triclinium | Cottas Ankunft

  • Leone ließ es sich tatsächlich nicht nehmen, Cotta selbst ins triclinium zu führen. Die Tür zum Garten stand offen, so daß ein leichter Wind hereinwehte. Es war angenehm kühl hier und die bequenmen clinen luden geradezu zum ausruhen ein. "Es wird sofort ein Imbiß gebracht werden, dominus Cotta. Bitte ruh Dich nur aus, es wird für alles gesorgt." Dann beeilte er sich, an die Tür zurückzukommen, denn er erinnerte sich sehr gut an die Standpauke von dominus Corvinus, daß er gefälligst immer an der Tür zu bleiben hätte.

  • Siv folgte den Männern, an dem Jungen vorbei zum Atrium und hindurch. Sie wusste, welche der Räume von Aurelius Cotta bewohnt worden waren, als er noch hier gewesen war, und da niemand so recht gewusst hatte, wann er von seiner Reise zurückkommen würde, waren diese nicht nur nicht anderweitig genutzt, sondern auch regelmäßig in bewohnbarem Zustand gehalten worden, was bedeutete, dass sie dort nicht sonderlich viel würde machen müssen. Über Gesicht flog ein sarkastisches Schmunzeln. Die Räumlichkeiten würden den Ansprüchen des Römers dennoch wohl kaum genügen im Moment, so wie sie ihn einschätzte. Sie hatte für sich bereits entschieden gehabt, wo sie ihn am besten hinbringen würde, aber Leone war ihr, ob beabsichtigt oder nicht, ins Wort gefallen und hatte die Entscheidung getroffen, und Siv musste sich erneut einen Kommentar verbeißen, diesmal einen mürrischen. Sollte sie sich nun um den Römer kümmern oder nicht? Sie hätte ihn zum Xystus gebracht. Die Terrasse eignete sich am besten, um seinen Forderungen gerecht zu werden – an der frischen Luft und schattig, im Gegensatz zum Garten standen dort bereits Klinen, auf die er sich sofort niederlassen konnte, und der Weg zur Küche war von dort auch nicht weit, was hieß, dass die gewünschte Erfrischung nicht lange auf sich warten lassen würde. Aber Leone hatte zwar nach jemandem rufen lassen, schien aber trotzdem selbst entscheiden zu wollen – womöglich traute er ihr inzwischen auch nicht mehr über den Weg. Sie blieb lange genug hinter ihnen, um zu sehen, wo Leone sie hinbrachte – ins Triclinium. Siv rebellierte innerlich dagegen, hätte sie doch selbst viel lieber die frische Luft und die Atmosphäre auf der Terrasse genossen, die zu jeder Tageszeit von einem Gemisch aus Sonnenlicht und Schatten in unregelmäßigem Wechsel überflutet war und wo ein steter, angenehmer Luftstrom die Hitze erträglich machte.


    Mit einem unterdrückten Seufzen löste sie sich von der Gruppe und brachte die Gepäckstücke zu den Räumen Cottas, dann schnappte sie sich den Bengel, der gerade davon flitzen wollte, um sich umzuziehen – oder etwas neues anzustellen. "Such Dina. Sag, sie herrichtet Zimmer von Cotta, soll herrichtet." Danach blieb sie für einen Moment stehen und überlegte. Leone war eigentlich deutlich gewesen, aber Leone war auch nur ein Sklave, ebenso wie sie – und sie wollte es vermeiden, Corvinus unter die Augen zu treten. So sehr sie sich wünschte, dass alles wie früher sein könnte, so wenig gefiel ihr, wie es jetzt war. Allein der Gedanke, zu ihm zu gehen, so wie er sich ihr gegenüber verhielt im Moment, löste fast körperliches Unwohlsein in ihr aus. Darüber hinaus hatte sie selbst in der kurzen Zeit an der Porta schon gemerkt, dass ihr die Gesellschaft des Römers und seines Sklaven gefiel – auch wenn sie das nicht zugeben wollte. Es lag schlicht daran, dass die beiden nicht wussten, was vorgefallen war, dass sie nichts ahnten von ihrem Fluchtversuch und dementsprechend auch nicht voreingenommen waren ihr gegenüber, sie für undankbar halten konnten, weil sie es versucht hatte, oder dämlich, weil sie sich hatte erwischen lassen – ohne dabei eine Ahnung zu haben, was wirklich in ihr vorgegangen war, oder sich auch nur dafür zu interessieren. Und so war die Entscheidung rasch getroffen, um was sie sich zuerst kümmern würde. Es dauerte nicht lange, bis sie Triclinium auftauchte, ein Tablett mit Wasser und Obst balancierend. "Was du möchtest noch? Auch Wein? Und Essen, nur leicht wie Obst, oder mehr?"

