Als Siv sich an diesem Abend endlich in die kleine Kammer schleppte, die sie für sich allein hatte – so wenig wie sie waren, hatten sie jeder eine für sich –, war sie völlig erschöpft. Der Tag war lang gewesen, und es hatte noch länger gedauert, bis er endlich zu einem Ende gekommen war. Matho hatte es sich in den Kopf gesetzt gehabt, an diesem einen Tag das komplette Haus zu putzen – nicht er, wohlgemerkt. Sich selbst hatte er die Aufgabe gestellt, alle Räume dahingehend zu überprüfen, was gerichtet oder ersetzt werden musste. Der Rest hatte sich dementsprechend darum kümmern müssen, besagte Räume vorher in einen Zustand zu versetzen, in dem Matho sie betreten würde. Also hatten sie Decken von Möbeln gezogen und zum Waschen gebracht, Spinnweben entfernt, Staub gewischt, der fingerdick in Ecken lag… und das den ganzen Tag. Zwischendurch hatten sich sowohl die Germanin als auch die anderen abwechselnd immer wieder zu Merit geschlichen, die sich ziemlich langweilte, um ihr zwischendurch etwas Gesellschaft zu leisten – was Matho allerdings anders aufgefasst hatte, als er ausgerechnet Siv am frühen Nachmittag dabei erwischte. Von der Standpauke, die er vom Stapel gelassen hatte, klingelten ihr jetzt noch die Ohren – und der Strafe hatte sie es zu verdanken, dass sie erst jetzt ins Bett kam und ihr alles weh tat. Der Maiordomus hatte sie – nach der Standpauke – am Kragen gepackt und in den Keller geschleift. Diese Räume waren die einzigen, die Matho von einer peniblen Reinigung eigentlich ausgespart hatte, sondern sie nur grob gefegt sehen wollte. Eigentlich. Nachdem er Siv bei Merit erwischt hatte, verkündete er jedoch genussvoll, dass er seine Meinung geändert habe, und seine Worte kamen so sicher und überlegt, dass Siv den Verdacht hegte, dass Matho den Keller mit Absicht ausgespart hatte – um ihn für genau so einen Fall als Strafaktion einsetzen zu können. Nachdem Siv den Rest des Nachmittags und den gesamten Abend dort verbracht hatte, um die Räume auf Hochglanz zu polieren, hatte sich dieser Verdacht zur Gewissheit erhärtet.
Mit einem Seufzen fiel Siv auf ihr Bett und schwor sich, nie wieder einen Finger zu rühren. Sie war verdreckt, hatte Spinnweben im Haar und trug noch die verschwitzte und schmutzige Tunika. Und sie wusste, morgen würde sie sich wünschen, dass sie sich die Zeit genommen hätte, sich noch zu waschen – spätestens wenn sie sich bewegte und die verhärteten Muskeln protestieren würden. Aber jetzt war sie einfach zu müde, und der morgige Tag stand ohnehin wie ein Schreckgespenst vor ihren Augen. Fertig geworden war sie nicht, aber als die anderen schon längst im Bett waren, hatte Matho dann doch ein Einsehen gehabt und ihr gönnerhaft mitgeteilt, dass sie den Rest am nächsten Tag machen könnte. Siv seufzte erneut und drehte sich auf die Seite
schloss die Augen, entspannte sich und ließ ihr Bewusstsein treiben, sah einen Garten im Mondlicht, hörte leise Worte und spürte eine vertraute Gegenwart, spürte Arme, die sich schützend um ihren Körper geschlungen hatten, während ein leichter Wind in ihrem Haar spielte…
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Donnernde Hufe. Ein Pferdekörper, nassgeschwitzt, in ständigem Auf und Ab. Stetige Bewegung, stetiger Dreiklang – ein Huf, zwei Hufe, ein Huf – und Pause. Ein winziger Moment des Schwebens in der Luft, bevor wieder ein Huf den Boden berührt und eine neue Welle des Rhythmus auslöst, der Pferd und Reiter in seinem Bann hat. Peitschende Mähne, vermischt mit Haaren, flattern im Wind. Sie tauchen ein in ein kleines Wäldchen, Erdklumpen spritzen hoch unter Hufen, die Regelmäßigkeit des Rhythmus’ ist unterbrochen, als der geschmeidige Pferdeleib sich hierhin und dorthin wendet, sich seinen Weg durch den lichten Hain sucht, im Zickzack zwischen den Bäumen hindurch jagt, durch deren Kronen Sonnenlicht fällt und goldene Muster auf grüne Blätter und dunkle Erde zeichnet. Ein Baumstamm, vor ihnen – ein kurzes Zucken läuft durch Pferd und Reiter, Anspannung baut sich auf, als sie auf das Hindernis zuhalten. Mit einem Ruck lösen sich die Hufe vom Boden und schnellen die Körper hinüber, landen weich auf der anderen Seite und