Es war wichtig, den Weg zum Atrium zu kennen und ihn alleine zu finden. Davon abgesehen, dass es wichtig war, sich in seinem eigenen Heim zurecht zu finden, war das Atrium Zentrum des gesellschaftlichen Lebens. Wenn ein Gast kommen würde, dann würde ich ganz allein diesen Weg antreten und bis zum Anfang des Raumes gehen. 'Salve, mein lieber Gast', würde ich ihn begrüßen bevor ich das Atrium betrat. Er würde sich umdrehen, vielleicht ein paar Schritte gehen und die Begrüßung erwidern, so dass ich genau wissen würde, wo er stand und auf ihn zugehen konnte. Dann würde ich auf die Klinen weisen, von denen ich längst wusste, wo sie standen und wir würden uns setzen. Ich würde die Sklaven der Villa noch entsprechend erziehen müssen, dass die Klinen tatsächlich immer dort standen, wo ich sie erwartete.
Aus diesem Grund hatte ich gemeinsam mit Tuktuk die Villa erkundet. Wir waren mehrmals den Weg von meinem Cubiculum bis ins Atrium abgegangen, ich hatte Schritte gezählt und er hatte mich auf alles hingewiesen, was wichtig war. Jetzt war ich alleine an der Reihe. Später würde ich den Weg ganz ohne Hilfsmittel gehen, doch noch hielt ich meinen Stock in der Linken. Ich brauchte ihn nur dann, wenn ich ohne Tuktuk unterwegs war, denn sonst gab dieser den Weg vor. Wenn ich allerdings alleine war, vor allem außerhalb der Villa, verhinderte der Stock, dass ich über unvorhergesehene Hindernisse stolperte oder jemanden anrempelte, gleichzeitig lieferte er mir Information über die Bodenbeschaffenheit und den Weg. Er war aus Kirschholz, und zwar nicht aus einem wild gewachsenen Ast, sondern aus einem Stamm geschnitten, zuerst als Vierkantholz und danach rund gefeilt, weshalb er schnurgerade war. Er war glatt poliert und der Griff mit einem weichen Band aus Rehleder umwickelt, welches in einer Schlaufe endete. Die Spitze wurde von einem Eisenhut umfasst, denn das Geräusch von hartem Eisen auf irgendetwas anderem war eindeutiger als das von weichem Holz auf irgendetwas. Natürlich war es eine Maßanfertigung, auf meine Größe zugeschnitten, und mehr wert, als die meisten Römer an einem Tag verdienten - nicht nur im ideellen Sinn für mich, sondern auch als Investition gesehen - wenn auch vermutlich außer mir niemand einen Preis dafür zahlen würde
Mein Schritt war trotzdem ziemlich vorsichtig als ich durch die Gänge schlich. Ab hier fünf Schritte, dann nach links. Ich streckte meinen linken Arm zur Seite, dann noch ein Stück bis ich ein leises Klacken hörte. Dann drehte ich mich und ging vorsichtig ein paar Schritte weiter. Da sich vor mir keine Wand auftat, war ich wohl noch auf dem richtigen Weg. Vier Schritte, dann rechterhand auf den Sockel mit der Marmorbüste des Kaisers Claudius aufpassen. Nochmal sechs Schritte, dann war ich im Atrium. Ich spürte es an dem Lufthauch, der dort wehte. Egal wie gut eine Fußbodenheizung war und wie viele sonstige Wärmequellen im Raum aufgestellt waren, in einem Atrium herrschte immer eine andere Luftqualität als in den übrigen Räumen, eine frischere.
Jetzt musste ich nur noch die Klinen finden und aufpassen, dass ich nicht im Impluvium landete. Welcher Architekt hatte sich nur so einen Schwachsinn ausdenken können - ein Wasserbecken inmitten eines Raumes? Blind war er mit Sicherheit nicht gewesen. Ich hatte es bisher auch versäumt, die Umrandung des hiesigen Impluviums zu suchen, und solange Tuktuk nicht bei mir war, wollte ich vermeiden, ihm zu nahe zu kommen. Zu meiner Verteidigung muss ich anbringen, dass ich bei den seltenen Gelegenheiten, wenn meine Füßen Kontakt mit dem Wasser gesucht hatten, nicht mehr nüchtern gewesen war.
Fünf Schritte in den Raum hinein, drei nach rechts, dann wieder links, vier Schritte. Dann tastete ich langsam mit dem Stock nach vorne und wartete darauf, dass er gegen die Liegefläche der ersten Kline stoßen würde. Zögerlich rückte ich ein Stück weiter. Da war nichts. Dann stieß ich auf Stein. Ich tastete mit der Rechten vor mich und berührte die kühle Glätte einer Säule. Was machte eine Säule hier? Fünf Schritte in den Raum hinein, drei nach links, dann wieder rechts, vier Schritte - wo waren die Klinen? Natürlich war es möglich, dass irgendein putzwütiger Sklave sie verrückt hatte, aber nicht in so kurzer Zeit, und außerdem hätte er auch keine Säule stattdessen stehen lassen.
Ich hatte die Orientierung verloren und das ärgerte mich. Natürlich würde Tuktuk bald nachkommen, doch ich hatte mir vorgenommen, dann schon triumphierend auf einer Kline zu liegen. Vielleicht schon mit einem Becher Wein in der Hand protzend und bis dahin dem Atrium zuhörend. Kein Raum war selbst unbeachtet so geschäftig wie das Atrium eines Hauses. Natürlich ließ sich dem auch zuhören, während man an einer Säule herum stand. Aber an einer Säule herum stehen, das war etwas für Sklaven, nichts für mich. Sitzen vielleicht, aber an eine Säule gelehnt auf dem Boden sitzen, das war nichts für einen Patrizier. Es blieb also nur Plan B, jemanden fragen, der sich damit auskannte.
Wenn man in einer Welt, in der so viel aufs Sehen ausgelegt war, nichts sah, dann gewöhnte man sich zwangsläufig an, unverblümt Hilfe einzufordern, wenn man sie brauchte. Das hatte nichts mit Selbstsucht zu tun und das letzte, was ich mochte, war ein Eimer voller Mitleid dazu. Ich brauchte nur einfach ab und an einen Hinweis, und auf diesen bestand ich dann auch. Ich verstand natürlich, dass in dieser Welt so viel auf das Sehen ausgelegt war, wo es doch so bequem war, wenn man es konnte. Doch dann musste es für einen, der es nicht konnte, möglich sein, sich mal eben ein paar Augen auszuleihen.
Ich drehte mich also zurück in den Raum und räusperte mich lautstark. In einer patrizischen Villa war man nie allein. Immer standen irgendwo Sklaven herum, viele nahm ich nicht bewusst wahr, denn sie standen still und stumm herum, rochen nicht nach Duftwasser oder Ölen, sprachen nicht, schienen manchmal sogar das Atmen zu unterdrücken. Doch da waren sie fast immer.
"Ist zufällig irgend jemand hier?"
Frei für Mitschreiber.