  • Während Leone auf meine Worte hin erneut sein - zweifellos gut gemeintes - geschäftigtes, aber auch ein wenig geschwätziges Treiben begann, rauschten seine Worte nur so an mir vorbei, und Sterne, die vor meinen Augen zu tanzen begannen, vermischten sich mit dem Muster des Fußbodens. Ich bemerkte nicht einmal wirklich, dass Leone irgendwann in das Innere der villa ging; ob es ein leichter und diskreter Stoß von Maron war, der mich schließlich dazu brachte, dem Nubier zu folgen, oder doch noch ein Impuls meiner selbst - ich weiß es nicht.


    Keine Erinnerungen habe ich auch an den Weg durch die villa Aurelia in Roma, hatte keinen Blick für eventuelle Veränderungen. So richtig zu mir kam ich erst wieder, als ich auf einer cline im triclinium lag. Zweifellos hatte Leone gute Gründe gehabt, mich gerade hierher zu führen; der Raum entsprach ja auch weitestgehend den Kriterien, die ich ihm an der porta genannt hatte. Als ich aber nun da lag und mich schon ein wenig erholt hatte, kam mir aber der Gedanke, dass der xystus eigentlich ein noch passenderer Ort gewesen wäre; außerdem fühlte ich mich hier im triclinium ein wenig wie auf dem Präsentierteller, obwohl gerade keine Mahlzeit anstand. Ich verzichtete jedoch auf jede Kritik, denn ich sagte mir, dass ich sicher bald in mein cubiculum gehen könne; darüber hinaus bedauerte ich den patzigen Ton, den ich zuvor im Eingangsbereich angeschlagen hatte, und wollte mich nun besser beherrschen.


    Aus meinen Überlegungen wurde ich gerissen, als die Sklavin, die von Leone an der porta als "Siv" angesprochen und instruiert worden war, das triclinium mit Wasser und Obst betrat. Ich konnte mir denken, dass Maron von der schlanken, blonden Frau sicher kein Auge gelassen hatte; mir aber war sie nur am Rande aufgefallen, was sicher mit meiner Erschöpfung zusammenhing. Jetzt aber fiel mir wieder ein, dass sie an der porta irgendetwas in einer fremden Sprache, vermutlich ihrer eigenen, gesagt hatte, und dieser Klang hatte mich an Cadhla erinnert, die ich auch in der großen Wüste nie vergessen hatte. Auf die Frage der Sklavin Siv, ob ich noch etwas wünsche, antwortete ich:


    "Für mich sind Wasser und Obst ganz ausreichend, danke! Aber bring meinem Sklaven Maron hier noch etwas Wein dazu, Brot und Käse!"


    Dabei deutete ich auf meinen Leibsklaven, der sich treu und diskret und aufopfernd immer um mich bemüht hatte und für den die Anreise nach Roma sicher noch anstrengender gewesen war als für mich. Doch ich wollte nicht, dass Siv sofort ging; der Klang ihrer eigenen Sprache, die in meinen Ohren Ähnlichkeit hatte mit der Cadhlas, hatte mir diese mir ansonsten unbekannte Sklavin sofort sympathisch gemacht. Ich musste lächeln und fragte sie:


    "Sag einmal, Siv, bist du auch eine Schildmaid?"

