicus aufzutreiben gewesen war, waren sie weiter gereist, am nächsten Morgen. Siv verzog kurz das Gesicht, als hätte sie Magenschmerzen. Es ging ja nur um eine Sklavin. Mehr nicht.
Ohne es zu wollen, kam ihr jener Abend in den Sinn, als sie bei Corvinus gewesen war und ihn zur Rede gestellt hatte, zur Rede hatte stellen wollen, besser gesagt, und an seine Antworten, die ihr gar nicht gefallen hatten. Dass er ihr nichts übel nahm, war eine Erleichterung für sie gewesen, als sie sich verabschiedet hatten, aber es hatte nicht lange gedauert, bis sie darüber nachgegrübelt hatte, was denn umgekehrt war. Nahm sie ihm etwas übel? Wenn sie ehrlich war, ja, das tat sie. Wie er reagiert, wie er sie abgefertigt hatte… Vielleicht hätte sie – das gab sie zähneknirschend zu, wenn auch nur vor sich selbst – nicht so hereinstürmen, ihn nicht so anfahren sollen, aber was er gesagt hatte… Es nagte an Siv, dass er offenbar keinerlei Verständnis hatte. Dass er nicht verstehen wollte, warum Merit geflohen war, und damit auch nicht, was für ein Gefühl es überhaupt war, Sklave zu sein, abhängig von einem anderen Menschen. Natürlich wusste sie, dass er nichts an dem System ändern würde, konnte und vermutlich nicht einmal wollte, aber das war es auch gar nicht, was sie erwartet hätte. Nur… es traf sie, immer noch, dass er in Merit – in ihr nur eine Sklavin sah. Und das warf weitere Fragen auf, die sie bis vor ein paar Tagen gekonnt verdrängt hatte, die sich aber mit Merits Krankheit – und der damit verbundenen Tatsache, dass Siv Zeit auf dem Wagen verbrachte und dann keinen Idolum hatte, mit dem sie sich ablenken konnte – nicht mehr abweisen ließen. Sie war nur eine Sklavin – und die Zeit, die sie miteinander verbracht hatten? Die Germanisch-Stunden, die Wege durch Rom, die zufälligen Treffen wie dieses eine im Garten, und nicht zuletzt die Nächte? War das alles gespielt gewesen, von seiner Seite aus? Wie viel davon war ernst gewesen, und wie viel war nur… nun ja, der Tatsache geschuldet, dass er einsam war – was er oft genug gesagt hatte – und sie eben einfach da gewesen war und versucht hatte, Verständnis aufzubringen? Und da war es schon wieder, Verständnis – Siv knirschte mit den Zähnen. Sie hatte versucht, Verständnis für ihn aufzubringen, obwohl er ihr Herr war, obwohl er Römer war, obwohl sein Leben und seine Welt so fremd für sie waren. Aber er brachte es nicht fertig zu verstehen, was es hieß, Sklave zu sein.
Unwillig zog sie an den Zügeln, was der dunkelgraue Hengst mit einem noch unwilligeren Werfen seines Kopfes beantwortete sowie mit einem Satz nach vorne, und nach ein paar weiteren Sätzen, die teilweise recht hoch in die Luft gingen und die Siv durchaus beabsichtigt hatte, waren sie auch schon da. Sofort sprang die Germanin von Idolums Rücken und wandte sich dem Wagen zu, um zusammen mit den anderen Merit hinein zu bringen, deren Zustand sich in den letzten Tagen noch verschlechtert hatte. Kein Wunder, sie hatten ja kaum eine Möglichkeit gehabt vernünftig dafür sorgen, dass das Fieber gesenkt wurde. Besorgt strich Siv der Ägypterin über die Stirn und die Haare, die trotz der Kälte und den konstanten Bemühungen, sie trocken zu halten, schweißnass waren. Alexandros und Matho waren unterdessen bereits in der Villa verschwunden, in der, wenn Siv es richtig begriffen hatte, jemand von Zeit zu Zeit nach dem Rechten gesehen, die aber im Übrigen leer gestanden hatte. Vermutlich würden sie einiges herrichten müssen, um sie bewohnbar zu machen, zumal einige ja länger bleiben würden – aber bevor sie sich um irgendetwas kümmerten, musste erst einmal Merit versorgt werden. Selbst wenn es anderslautende Anweisungen gegeben hätte oder geben würde, würde Siv darauf nicht achten, auch wenn das für Matho wieder ein gefundenes Fressen wäre.