Spät war es geworden. In Abwesenheit von Ursus und Cotta oblag es nun wieder mir, die Finanzen zu prüfen. Es war eine müßige Arbeit, die dennoch verrichtet werden wollte. Allerdings hatte ich mich kaum konzentrieren können. Matho hätte mir schon längst Bericht erstatten sollen, doch noch war hier nichts eingegangen, sah man von einem Brief von Ursus einmal ab. Nach Mitternacht endlich gab ich es unkonzentriert auf, meine Gedanken weilten ohnehin in Germanien und wühlten die gleiche Problemstellung wie beinahe jeden Abend in mir auf, seitdem die kleine Gruppe das Haus verlassen hatte.
Frierend ging ich zu Bett, lauschte dem Regen draußen, der einerseits ungeduldig wie beruhigend war. Lange Zeit lag ich wach, ruhelos gefangen in meinen Gedanken. Empfindungen vermischten sich mit Erinnerungen, guten wie schlechten. Ich dachte über das nach, was ich wollte. Das, was ich beabsichtigte und mir wünschte. Wonach ich mich sehnte. Und als ich schließlich weit nach Mitternacht einschlief, bescherte mir Morpheus einen eigentümlichen Traum.
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Beständiges Prasseln im Nebel der Schläfrigkeit. Ein plötzliches, flaues Gefühl im Magen. Da ist der Wunsch, dass es bald aufhören mag, das Schwanken, die Geschwindigkeit, das Donnern. Grün fliegt vorbei. Unten, seitlich. Über allem spannt sich ein strahlend blauer Himmel. Helles Pferdehaar kitzelt seine Haut, der Duft nach Tier und der Frische der Landschaft steigt in seine Nase. Vor ihnen ein Wald. Viele Bäume, durch die der Pferdekörper sich geschickt hindurch windet. Erde und Gras spritzen beiseite, verbleiben als Relikte eines rasanten Höhenflugs im Schachbrettdickicht zurück. Adrenalin baut sich auf, umklammert sein Herz mit eisig kalten Fingern vor dem Sprung. Noch ein Stückchen weiter schiebt er sich nach vorn, hält sich fest. Er verschließt fest die Augen vor dem Sprung, rasenden Pulses, die Gedanken bei dem Sturz, der unweigerlich folgen wird. Doch dann gibt der Wald sie frei, unbehelligt. Wohin führt der Ritt?
Er hebt den Blick, gewahrt eine Art Siedlung, die friedlich in der Sonne daliegt, am Rande der Wiese. Woher hat er das Pferd? Was geschieht hier? Er versucht, sich zu erinnern, scheitert: Er weiß es nicht. Rauer Stoff irritiert ihn jäh. Dunkles Braun unter seinen Fingern, einen filigranen Körper schützend. „Du“, stellt er fest. Dieser neue Aspekt gibt allem einen tieferen Sinn. Der Lauf des Tieres verlangsamt sich, der Takt der Hufe nurmehr ein Zweiklang. Die Hütten sind nah. Kinder spielen verstecken, hüten Gänse. Das stetige Klingen des Schmiedehammers ist zu hören. Bratenduft liegt in der Luft. „Wir sind da.“ So simpel wie kompliziert ist die Aussage, so fremd wie vertraut die Stimme, untermalt vom prustenden Atem des Pferdes. Kinderlachen dringt an sein Ohr, lenkt ihn ab und bringt ihn dazu, den Blick schweifen zu lassen. Einfach sind die Bauten. Zweckmäßig. Lang und flach, lehmverschmiert. Die Kinder ziehen seinen Blick nun wieder an. Sie zeigen auf die Neuankömmlinge, lachen und laufen davon. Er sieht an sich herunter. Lachen sie wegen ihm?
