hortus | Schattenspiele

  • Den 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirg.
    Lenz - Georg Büchner



    Sie ging nach draußen, streifte umher. Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen. Traumwandelte sie? Sie wusste es nicht, wusste nicht, ob sie wachte oder schlief. Sie fühlt sich wie in einem Traum, betroffen und seltsam distanziert zugleich. Wandelt auf vertrauten Pfaden und scheint sich selbst dabei zu beobachten, wie sie neue Wege betritt. Ferne Gefilde heißen sie willkommen – gefühlte Wirklichkeit, in ihrer Vorstellung. Geschlossenen Auges war sie weit von hier. Hatte die Fesseln abgestreift, die sie banden. Und war doch nicht frei. War gefangen, gebunden durch Fesseln, die sie sich selbst angelegt hatte. Ein weiterer Schritt. Lider flattern, öffnen sich. Silberglitzernde Sterne blühen auf, vor ihren Augen, verschwinden wieder und wachsen erneut, versetzt um ein paar Fingerbreit. Mondlicht bricht sich in Myriaden kleiner Tropfen. Noch nicht lange war es her, da schienen alle Schleusen des Himmels offen gestanden zu haben, eine wahre Sintflut, die sogar sie im Haus gehalten hätte, hätte sie nicht ohnehin drin bleiben müssen. Teilnahmslos hatte sie dem Rauschen gelauscht, teilnahmslos hatte sie ihre Arbeit verrichtet – ein Tag wie andere, Teil eines Konstrukts, einer endlos anmutenden Aneinanderreihung, seit sie wieder hier war.


    Sie hatte aufgehört zu zählen. Welche Rolle spielte Zeit, wenn sie immer gleich verging?


    Sie hatte aufgehört sich zu wehren. Welchen Sinn hatte Hoffnung, wenn sie verloren war?


    Etwas regt sich in ihr. Verschüttet, vergraben, verdrängt, aber noch da. Alter Widerspruchsgeist rührt sich, wie ein Bär, der beginnt aus seinem Winterschlaf zu erwachen, wirbelt Staub auf. Sie hatte ihre Arbeit verrichtet, an diesem Tag, wie an dem Tag davor und an dem vor jenem. Klagen, die man immer schon selten von ihr gehört hatte, gehörten jetzt ganz der Vergangenheit an – Widerspruch, der früher oft gekommen war, war zur Seltenheit geworden. Was ihr Freude machte, war ihr entweder verboten oder auf andere Art genommen worden – einzig der Garten war ihr geblieben, tagsüber nur begrenzt und unter strenger Aufsicht, nachts, wenn sie es schaffte sich hinauszuschleichen, gänzlich, für die Dauer der Dunkelheit. Und mit ihm die ganze Welt, so schien es ihr.


    In dieser Nacht waren Blätter und Zweige, Blüten und Grashalme noch schwer vom Regen. Es war naßkalt; das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über den Weg. Die Äste der Tannen hingen schwer herab in die feuchte Luft. Am Himmel zogen graue Wolken, aber alles so dicht - und dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer und feucht durch das Gesträuch, so träg, so plump. Nebel schmiegt sich um ihre Gestalt, hüllt sie ein. So real. Nicht plump – einer Liebkosung gleich gleiten vereinzelte Schwaden über ihren Körper. Sie schwebt, atmet kühle Luft ein, streckt die Arme aus und meint den Nebel fast greifen zu können.
    Lider flattern erneut. Kein Nebel. Vages Licht ist es, das sie umschmeichelt, sich zurückzieht, wieder vorwagt. Schwache Strahlen, sichtbar gemacht durch Wolken, die in einer wilden Jagd, aber lautlos über den Himmel toben, getrieben vom Wind, auf einer ziellosen Reise, die ewig währen mag. Doch was ist schon Ewigkeit? Gemessen an der Zeitspanne, die einem zur Verfügung steht. Gemessen an Eintönigkeit, die einen vereinnahmt. Gemessen an der Lebensfreude, die einem vergönnt ist. Flocken, die im hohen Norden in dichtem Reigen durch die Luft tanzen und deren Schwestern’ Weiß alles bedeckt, in einem Land aus Schnee und Eis – Ewigkeit ist unendlich, hier. Fühlbar sogar für jene, deren Lebensdauer begrenzt ist. Ein vereinzelter Schneekristall jedoch, der vom Himmel schwebt, ein Nachzügler, einer der letzten seiner Art im Frühlingstaumel – federleicht lässt er sich nieder, auf einem Ast, übersät mit grünen Spitzen und fast nicht zu erkennen unter weißen Punkten, die bald schon zu prächtigen Blüten erblühen werden. Sonnenstrahlen, für die einen Leben, für die anderen Tod. Ewigkeit kann auch Sekunden währen. Und die Wolken ziehen über den Himmel, wankelmütig und beständig zugleich. Entziehen die Lichter des Himmels dem Blick derjenigen, die hinaufsehen, geben sie wieder frei, verdecken sie, in einem willkürlichen Spiel, ewig gleich und ewig neu.


    Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am Weg, bald auf-, bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte. Er geht. Sie geht. Wer? Wer ist sie? Sie zerfließt, fühlt sich losgelöst und verbunden zugleich, weiß nicht wer sie ist. Nichts liegt ihr am Weg. Irgendwann blieb sie stehen. Ein alter Baum erhob sich vor ihr, eine Eiche, und sie erkannte den Platz, an dem sie mit ihm gesessen hatte, in einer anderen Zeit, wie es ihr jetzt erschien. Bewegungslos verharrte sie, als ein vager Schmerz durch ihre Brust zuckte. Derselbe Ort, eine andere Zeit, nach der sie sich zurücksehnt. Sie musterte den Baum, und vor ihrem inneren Auge entstanden Bilder. Zwei Menschen, aneinander gelehnt. Ein Seufzen, das aus dem Urgrund ihrer Seele zu kommen schien, hob ihre Brust. Ein Zurück war nicht mehr möglich. Aber ein Vorwärts schien es für sie auch nicht mehr zu geben. Lediglich ein Wandeln im grauen Jetzt, unterbrochen nur von Momenten wie diesen, selten genug, in denen sie mehr träumte als wach war.


    Sim-Off:

    meins :]

  • Anfangs drängte es ihm in der Brust, wenn das Gestein so wegsprang, der graue Wald sich unter ihm schüttelte und der Nebel die Formen bald verschlang bald die gewaltigen Glieder halb enthüllte; die Welt scheint ihr nicht real zu sein. Taufunkelnde Perlen hängen an silbrigleuchtenden Gebilden, Blätter des Tags, fremdartig anmutende Gewächse des Nachts, deren Beschaffenheit es ihnen zu ermöglichen scheint, den Mondschein nicht nur zurückzuwerfen, sondern einen eigenen, eigentümlichen Glanz auszubreiten. Und überall die Tropfen, wie kleine blitzende Edelsteine verzieren sie, wo sie sich ihren Platz gesucht haben. Eine Hand hebt sich, zitternd; feingliedrige Finger bewegen sich so vorsichtig vorwärts, als ob die Luft ein spürbares Gewebe wäre, an dem man sich vorwärts tasten könnte; verharren schließlich regungslos. Siv musterte ihre Hand, als ob sie etwas Fremdes wäre, nicht zu ihr, ihrem Körper gehörig. Im schimmernden Mondlicht, das immer wieder gebrochen wurde von nach wie vor stumm dahinjagenden Wolken, wirkten auch ihre Finger so, als seien sie etwas anderes. Müde davon, ein Teil von ihr zu sein, hatten sie sich gelöst von ihr, um sich zu wandeln, Teil der Welt zu werden, die sie gerade umgab, so anders, dabei aber auf so fremdartige Weise schön, dass Siv sich schmerzlich danach sehnte, es den Blättern und ihren Fingern gleichtun zu können und ein Teil davon zu werden. Die Welt, aus der sie kam, die sie für wenige kostbare Stunden hinter sich gelassen hatte, hielt derzeit kaum etwas für sie bereit; es drängte in ihm, er suchte nach etwas, wie nach verlornen Träumen, aber er fand nichts. Es war ihm alles so klein, so nahe, so naß; er hätte die Erde hinter den Ofen setzen mögen. Ihre Welt schien klein und grau und trist. So ganz anders als diese… Einem Windhauch gleich bewegen sich die Finger wieder, wie auf eigenen Wunsch. Gleiten sacht über Gebilde, seltsame Blüten, die diese Welt treibt, ohne sie zu berühren. Spiegelungen brechen sich tausendfach in Diademen, so winzig, dass sie mit bloßem Auge nicht als solche zu erkennen sind. Nur leichtes Prickeln auf der Oberfläche ist da, ein Beben, dass das Schimmern noch verstärkt.