  • Siv stellte das Tablett auf einem Tisch neben der Kline ab, auf der der Römer lag, und schenkte etwas von dem Wasser in den Becher ein, den sie mitgebracht hatte. Sie sagte nichts auf das, was der Römer noch verlangte, konnte sich aber nicht verkneifen, diesem Maron einen Blick zuzuwerfen, der jedoch nur schwer deutbar war. Wenn er auch ein Sklave war, noch dazu ein aurelischer, dann konnte er sich in ihren Augen genauso gut selbst etwas holen. Aber sie hütete sich, zu widersprechen. Zum einen war es schlicht die Anweisung des Römers gewesen – was allein sie normalerweise selten davon abhielt, wenigstens ihren Unmut zu äußern –, aber zum anderen war sie momentan einfach in einer so niedrigen Position im Haushalt, dass sie sogar von den meisten der anderen Sklaven Anweisungen befolgen musste, was ein paar auch auszunutzen wussten. Maron schien der Leibsklave des Römers zu sein, und damit gehörte er ohne Zweifel zu den Sklaven, die sie derzeit herumschicken konnten. Siv unterdrückte ein Seufzen, als sie daran dachte, dass sie vor der Germanienreise ebenfalls Leibsklavin gewesen war, oder hatte werden sollen. Sie war nicht unbedingt scharf auf die Aufgaben, die die Stellung mit sich brachte – sich dementsprechend zu verhalten, ihren Herrn zu präsentieren, bei Besuchen mitzukommen und schweigend zu warten, bei wichtigen Anlässen zu bedienen, ohne sich einen Fehler erlauben zu dürfen… sie arbeitete lieber, im Garten, im Stall, sogar im Haus. Aber im Vergleich zu jetzt hatte sie da wenigstens weitestgehend ihre Ruhe vor den anderen gehabt, denen, die missgünstig waren. Ganz abgesehen davon, dass zu dieser Zeit zwischen ihr und Corvinus noch alles in Ordnung gewesen war.


    Siv nickte also letztlich nur, als sie die Anweisung hörte, für Maron noch etwas zu holen – bevor sie aber tatsächlich wieder gehen konnte, ergriff Cotta abermals das Wort. Was er sagte, ließ sie innehalten – nicht nur, weil die Frage an sie gerichtet gewesen war, sondern wegen des Inhalts. Schildmaid… Diesen Ausdruck kannte sie nur in Verbindung mit Cadhla. Der Römer musste sie ja gekannt haben, immerhin war er kurz vor oder kurz nach Sivs Ankunft in der Villa Aurelia verschwunden. Cadhla… Erneut spürte sie, dass sie die Keltin vermisste. Egal, was sie von ihrer Aktion gehalten hätte, Siv war sich sicher, dass sie zu wenigen gehört hätte, die wirklich zu ihr hielten, so wie Merit. Langsam drehte sie sich um und musterte den Römer zum ersten Mal wirklich aufmerksam – und bei dieser ausgiebigeren Betrachtung fiel ihr auf, was sie, die sich mit Kranken und Verletzten auskannte, eigentlich schon auf den ersten Blick gemerkt hätte, hätte sie denn richtig hingesehen: dass der Aurelier nicht sonderlich gut aussah – tatsächlich wirkte er mitgenommener, als er es von einer Reise, auf der er sicherlich von Sklaven umsorgt worden war wie jeder Römer, hätte sein dürfen. Die Andeutung eines Runzelns huschte über Sivs Stirn, während sie den Kopf schüttelte. "Nein. Ich bin nicht eine Schildmaid." Das Wort kein kannte sie zwar, aber das war eine dieser kleinen Eigenheiten, die, einmal im Kopf festgesetzt, sich nur schwer wieder vertreiben ließen, und jedes Mal wenn Siv nicht bewusst darüber nachdachte, was sie sagen wollte, tauchte dies auf. "Nicht wie Cadhla", fügte sie noch hinzu, als sie daran denken musste, was die Keltin ihr einmal gesagt hatte – dass sie zwar keine Schildmaid sein mochte, was die Ausbildung, das Können an der Waffe betraf, aber dass sie das Herz einer Kriegerin hatte. So lang schien ihr dieser Tag schon her zu sein… Die Germanin biss sich kurz auf die Lippe und vertrieb die Gedanken, indem sie einen Schritt vortrat und dem Römer eine Hand auf die Stirn legte. Der Haaransatz war schweißfeucht, obwohl die Temperaturen im Haus angenehm waren, und erneut zogen sich ihre Brauen zusammen. "Du bist in Ordnung?"