Was ist das? Keine tunica bedeckt seine Beine. Was trägt er da? Lachen die Kinder deswegen? Er fühlt sich fremd und doch wohl. Noch wohler, als er endlich vom Pferderücken gestiegen ist. Die Sonne bräunt seinen Nacken. Abwesend fährt er über die Stelle, an der er noch eben eine Berührung gespürt hat. „Wo sind wir hier?“ Unbehaglich ist ihm zumute. Neugierig ist er dennoch. Eine Katze streicht schnurrend um seine Beine, wirft sich dann im Staub auf den Rücken und bettelt nach kraulenden Fingern. "Zu Hause", sagt sie und strahlt dabei. "Wir sind zu Hause." Ihn irritiert das. Er kennt ein anderes Zuhause. Im nächsten Moment öffnet sich nicht weit entfernt eine Tür. Ein greiser Mann tritt ins Licht, auch er trägt diese seltsamen Kleider. „Endlich“, sagt er. „Endlich bist du wieder da, duhter. Kleiner skradan.“ Es sind der Fältchen viele, die sich in seinem alten Gesicht bilden, als er lächelt. „Ja, fader. Endlich.“ Allmählich dämmert ihm, was vor sich geht. Der Blick des Alten fällt auf ihn, er zieht eine Braue nach oben, mustert ihn. „Dein fridilaz?“
Geliebter? Er? Der ihre? Er wendet ihr den Blick zu. Fühlt sich zurückversetzt in eine mondhelle Nacht, schmeckt ihren Duft und spürt ihre katzenhaften Bewegungen. Den Keim der Leidenschaft, der ihn durchzuckt. Dennoch hegt er Zweifel, ohne dass er sie genauer benennen kann. Hat er nicht alles daran gesetzt, sich selbst zu belügen? Tut er es nicht jetzt noch? Als sie „Ja“ sagt, scheinbar ohne zu zögern, senkt er schamerfüllt den Blick. Es gibt etwas, das es ihm schwer macht, sie als das zu sehen, was sie doch eigentlich für ihn ist. Doch erinnern kann er sich nicht. „Willkommen“, sagt der Alte. „Wenn ihr fertig seid, skradan, dann kommt mich besuchen.“ Er ist verwirrt, nickt nur ob der unerwartet freundlichen Worte des Mannes. Ihres Vaters. Seine Freundlichkeit ist nicht gespielt. Unschlüssig steht er vor dem so fremden Haus, vor dem der Mann nun mit der Katze auf der Bank sitzt, und wagt einen Blick in meerblaue Augen. Er erkennt sie sofort wieder, und doch scheint ihnen ein fremder Glanz innezuwohnen. Einer, den er noch nicht oft gesehen hat. Er hebt die Hand, möchte sie berühren, doch da laufen wieder die Kinder an ihnen vorbei, lachend, kichernd, tuschelnd. Eines streift ihn, und er weicht ein wenig aus. „Dein Dorf“, sagt er. „Dein Zuhause. Nicht meines.“ Leise sagt er die beiden letzten Worte. Nur mit Mühe kann er sie dabei ansehen. Er fühlt sich unbehaglich. Ganz so, als hätte er sie hintergangen. Verletzt. Und er will sie nicht verletzen. Ist sie es?
„Ich weiß.“ Obwohl geflüstert, erscheinen ihm die Worte doch laut im Gedächtnis nachzuhallen. Der Tonfall, der so traurig klingt. Und wenn es ihm jetzt möglich wäre, würde er die Trauer hinfort wischen und das glückliche Lächeln von zuvor wieder auf ihr Gesicht zaubern. Doch nichts, was er tun oder sagen kann, scheint ihm geeignet hierfür. Befangen steht er da. Und ihr geht es nicht besser. Den stummen Kontakt mit dem Jungen bemerkt er nicht einmal, so sehr ist er selbst in seine Gedanken verstrickt. Er fragt sich, warum er hier ist. Das ist nicht real. Er weiß das. Ihr Vater ist tot. Sie selbst hat es ihm erzählt. Ob sie des Traumes gewahr ist?
Erst, als sie erneut spricht, erlangt sie seine ungeteilte Aufmerksamkeit zurück. „Ist es noch mein Zuhause?“ fragt sie ihn, leise wie das Säuseln des Windes. Seine Brauen rücken zusammen. Sie wirkt melancholisch, ihr Lächeln ist nicht echt. Es erreicht nicht ihre Augen. Sein Mundwinkel hebt sich, gleichsam seine Hand. Mit dem Handrücken fährt er über ihre Wange, sagt nichts. Es gibt nichts, das er sagen könnte. Ihre Frage kann nur sie selbst sich beantworten. „Lass uns so tun als ob“, schlägt sie vor und erscheint dabei wieder annähernd fröhlich. „Für diesen Moment.“ Er lässt die Hand wieder sinken, sieht sie an. Ihr Blick macht es ihm unmöglich, ihre Bitte auszuschlagen. Und langsam heben sich seine Mundwinkel, formen seine Lippen ein verwegenes Lächeln. „Das ist ein Traum. Und in einem Traum kann man tun, was man will. Zeige mir deine Heimat. Zeige mir, was dir wichtig ist.“ Er beugt sich vor, bis seine Lippen die ihren streifen. „Für diesen Moment…“
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Taghell war das Zimmer, als ich erwachte. Im nächsten Moment war es wieder finster. Donner folgte auf den Blitz, was ich eher am Rande wahrnahm als bewusst. Verwirrt und noch halb im Schlaf verfangen fuhr ich mir mit der Zunge über die Lippen. Es war so real gewesen… Tastend suchte eine Hand nach dem weichen Körper, der doch neben mir liegen musste. Doch alles, was ich fand, war die Kühle des Lakens. Enttäuscht drehte ich mich auf den Bauch, seufzte schläfrig. „Skradan“, murmelte ich in die Kissen. Den nächsten Blitz bekam ich schon nicht mehr mit.