    Sie Er begriff nicht, daß er so viel Zeit brauchte, um einen Abhang hinunterzuklimmen, einen fernen Punkt zu erreichen; er meinte, er müsse alles mit ein paar Schritten ausmessen können. begriff nicht, wie ihr Leben, ihre Welt, sie selbst sich so hatte verändern können. Wo war das Mädchen von früher? Sie wusste es nicht. Es war verschwunden, hatte sich aus dem Staub gemacht, klammheimlich, irgendwann in den letzten Monaten – oder waren es schon Jahre? Wann hatte sie begonnen, sich zu verändern? Auch das wusste sie nicht. Sie wusste nur, dass sie allein war, sogar von sich selbst verlassen, hängend im luftleeren Raum zwischen Vergangenheit und Zukunft, den Menschen verloren, der sie gewesen war, den Menschen noch nicht gefunden, der sie werden würde. Nur manchmal, wenn der Sturm das Gewölk in die Täler warf und es den Wald herauf dampfte, und die Stimmen an den Felsen wach wurden, bald wie fern verhallende Donner und dann gewaltig heranbrausten, in Tönen, als wollten sie in ihrem wilden Jubel die Erde besinnen, und die Wolken wie wilde, wiehernde Rosse heransprengten, und der Sonnenschein dazwischen durchging und kam und sein blitzendes Schwert an den Schneeflächen zog, so daß ein helles, blendendes Licht über die Gipfel in die Täler schnitt; oder wenn der Sturm das Gewölk abwärts trieb und einen lichtblauen See hineinriß und dann der Wind verhallte und tief unten aus den Schluchten, aus den Wipfeln der Tannen wie ein Wiegenlied und Glockengeläute heraufsummte, und am tiefen Blau ein leises Rot hinaufklomm und kleine Wölkchen auf silbernen Flügeln durchzogen, und alle Berggipfel, scharf und fest, weit über das Land hin glänzten und blitzten riß es ihm in der Brust, er stand, keuchend, den Leib vorwärts gebogen, Augen und Mund weit offen, er meinte, er müsse den Sturm in sich ziehen, alles in sich fassen, er dehnte sich aus und lag über der Erde, er wühlte sich in das All hinein, es war eine Lust, die ihm wehe tat; oder er stand still und legte das Haupt ins Moos und schloß die Augen halb, und dann zog es weit von ihm, die Erde wich unter ihm, sie wurde klein wie ein wandelnder Stern und tauchte sich in einen brausenden Strom, der seine klare Flut unter ihm zog.

  • Nebelschwaden hüllen sie ein. Umschmeicheln sie. Machen sie schließlich schwerelos. Sehnsucht tut das ihre dazu, eine Sehnsucht, so tief, dass sie nicht auszuloten ist. Törichtes Mädchen. Sehnsucht… Dummes, törichtes Mädchen. Sehnsucht füllt sie aus, ihr ganzes Sein. Ja. Dumm war sie, dumm und töricht. Wie hatte sie sich verlieben können, auf diese Art, in diesen Mann? Wie hatte sie es soweit kommen lassen können… weil sie dumm war. Töricht. Sehnsucht. Tief wie die dunklen Wälder ihrer Heimat. Gewaltig wie das geheimnisvolle Meer, das ihr hier so viel näher ist. Endlos wie der weite Himmel, der überall der gleiche ist und doch überall anders. Sie verliert sich in ihr, in dieser Sehnsucht. Nie hatte sie solche Gefühle gekannt, nie hatte sie dieses Sehnen empfunden, dieses Sehnen nach Nähe, nach der Nähe eines bestimmten Menschen. Seiner Nähe. Sehnsucht, gewoben aus silbrigweißer Unendlichkeit. Sie umgibt sie, weich, nachgiebig, und gleichzeitig unzerstörbarer als Stein. Zarte Finger fremdartiger Geschöpfe, nicht zu sehen in der Sehnsucht, die sie gefangen hält, berühren ihre Haut, hinterlassen feuchte Spuren darauf. Hinterließ der Nebel seine Spuren auf ihr, oder waren es doch Tränen, die ihr die Wange hinunter rannen, ohne dass sie es merkte? Ewigkeit kann auch Sekunden währen. Dieser Moment ist Ewigkeit. Sie schwebt. Gleitet durch Gebilde, zu zart, um sie berühren zu können, würden sie doch selbst beim geringsten Hauch in ihre Richtung zerspringen. Filigrane Wesen, und überall glitzernde Punkte, schimmernd, leuchtend, strahlen auf und verglühen dann wieder, getrennt voneinander und doch vereint in einem unbekannten Tanz. Ewigkeit. Sehnsucht ist Ewigkeit. Das Sehnen in ihr war so stark, dass es weh tat. Verstärkt noch durch das Wissen, dass es vergebens war. Unbeantwortet bleiben würde. Die Welt ist so faszinierend. So fremd, so anders, so… schön. Sehnsucht wirft ihren eigenen Schatten und verwandelt, was sie berührt, aber wenn er verschmilzt mit den Schatten der Nacht und der Träume, entsteht neues. Und neues zeigt sich ihren Augen, suchend nach nur Einem, aber offen für so vieles. Sehnsucht – treibende Kraft hinter allem Wandel. Hauchfeine Knospen treibt der süße Schmerz tief in der Brust, die bald schon erblühen, in zartesten Farben, wie nur sie sie hervorbringen kann – sie, die Sehnsucht. Schmerz ist fruchtbarer Nährboden für seltene Samen, und seltene Gewächse zeigen sich ihr, sichtbar für die Augen nur, weil offen das Herz. Offen war ihr Herz, so offen – und so verwundbar. Sie wollte nicht verwundbar sein, wollte nicht verletzt werden, aber verschließen konnte sie ihr Herz auch nicht, nicht mehr. Den Punkt, an dem sie es noch gekonnt hätte, hatte sie hinter sich gelassen, als sie sich eingestanden hatte, dass sie ihn liebte. Bittersüße Sehnsucht ließ nun nicht mehr zu, dass sie es schloss. Und wenn sie ehrlich war, wollte sie es auch gar nicht. Bittersüße Sehnsucht… Törichtes Mädchen. Dummes, törichtes Mädchen.