  • Während Siv das Tablett für mich abstellte und mir Wasser in einen Becher eingoss, nahm ich die Gelegenheit wahr, die Sklavin nach dem auditiven Eindruck nun auch visuell genauer unter die Lupe zu nehmen. Einem in ganz bestimmter Hinsicht geübten Blick wie dem Marons fiel dabei sicher die liebliche Figur Sivs auf und ihre schönen Haare; ich aber erschrak. Natürlich konnte ich mich noch sehr gut an den Ankunftstag Cadhlas in der villa Aurelia in Roma erinnern, der auch für mich einer der ersten Tage in diesem Haus gewesen war - an ihren unbeugsamen Widerstand, an ihre funkelnden, kriegerischen Augen, an ihre stolze innere Zurückweisung ihrer neuen "Herren". Doch was ich hier in Sivs Augen zu lesen glaubte, war blanker und vor allem stummer Hass, ein Gefühl, das mehr war als irgendeine Emotion, nämlich nahende Gefahr.


    Nachdem ich endlich die ersten Schlucke Wasser hatte zu mir nehmen können, besserte sich mein fiebriger Zustand weiter, der sich schon merklich entspannt hatte, als ich mich hier auf die cline hatte legen können. Dies half mir, meinen Blick, der bei meinen Observationen Sivs schon schärfer auf die Sklavin gerichtet gewesen war, nun noch stärker auf sie zu fokussieren. Ich verfolgte jede ihrer Bewegungen und versuchte aus ihren Augen ihre Absichten zu erraten.


    Vorläufig aber ließ sich erst einmal wieder ihre Stimme vernehmen. Gleich nach meiner Frage war Siv deutlich anzusehen gewesen, wie das Wort "Schildmaid" sie in Erregung versetzte. Tausend Gedanken und Erinnerungen schienen durch ihren Kopf zu jagen, bevor sie mir endlich antwortete - auf eine Weise antwortete, die mein Misstrauen eher von Neuem bestärkte: Sie war also keine Schildmaid, jedenfalls keine wie Cadhla. Was für eine Art von Kriegerin war sie dann? Ich beschloss, das Gefährliche, nämlich das Stumme ihres Hasses aufzubrechen, indem ich weiter mit ihr redete:


    "Ich merke, dass du gerne über Cadhla sprichst, nicht wahr? Wie geht es ihr? Und du selbst? Woher kommst du? Und wenn du also keine Schildmaid bist: Was bist du dann?"


    Vielleicht war sie eine Art Krankenwärterin. Diesen Eindruck gewann ich jedenfalls, als sie gleich, nachdem sie meine erste Frage nach der Schildmaid beantwortet hatte, meine Stirn befühlte. An der Art, wie ihre Haut dabei an der meinen kleben blieb, merkte ich, dass ich immer noch sehr verschwitzt war, obwohl es hier im triclinium sicher sehr angenehm war. Ich hatte nun nicht vor, mein Leiden nach meiner Ankunft in der villa Aurelia in Roma als allererstes einer Sklavin zu offenbaren; ihr kenntnisreicher Blick belehrte mich aber auch darüber, dass ein völliges Leugnen lächerlich gewesen wäre.


    "Danke deiner Nachfrage! Die Reise hat mich ziemlich mitgenommen, aber sogar noch mehr das andere Klima, das hier im Vergleich zur Großen Wüste herrscht. Es ist hier viel feuchter; daran muss ich mich erst noch gewöhnen."


