Den 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirg.
Lenz - Georg Büchner
Sie ging nach draußen, streifte umher. Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen. Traumwandelte sie? Sie wusste es nicht, wusste nicht, ob sie wachte oder schlief. Sie fühlt sich wie in einem Traum, betroffen und seltsam distanziert zugleich. Wandelt auf vertrauten Pfaden und scheint sich selbst dabei zu beobachten, wie sie neue Wege betritt. Ferne Gefilde heißen sie willkommen – gefühlte Wirklichkeit, in ihrer Vorstellung. Geschlossenen Auges war sie weit von hier. Hatte die Fesseln abgestreift, die sie banden. Und war doch nicht frei. War gefangen, gebunden durch Fesseln, die sie sich selbst angelegt hatte. Ein weiterer Schritt. Lider flattern, öffnen sich. Silberglitzernde Sterne blühen auf, vor ihren Augen, verschwinden wieder und wachsen erneut, versetzt um ein paar Fingerbreit. Mondlicht bricht sich in Myriaden kleiner Tropfen. Noch nicht lange war es her, da schienen alle Schleusen des Himmels offen gestanden zu haben, eine wahre Sintflut, die sogar sie im Haus gehalten hätte, hätte sie nicht ohnehin drin bleiben müssen. Teilnahmslos hatte sie dem Rauschen gelauscht, teilnahmslos hatte sie ihre Arbeit verrichtet – ein Tag wie andere, Teil eines Konstrukts, einer endlos anmutenden Aneinanderreihung, seit sie wieder hier war.
Sie hatte aufgehört zu zählen. Welche Rolle spielte Zeit, wenn sie immer gleich verging?
Sie hatte aufgehört sich zu wehren. Welchen Sinn hatte Hoffnung, wenn sie verloren war?
Etwas regt sich in ihr. Verschüttet, vergraben, verdrängt, aber noch da. Alter Widerspruchsgeist rührt sich, wie ein Bär, der beginnt aus seinem Winterschlaf zu erwachen, wirbelt Staub auf. Sie hatte ihre Arbeit verrichtet, an diesem Tag, wie an dem Tag davor und an dem vor jenem. Klagen, die man immer schon selten von ihr gehört hatte, gehörten jetzt ganz der Vergangenheit an – Widerspruch, der früher oft gekommen war, war zur Seltenheit geworden. Was ihr Freude machte, war ihr entweder verboten oder auf andere Art genommen worden – einzig der Garten war ihr geblieben, tagsüber nur begrenzt und unter strenger Aufsicht, nachts, wenn sie es schaffte sich hinauszuschleichen, gänzlich, für die Dauer der Dunkelheit. Und mit ihm die ganze Welt, so schien es ihr.
In dieser Nacht waren Blätter und Zweige, Blüten und Grashalme noch schwer vom Regen. Es war naßkalt; das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über den Weg. Die Äste der Tannen hingen schwer herab in die feuchte Luft. Am Himmel zogen graue Wolken, aber alles so dicht - und dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer und feucht durch das Gesträuch, so träg, so plump. Nebel schmiegt sich um ihre Gestalt, hüllt sie ein. So real. Nicht plump – einer Liebkosung gleich gleiten vereinzelte Schwaden über ihren Körper. Sie schwebt, atmet kühle Luft ein, streckt die Arme aus und meint den Nebel fast greifen zu können.
Lider flattern erneut. Kein Nebel. Vages Licht ist es, das sie umschmeichelt, sich zurückzieht, wieder vorwagt. Schwache Strahlen, sichtbar gemacht durch Wolken, die in einer wilden Jagd, aber lautlos über den Himmel toben, getrieben vom Wind, auf einer ziellosen Reise, die ewig währen mag. Doch was ist schon Ewigkeit? Gemessen an der Zeitspanne, die einem zur Verfügung steht. Gemessen an Eintönigkeit, die einen vereinnahmt. Gemessen an der Lebensfreude, die einem vergönnt ist. Flocken, die im hohen Norden in dichtem Reigen durch die Luft tanzen und deren Schwestern’ Weiß alles bedeckt, in einem Land aus Schnee und Eis – Ewigkeit ist unendlich, hier. Fühlbar sogar für jene, deren Lebensdauer begrenzt ist. Ein vereinzelter Schneekristall jedoch, der vom Himmel schwebt, ein Nachzügler, einer der letzten seiner Art im Frühlingstaumel – federleicht lässt er sich nieder, auf einem Ast, übersät mit grünen Spitzen und fast nicht zu erkennen unter weißen Punkten, die bald schon zu prächtigen Blüten erblühen werden. Sonnenstrahlen, für die einen Leben, für die anderen Tod. Ewigkeit kann auch Sekunden währen. Und die Wolken ziehen über den Himmel, wankelmütig und beständig zugleich. Entziehen die Lichter des Himmels dem Blick derjenigen, die hinaufsehen, geben sie wieder frei, verdecken sie, in einem willkürlichen Spiel, ewig gleich und ewig neu.
Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am Weg, bald auf-, bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte. Er geht. Sie geht. Wer? Wer ist sie? Sie zerfließt, fühlt sich losgelöst und verbunden zugleich, weiß nicht wer sie ist. Nichts liegt ihr am Weg. Irgendwann blieb sie stehen. Ein alter Baum erhob sich vor ihr, eine Eiche, und sie erkannte den Platz, an dem sie mit ihm gesessen hatte, in einer anderen Zeit, wie es ihr jetzt erschien. Bewegungslos verharrte sie, als ein vager Schmerz durch ihre Brust zuckte. Derselbe Ort, eine andere Zeit, nach der sie sich zurücksehnt. Sie musterte den Baum, und vor ihrem inneren Auge entstanden Bilder. Zwei Menschen, aneinander gelehnt. Ein Seufzen, das aus dem Urgrund ihrer Seele zu kommen schien, hob ihre Brust. Ein Zurück war nicht mehr möglich. Aber ein Vorwärts schien es für sie auch nicht mehr zu geben. Lediglich ein Wandeln im grauen Jetzt, unterbrochen nur von Momenten wie diesen, selten genug, in denen sie mehr träumte als wach war.
meins