lösen sich sofort wieder, als wäre die Bewegung der einzige Sinn. Hinaus aus dem Wald und wieder über eine Wiese. Sie genießt die stetige Bewegung, beugt sich vor, treibt das Pferd zu noch größerer Schnelligkeit an. Ein vages Gefühl der Trauer baut sich in ihr auf, weiß sie doch, dass das Ende ihres Ritts nun in greifbarer Nähe liegt – schon ist die kleine Ansammlung von Hütten zu sehen, die ihr Ziel ist. Sie könnte noch eine Runde drehen, könnte noch einmal durch den Wald reiten, und sie spürt, dass das Pferd sich ebenfalls danach sehnt, dass es noch lange nicht erschöpft ist, dass es drauf brennt, weiter zu rennen, immer weiter. Aber da sind Arme, die sich um ihre Körpermitte schlingen. Waren sie eben schon da? Hat sie sie ignoriert? Sie weiß es nicht, und sie wundert sich auch nicht darüber – sie sind jetzt da, und der Griff sagt ihr, dass es genug ist.
"Du." Eine Stimme erklingt – bekannt, und doch hat sie für einen Moment das Gefühl, dass sie hier fehl am Platz ist. Mit wem reitet sie? Ein Teil von ihr weiß die Antwort, wusste sie schon, als sie das erste Mal den Griff um ihre Taille gespürt hat, lange bevor die Stimme erklang. Sie verlagert ihr Gewicht, gibt dem Pferd dadurch zu verstehen, langsamer zu werden, und es gehorcht, wenn auch nur ungern. Der Rhythmus der Hufe wandelt sich erneut, während sie sich der Siedlung nähern, Menschen sehen, Geräusche hören, Düfte wahrnehmen. Noch einmal verändert sie ihre Haltung, zupft diesmal an den Zügeln, und aus dem immer noch flotten Zweiklang wird ein gemächlicher Viererschritt. Weit greifen die Hufe aus, während sich der Pferdeleib unter ihnen streckt und der Hals sich lang macht. Sie schließt die Augen und genießt das Gefühl, die Bewegung – und Präsenz, die sie hinter sich spürt. Noch immer ist ihr nicht ganz klar, mit wem sie reitet – sie weiß es, und sie weiß es auch wieder nicht, fühlt es nur und akzeptiert es gleichermaßen. Es spielt keine Rolle. Sie fühlt sich geborgen, das ist was zählt, auch wenn während dem Ritt eher sie diejenige war, die Sicherheit gegeben hat.
Sie antwortet nicht auf seine Feststellung, sondern lehnt sich nur zurück, lehnt sich an, während sie dem Tier freie Zügel lässt. Erneut wünscht sie sich, den Ritt verlängern zu können – diesmal nicht um der wilde Jagd willen, sondern um dessen, was nun ist. Sie ist gerade so groß, dass ihr Kopf genau unter sein Kinn passt, stellt sie fast vergnügt fest, während sie die ersten Hütten erreichen und ein paar Kinder mit einem fröhlichen Lachen auf sie zeigen und dann davon rennen. "Wir sind da." Der Hauch des Bedauerns, den sie nach wie vor empfindet, schwingt auch in ihrer Stimme mit. Für einen Moment bleibt sie noch, wie sie ist, während das Pferd schnauft und den Hals so lang streckt, als wollte es damit eine Rutsche für sie bilden. Ihre Finger streichen kurz über seinen Arm, der immer noch um ihre Taille geschlungen ist, dann löst sie sich, schwingt ihr rechtes Bein über den Pferdehals und gleitet zu Boden. "Wo sind wir hier?" Die Frage dringt an ihr Ohr, kaum dass er ebenfalls abgestiegen ist. Einen Moment hält sie inne, verwirrt. Weiß er das nicht? Fühlt er es nicht? "Zu Hause", antwortet sie dann, lächelnd. "Wir sind zu Hause." Sie beobachtet die Katze, die herbeikommt und ihren Kopf an seinen Beinen reibt, so als wollte sie ihre Worte unterstreichen. Als sich dann eine Tür öffnet, hebt sie den Kopf wieder, und auf ihrem Gesicht breitet sich ein strahlendes Lächeln aus, als sie den alten Mann sieht, der herauskommt. Sie wundert sich nicht, dass er da ist. Auch sein Gesicht fängt an zu strahlen, seine Augen leuchten, und die Haut bildet Dutzende von Fältchen – sie zeigen, dass er oft und gerne lacht, auch wenn das Leben ebenso andere Falten in seinem Gesicht hinterlassen hat, Spuren von Schicksalsschlägen, die ihn getroffen haben. "Endlich", sagt er. "Endlich bist du wieder da, duhter. Kleiner skradan." Ihr Lächeln wird noch sonniger, als sie den vertrauten Kosenamen hört. "Ja, fader. Endlich." Der Blick des Alten wendet sich ihrem Begleiter zu, mustert ihn. Immer noch lächelt er, aber dennoch ist der Ausdruck undeutbar geworden, für den Moment. "Dein fridilaz?"