    Ich war mir überhaupt nicht sicher, dass sie mir das glauben würde. Andererseits hatte sie von ihrer zweifellos im Norden gelegenen Heimat her vielleicht auch nicht unbedingt die Kenntnisse, um meinen Zustand wirklich einwandfrei beurteilen zu können. Jedenfalls hoffte ich, bald in mein cubiculum gebracht zu werden, um aller Anfragen in diese Richtung fürs Erste ledig zu sein, und schickte Maron daher, nach meinem Zimmer zu sehen. Siv dagegen wollte ich aus dem erwähnten Grund des Aufbrechens ihres bösen Schweigens noch eine Weile in meiner Nähe behalten.

  • Siv hatte das Gefühl, dass der Römer sie betrachtete, intensiver als normal war, und sie begann sich etwas unwohl zu fühlen unter seinen Blicken – dass sie das Gefühl hatte, der Sklave beobachtete sie ebenfalls, machte es nicht gerade besser. Trotz erwachte in ihr, und Trotz spiegelte sich in ihren Augen wider, während sie den Blick des Aureliers erwiderte. Sie weigerte sich schlicht, zu der Liste der Menschen, in deren Gegenwart sie zuließ, dass ihr Unwohlsein überhand nahm, noch einen hinzuzufügen. Es brauchte seine Zeit, aber Siv begann, sich gegen den Schmerz in ihr zu wehren, gegen die Enttäuschung, gegen die Zurückweisung – sie begann, langsam wieder sich selbst zu entdecken, was vor allem über die Wut führte, die so schon oft ein Teil von ihr gewesen war. Und wie so oft zeigten sich ihre Emotionen in ihren Augen – sie hatte nie gelernt, zu verschleiern was sie empfand, und obwohl es ihr als Sklavin eigentlich Vorteile verschafft hätte und ihr Leben in Rom sie viel gelehrt hatte, war sie immer noch nicht fähig, ihre Gefühle zu verbergen. So zeigte sich auch ihre Überraschung, als er weiter fragte und wissen wollte, was sie war – bevor ein Anflug von Bitterkeit sich in ihre Augen und ihre Stimme schlich. "Sklavin", antwortete sie nur. "Ich bin Sklavin." Siv wusste durchaus, was Cotta gemeint hatte, aber er hatte gefragt, was sie war, nicht was sie früher gewesen war oder gerne sein wollte. Abgesehen davon hätte sie nicht wirklich sagen können, was sie gewesen war – sie hatte ihr Leben gelebt, sie hatte ihren Teil zum Leben und Überleben des Stammes beigetragen, hatte, wie viele Frauen, geholfen die Kranken und Verletzten zu versorgen, hatte sich um die Tiere gekümmert und vor allem versucht, um die Aufgaben herumzukommen, die sie nicht mochte – in der Hütte zu arbeiten, beispielsweise. Und sie hatte, wann immer sie konnte, versucht Zeit für sich herauszuschinden, die sie im Wald verbringen konnte, am besten auf einem Pferderücken. Um sich selbst von diesen Gedanken abzulenken, griff sie nach einem Kissen und schüttelte es auf, um es dem Römer anschließend zu reichen. "Cadhla nicht mehr ist hier. Sie ist in Hispania. In… Tarra… Tarro? Tarrak? Sie ist da für sein, werden Kämpferin. Gladiatorin. Sie will kämpfen für werden frei, irgendwann."