  • Sehnsucht. Sie flüstert in ihr, wispert Worte wie Glas, fein, durchscheinend, schimmernd – und die Kanten geschliffen und scharf. Mit jedem Wort, dass die Sehnsucht spricht, jedem Atemzug, den sie tut, liebkost und verletzt sie zugleich. Siv ging weiter durch den Garten, schwebte in ihrer Vorstellung. Der Nebel hing dicht zwischen Sträuchern und Bäumen, waberte aber nur in Streifen am Boden entlang, da, wo die Flächen offen waren. Und ließ es dadurch tatsächlich so wirken, als ob Siv über den Boden glitt, so behutsam und verträumt, wie sie sich bewegte, ihr Oberkörper umspielt von blonden Haaren – hätte es denn einen Beobachter gegeben. Sie löste sich von den Bäumen und trat hinaus auf die Wiese, die den Teich umgab, ihre Füße mit traumwandlerischer Sicherheit sich bewegend, jede Unebenheit kennend.


    Plötzlich rissen die Wolken auf. Mondlicht tauchte den Garten in einen vagen Schimmer, Nebel leuchtete, unheimlich. Siv sog die feuchte Luft tief in ihre Lungen, spürte jede Faser ihres Körpers und fühlte sich dennoch so, als sei sie jemand anderes. Sie war sich selbst so fremd in diesem Augenblick, fühlte sich gefangen in sich, mit sich, konnte nicht sagen, wer sie wirklich war. Die Vergangenheit konnte sie nicht zurückholen, und was die Zukunft bringen würde, war ungewiss – aber die Gegenwart erschien ihr falsch, so falsch. Und die innere Zerrissenheit trieb sie in diese Welt, die sich ihr Unterbewusstsein selbst zurecht wob. Fluchtmöglichkeiten bot sie ihr, aber viel zu selten, und wirklich entrinnen konnte sie auch in ihr nicht – wie auch. Man konnte nicht fliehen vor dem, was man in sich trug. Und so ließ sie sich auf das Spiel ein, das Spiel mit dem Nebel, mit den Wolken, mit dem Mondlicht, zerfließt, lässt ihr Sein treiben und aufgehen in allem, was um sie ist. Zu funkelnden Tropfen gesellt sie sich, jeden einzelnen spürt sie, auf Strahlen silbrigmatt gleitet sie dahin, hinauf, weiter hinauf, tanzt mit den Sternen und sinkt wieder hinab, fällt durch Wolken, durch Nebel, wird empfangen von Armen, die sie zärtlich umschließen, versinkt in Gebilden, so fremd und zerbrechlich wie sie selbst. Aufgewühlt ist ihr Inneres, zerrissen, wund. Sie sehnt sich nach dem Himmel und zugleich nach dem Boden – Luft und Erde, Freiheit und Beständigkeit. Überwältigt von den Gefühlen, die auf sie einstürmten, blieb Siv stehen, drehte ihr Gesicht nach oben, sie trinkt das Mondlicht, ertrinkt darin, breitete die Arme aus und sank schließlich in die Knie. Aber es waren nur Augenblicke; und dann erhob er sich nüchtern, fest, ruhig, als wäre ein Schattenspiel vor ihm vorübergezogen - er wußte von nichts mehr.