Wieder hält sie inne. Überlegt. Sie weiß es nicht, ist sich nicht ganz sicher – Erinnerungsfetzen taumeln durch ihren Kopf, Eindrücke, von Haut an schweißnasser Haut, von hungrigen Lippen und geflüsterten Worten der Begierde. Sie weiß, dass sie mit ihm geteilt hat, was Geliebte teilen. Aber ist er deswegen ihr fridilaz? Ihre Hand sucht nach der seinen, ergreift sie, ihre Finger mit seinen verschlingend. Sie fühlt sich geborgen bei ihm, sicher. Sie vertraut ihm. "Ja", antwortet sie schlicht. Keine Erklärung, kein Versuch einer Rechtfertigung. Das hat sie nicht nötig, und der Mann in der Tür, der sie seit ihrer Geburt kennt, weiß das. Noch einmal musterte er den Mann neben ihr. Was er denkt, ist schwer zu erkennen – aber er akzeptiert, was sie sagt. "Willkommen", meint er, ebenso schlicht wie sie zuvor, dann wendet er sich wieder ihr zu: "Wenn ihr fertig seid, skradan, dann kommt mich besuchen." Sie nickt, lächelt. Der alte Mann bleibt draußen, setzt sich auf eine kleine Bank vor der Tür und beginnt, die Katze zu kraulen, die sich inzwischen zu ihm gesellt hat. Sie hingegen wendet sich um, streicht mit der freien Hand über die Mähne des Pferdes und lässt einen Blick über die Hütten schweifen, auf der Suche nach der, die ihr gehört hat. Danach suchen ihre Augen zum ersten Mal die seinen. Er erwidert ihren Blick, und kurz verliert sie sich in seinen braunen Augen, die ihr von Zeit zu Zeit immer noch so ungewöhnlich erscheinen. Aber der Moment hält nicht lange an. Sie spürt sein Unbehagen, spürt, dass er sich unwohl fühlt. Kinder toben um sie herum, an ihnen vorbei. Er macht einen kleinen Schritt, weicht einem kleinen Jungen aus. Jede seiner Bewegungen scheint ihr so vertraut zu sein… Ebenso vertraut wie sein Gesicht, das im Moment nichts von der Freude zeigt, die sie empfindet. "Dein Dorf." Die Worte treffen sie, obwohl sie weiß, dass er Recht hat. Ihre Finger lösen sich langsam von seinen. "Dein Zuhause. Nicht meines." Er sieht sie dabei an, auch wenn es ihm sichtbar schwer fällt – und schließlich ist sie diejenige, die den Blick senkt. Die ihm ausweicht. "Ich weiß." Jetzt ist ihre Stimme nur ein Wispern. Sie weiß nicht, was sie noch sagen soll. Es gibt nichts zu sagen.
Ihr Blick richtet sich auf den Boden, schweift dann wieder über die Ansammlung der kleinen Hütten, unruhig diesmal. Sie weiß, dass er Recht hat, was ihn betrifft. Aber hat er auch Recht, was sie angeht? Wieder tauchen die Kinder auf, und diesmal bleibt ein kleiner Junge stehen – derselbe, dem er vorher ausgewichen ist. Blaue Augen starren sie an, rund vor Staunen. Und sie erkennt einen Neffen in ihm. Aber ihre Gedanken weilen anderswo, und bevor der Kleine etwas sagen kann, wird er schon von seinen Freunden mitgerissen, tobt weiter und hat vermutlich schon vergessen, weshalb er stehen geblieben ist, dass ihm die Fremde plötzlich so bekannt vorgekommen ist. Heute Abend wird es ihm wieder einfallen, wenn er seinem Vater gute Nacht sagt, der der Frau so ähnlich ist, und er wird es ihm erzählen, ganz aufgeregt. Aber jetzt läuft er weiter, rennt seinen Freunden nach und juchzt vor Freude. Ihr Blick dagegen hängt noch wie gebannt an der Stelle, an der die Kinder kurz zuvor noch waren. Langsam wird ihr klar, wer das war. Seine Worte klingen erneut in ihren Ohren. Dein Zuhause. Nicht meines. Ohne es zu wollen, drängt sich ihr die Frage auf, ob es das wirklich noch ist. Ihr Neffe. Und er erkennt sie nicht. "Ist es noch mein Zuhause?" Noch leiser sind diese Worte. Sie ist sich nicht einmal bewusst, dass sie sie laut ausspricht.