    Ihr Stirnrunzeln vertiefte sich bei seiner Antwort. Sicher mochte die Reise anstrengend gewesen sein, aber fiebrig wurde man nicht davon. Das Klima mochte ebenfalls belastend wirken – sie wusste nur aus Erzählungen, dass es in anderen Ländern viel heißer und trockener war als hier, aber sie kannte immerhin den Unterschied zwischen dem Wetter in ihrer Heimat und dem hier in Rom, und die für sie ungewohnt langanhaltende Hitze schlug ihr ebenfalls gelegentlich auf den Kreislauf. Auf der anderen Seite dauerten Reisen immer länger, so dass eigentlich die Gelegenheit gegeben war, sich wenigstens etwas zu akklimatisieren. Siv vermutete, dass der Römer sich auf der Reise irgendetwas eingefangen haben musste, irgendein Fieber vielleicht, so wie es auch im Winter häufiger vorkam. Die Zweifel an seinen Worten flackerten ebenfalls sichtbar über ihr Gesicht. "Ich kann helfen. Weiß, was hilft bei…" Sie machte eine vage Handbewegung. Sie wusste, was Fieber hieß, und die Wärme, die seine Stirn ausgestrahlt hatte, deutete auf Fieber hin, aber der Römer wollte davon offenbar nichts wissen. "… bei Erschöpfung. Wenn sein müde, von Hitze und Reise." Einen Aufguss aus Kräutern, die gegen Fieber halfen, konnte sie ihm auch machen, dafür musste sie nicht mit ihm darüber reden. Siv war in solchen Dingen ziemlich pragmatisch. Wenn jemand krank war oder verletzt, half sie – und so lange der Betreffende tat, was sie sagte, in diesem Fall also Cotta das Zeug trank und es ihm danach besser ging, konnte es ihr egal sein, ob er seine Erschöpfung auf die Reise schob.

  • Sivs Schweigen aufzubrechen, war mir gelungen, die verschlossene Bosheit in ihr dagegen nicht. Das zeigte sich mir deutlich, als sie meine Frage danach, was sie denn sei, wenn nicht Schildmaid, knapp und kalt damit beantwortete, sie sei Sklavin. Nein, so dumm war dieses Mädchen nicht, dass sie meine Frage nicht verstanden hatte, und an ihren Augen konnte ich klar erkennen, dass ihr bei ihrer Antwort tausend Erinnerungen an ein anderes Leben, eines vor der Sklaverei, durch den Kopf gingen. Trotz war es, Trotz und wahrscheinlich auch Hass, der sie zu ihrer Erwiderung trieb. Vielleicht war es das Fieber, aber in diesem Augenblick wäre mir fast der Geduldsfaden gerissen, und ich hätte ihr am liebsten, ganz gegen meinen üblichen Umgang mit Sklaven, eine Ohrfeige verpasst. Neben einem eigenen inneren Ruf zur Ordnung war es dann aber Siv selbst, die mich wieder besänftigen konnte, als sie mir ein aufgeschütteltes Kissen reichte und dann kurz über Cadhlas weiteren Weg berichtete.


    "Cadhla fehlt mir",


    sagte ich knapp, denn mich befielen in diesem Moment selbst viele Erinnerungen an die Keltin. Ich konnte dabei nicht umhin, sie mit Siv zu vergleichen. Auch bei Cadhla war ja immer dieser Stolz und dieser Widerstand zu spüren gewesen, aber als sie das eine Mal, an jenem Abend im hortus, die Möglichkeit gehabt hatte, mich zu beseitigen - es hätte wie ein Unfall ausgesehen - und dann zu fliehen, da hatte sie es nicht getan, sondern mir stattdessen liebevoll geholfen. Hilfe bot nun auch Siv an gegen meine "Erschöpfung", wie sie es so taktvoll nannte, die sie aber sicher schon als Fieber diagnostiziert hatte. Ich zweifelte auch gar nicht daran, dass sie sicher Mittel kannte, die meinen Zustand, wenn wieder ein Schub kam, lindern würden. Doch hatte ich allein schon bei diesem Gedanken ein ungutes Gefühl. Cadhla hatte aus einfachem Mitleid und aus Menschlichkeit geholfen; Siv würde helfen - um die Kontrolle zu bekommen?


    Ich nahm einige kräftige Schlucke Wasser und musste seufzen. Corvinus, der gute Corvinus, und die Sklaven, die er zum Sklavenkauf schickte - sie mochten zwar ein Händchen für die hübschesten Sklavinnen Romas haben, aber auf der anderen Seite wimmelte es nach solchen Einkaufstouren in der villa Aurelia immer vor aufmüpfigen servae. Es gab doch tausende zufriedene und ergebene Sklaven - Maron war freilich etwas ganz Besonderes -, die villa Aurelia aber schien ein Zufluchtsort der gefährlichen Sklaven zu sein. :D Bei diesen Gedanken musste ich unwillkürlich lachen.