  • Von nichts mehr wusste sie. Augenblicke waren es, in denen die Welt sich ihr öffnete, so sehr, dass sie zu vergehen meinte in der Tiefe, die sich ihr bot. Kostbare Augenblicke. Aber Augen-Blicke – nach einem Wimpernschlag vorbei. Lider heben und senken sich, und was sich den Augen zeigt, nachdem für einen winzigen Moment sich absolute Dunkelhaut gelegt hat über die Pupillen, ist eine erneut veränderte Welt. Wolken begannen, den Mond zu umhüllen, brachen seine Strahlen immer mehr, verbargen ihn zeitweise ganz, und tauchten alles in eine fast unheimliche Atmosphäre. Das Spiel ist vorbei. Die Worte schwebten durch ihr Bewusstsein und verhallten. Das Spiel, auf dass sie sich eingelassen hat. Mit dem Nebel. Mit den Wolken. Mit dem Mondlicht. Vorbei. Siv erhob sich wieder, langsam, unsicher, aufgewühlt und verstört. Sie begriff nicht, was gerade passiert war, wusste nur dass es sie mitgerissen hatte und leer und ausgelaugt zurückließ. Gegen Abend kam er auf die Höhe des Gebirgs, auf das Schneefeld, von wo man wieder hinabstieg in die Ebene nach Westen. Er setzte sich oben nieder. Es war gegen Abend ruhiger geworden; das Gewölk lag fest und unbeweglich am Himmel; soweit der Blick reichte, nichts als Gipfel, von denen sich breite Flächen hinabzogen, und alles so still, grau, dämmernd. Es wurde ihm entsetzlich einsam; er war allein, ganz allein. Er wollte mit sich sprechen, aber er konnte nicht, er wagte kaum zu atmen; das Biegen seines Fußes tönte wie Donner unter ihm, er mußte sich niedersetzen. Es faßte ihn eine namenlose Angst in diesem Nichts: er war im Leeren! Er riß sich auf und flog den Abhang hinunter.



    Allein war sie. Einsam. So einsam… Ein Atemzug hebt ihre Brust. Ein dumpfer Schlag lässt ihre Brust erbeben. Luft streicht durch hauchdünne Kanäle, weitet sie, sucht sich einen Weg, immer weiter, immer weiter, bis in feinste Verästelung. Blut rauscht durch ihre Adern, vorwärts getrieben von einer Macht, der es nichts entgegenzusetzen hat. Ein weiterer Schlag, fein und doch kraftvoll wie ein Glockenton klingt er in ihr, lässt ihre Nerven vibrieren. Siv ließ sich erneut zu Boden gleiten, am Ufer des Teichs. Schillernd jagten winzige Wellen über die Oberfläche, gehetzt vom erbarmungslosen Wind. Tropfen perlten in Miniaturschaumkronen und spritzten nach allen Seiten, wann immer die Wellen sich brachen. Siv saß regungslos da, blickte auf das Wasser und doch ging ihr Blick hindurch. Einsamkeit schwappte, den Wellen gleich, über sie hinweg. Und in dieser Einsamkeit dröhnte jeder ihrer Herzschläge, jeder ihrer Atemzüge in ihren Ohren. Namenlose Angst… Ein Schluchzen wollte sie schütteln, und sie sprang auf, breitete die Arme aus und öffnete den Mund um zu schreien, aber kein Laut kam über ihre Lippen. Sie suchte die Finsternis in sich zu vertreiben, suchte einen Weg zu finden, der sie herausführte, aber sie war blind, taub, gefangen in sich selbst, unfähig die Flucht zu ergreifen vor dem, was in ihr war. Unfähig zu fliehen vor sich selbst. Es war finster geworden, Himmel und Erde verschmolzen in eins. Es war, als ginge ihm was nach und als müsse ihn was Entsetzliches erreichen, etwas, das Menschen nicht ertragen können, als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm.