Sie schüttelt die Gedanken ab und wendet sich wieder ihm zu. Lächelt, etwas gezwungen, vor allem aber wehmütig. Auch seine Lippen verziehen sich zu einem Lächeln, und seine Hand hebt sich und berührt ihre Wange. Leicht neigt sie den Kopf, will der sachten Liebkosung entgegen kommen, aber der Handrücken ist nicht dafür geformt, um sich in ihn hinein zu schmiegen. Also verharrt sie nur still. Sie fühlt kein Unbehagen, dafür aber eine vage Trauer, ähnlich der, die sie überkommen hat, als der Ritt dem Ende zuging. Und sie kann es nicht verbergen, auch wenn sie es gern möchte – weil sie nicht will, dass er sich wegen ihr Gedanken macht, dass es ihm schlecht geht, dass er sich schuldig fühlt. Es gibt nichts, was er tun kann, um zu ändern, was ist, ebenso wenig wie sie. Sie weiß das, auch wenn sie es nicht immer wahrhaben will. Aber etwas gibt es, was sie tun können, jetzt. "Lass uns so tun als ob." Ihrer Stimme gelingt, was ihr Lächeln nicht vermag – sie klingt locker, fröhlich. Die Wehmut ist kaum zu hören, spielt dafür umso deutlicher um ihre Mundwinkel. Und nur in ihren Augen ist die stumme Bitte zu sehen, die ihre Worte formulieren, ohne dass der Ton sie so wirken lässt. "Für diesen Moment." Sie mustert ihn, registriert jede Veränderung in seinem Gesicht. Immer noch ist sie ruhig, so viel ruhiger als sie es sonst von sich kennt. Sie wartet ab, wartet auf seine Antwort, sieht ihn an, während seine Hand sinkt. Wieder lächelt er, und diesmal ist es ein Lächeln, das sie kennt und liebt, das ein Kribbeln in ihr auslöst. "Das ist ein Traum. Und in einem Traum kann man tun, was man will. Zeige mir deine Heimat. Zeige mir, was dir wichtig ist." Seine Lippen nähern sich den ihren, immer noch verzogen zu diesem verwegenen Lächeln, von dem sie ihren Blick erst losreißen kann, als er so nahe ist, dass sie zurückweichen müsste, um es noch zu sehen. Ihr Mund umspielt ebenfalls ein Lächeln, ein ehrliches, als sich ihre Lippen berühren. "Für diesen Moment…"
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Siv wollte nicht aufwachen, versuchte die Fühler zurückzuhalten, die ihr Bewusstsein tastend in die Wirklichkeit aussandte, wehrte sich gegen die Realität, die nach ihr griff. Ihre Lippen waren noch halb geöffnet und leicht gewölbt. Aber der Traum ließ sich nicht festhalten, entglitt ihr immer schneller. Zarte Sonnenstrahlen kitzelten sie an der Nase und zupften an den Lidern, und mühsam hob sie eine Hand, um ihre Augen abzuschirmen. So wenig sie sich gegen das Auftauchen aus dem Traum hatte wehren können, so schwer fiel ihr nun das endgültige Aufwachen. Ein leichter Schmerz zuckte durch ihren Arm, als sie ihn bewegte, und ein leises Stöhnen kam über ihre Lippen. Nur langsam kam die Erinnerung an den gestrigen Abend wieder, wie sie ins Bett gefallen war, sogar zu müde, um noch die Vorhänge zuzuziehen… Sie drehte sich auf die Seite, wandte sich von der aufgehenden Sonne ab, erwartete fast, ihn neben sich liegen zu sehen, aber da war niemand. Mit einem Seufzen schloss sie die Augen erneut und schlief wieder ein, ohne daran zu denken, dass das nur dazu führen würde, dass in gar nicht allzu ferner Zukunft Matho gegen ihre Tür trommeln und sich noch eine Strafarbeit für sie ausdenken würde.