  • Die Finsternis war auf einmal nicht mehr nur in ihr – sie schien sich auszubreiten. Der Mond war untergegangen, und nur wenige Sterne waren noch am Himmel zu sehen – und deren Licht schien getrübt zu sein oder war verborgen hinter jagenden Wolken. Und Siv hatte das Gefühl, als lastete ein tonnenschwerer Druck auf ihr. Ihre Kehle wurde so eng, dass sie Mühe hatte zu atmen, und sie kniete auf dem Boden, nach vorne gebeugt, stützte den Oberkörper mit den Armen ab und rang nach Luft, während sie gleichzeitig von einem Schluchzer nach dem nächsten geschüttelt wurde. Die Finsternis wird dichter, immer dichter. Schließt sich wie ein Ring um sie, greift mit spinnenfädrigen Fingern nach ihr – zartstreichelnd sind die Berührungen, ein Hauch nur. Doch Eiseskälte breitet sich aus, wo immer sie ihr Inneres streifen. Ihre Seele selbst zieht sich zusammen, und doch bricht Stück um Stück unter dieser Kälte, diesem Druck.


    Langsam sank Siv auf die Seite, während die Tränen immer noch heiß und heftig, aber lautlos flossen. Einsamkeit und Sehnsucht schienen sie nicht mehr loslassen zu wollen, schienen ein Teil von ihr zu werden, genauso wie dieser Schmerz, der nicht weichen wollte. Immer tiefer fällt sie in die Finsternis, nichts mehr sieht sie, hört sie, spürt sie – außer Einsamkeit. Sehnsucht. Schmerz. Die Finsternis ist aus ihnen gemacht, und unendlich sind sie. Und sie fällt weiter. Sie konnte nicht dagegen ankämpfen. Mit der Faust schlug sie auf den Boden, einmal, zweimal, dreimal, würgte an den Tränen, an den Schluchzern, versuchte verzweifelt, einen Weg zu finden aus dem Strudel an Leid, der sie immer weiter dem Abgrund entgegen riss, aber sie konnte es nicht. Zu tief saßen die Gefühle, die sie an diesen Punkt geführt hatten. Dummes Mädchen. Eine Stimme höhnte. Ihren Körper schien es nach oben zu schleudern, als Siv heftig den Kopf hochriss und sich wild umsah in der Dunkelheit. So real war ihr die Stimme erschienen, die den bitteren Spott nur in ihr selbst verbreitete, dass sie meinte, es müsste tatsächlich ein Mensch da stehen. Dummes, törichtes Mädchen.


    Und die Stimme hatte Recht. Dumm war sie. Töricht. Erbärmlich. So erbärmlich. Die Stimme verhöhnte sie weiter, stichelte und schürte den Schmerz zu heißglühenden Funken, die in ihr wilde, zerstörerische Blüten trieben und sie nicht zur Ruhe kommen ließen. Ihre Brust verengte sich und ihr Magen revoltierte, während sie sich erneut zusammenkrümmte und heftige Schluchzer ein ums andere Mal Besitz ergriffen von ihr. Ein dumpfer, physischer Schmerz begann in ihrem Kopf zu pochen und breitete sich langsam aus, aber sie schien nicht in der Lage zu sein, aufzuhören. Dumm. Töricht. Erbärmlich. Bei jedem Wort, das ihr wie gesprochen erschien, zuckte sie zusammen wie unter einem Schlag. Hoffnung war etwas für Naive, für Träumer, für Unverbesserliche. Die Welt war anders, war nicht gemacht für Menschen dieser Art. Träumerin. Sie? Eine Träumerin? Träumerin. Hart war die Stimme, anklagend, fauchend. Scherbenvoll klingt sie, die Stimme, scharfkantig, reißzahnbewehrt und klauenversehen. Blinkende Klingen blitzen in ihr, blutrünstig, lüstern nach Schmerz. Und sie hört nicht auf, die Stimme, flüstert und wispert, hat es nicht nötig, sich mehr zu erheben, die Waffen, die sie trägt, sind am wirksamsten leise. Tönende Schlingen spinnen die Worte, ein Netz, in dem sie gefangen ist, wehrlos, hilfos, ausgeliefert. Klingende Klingen. Ihr Inneres blutig und zerfetzt. Erbärmlich fühlte sie sich. Erbärmlich war sie. Aber Erbarmen kam nicht.

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