    "Na, deine Heilmittel kannst du gerne einmal bei mir anwenden, Siv!"


    Würde schon schiefgehen.

  • Siv musterte den Aurelier, durchaus interessiert, wie er wohl reagieren würde auf ihre in manchen Augen freche Antwort. Sie war Sklavin, gerade in letzter Zeit war so einiges passiert, was ihr das schmerzhaft in Erinnerung hielt. Und so, wie sie sich momentan manchmal aufführte, wäre sie selbst zu Hause nicht durchgekommen – dieses Verhalten hätte kaum jemand geduldet. Für einen Augenblick hatte sie auch bei diesem Römer das Gefühl, es zu weit getrieben zu haben und nun die Rechnung serviert zu bekommen, in Form irgendeiner Strafe. Aber nichts kam, und als sie, etwas zögernd, von Cadhla erzählte, entspannte sich die Situation etwas – und Siv sah Cotta anschließend überrascht an, als dieser antwortete. "Ich auch", murmelte sie leise. Und wie sie sie vermisste. Sie hatte so wenige Menschen ihr, die ihr wirklich gewogen waren – darüber hinaus hatte erst Cadhla ihr gezeigt, welchen Wert eine Freundin hatte. Zuhause hatte sie fast nur mit ihren Brüdern und deren Freunden zu tun gehabt, mit Mädchen, generell mit Frauen, war sie nur selten in wirklich engeren Kontakt gekommen. Sie hatte es auch nie vermisst. Erst als sie die Keltin kennen gelernt hatte, hatte sie begriffen, dass eine Freundin auf eine andere Art für sie da sein konnte als Männer, egal ob es Freunde waren, Brüder, ihr Vater oder Ragin.


    Siv verdrängte die Gedanken an Cadhla schließlich. Die Keltin war nicht mehr hier, und wenn sie sie denn überhaupt jemals wieder treffen würde, dann wohl erst in ferner Zukunft, das wusste sie. Es hatte so wenig Sinn, sich jetzt darüber Gedanken zu machen … Es belastete sie nur. Sie konnte es nicht immer verhindern, aber in diesem Moment wollte sie sich keine Schwäche geben, nicht vor dem Römer, von dem sie nicht so recht wusste, was sie von ihm halten sollte. Auf der einen Seite stand ihr noch zu deutlich vor Augen, wie er sich an der Porta benommen hatte, und auch der kurze Augenblick gerade eben, in dem er ungehalten gewesen war von ihrem Verhalten. Auf der anderen Seite sprach er mit ihr. Interessierte sich für sie. Und er redete nicht auf die Art mit ihr, die sie eigentlich von ihm erwartet hätte, nach seinem Benehmen vorhin. Erneut musterte sie ihn, diesmal etwas nachdenklich, während er seinerseits darüber zu grübeln schien, ob er ihr Angebot annehmen sollte. Aber dann, bevor sie ungeduldig werden konnte, lachte er plötzlich. Siv war nicht wirklich klar, was er nun so lustig fand, aber dass er einwilligte, hielt sie davon ab, einen entsprechenden Kommentar von sich zu geben – der ihrer Position als Sklavin definitiv unangenemessen gewesen wäre. Stattdessen nickte sie. "Gut. Ich werde vorbereiten, später, was brauchen für dir." Einen Moment zögerte sie. Dann noch einen. Aber dann hielt sie es nicht mehr aus. Cadhla wollte ihr einfach nicht aus dem Kopf. "Du… du kennst Cadhla?"

  • Zwischen der Sklavin und mir entstand nun ein Augenblick der Stille, in dem wir beide offenbar jeweils mit unseren eigenen Gedanken beschäftigt waren. Während ich noch über die Renitenz der aurelischen Sklavinnen und die Vertrauenswürdigkeit ihrer Heilkünste ruhig vor mich hin philosophierte, war es jetzt Siv, die mich genauer in Augenschein nahm, vielleicht um anhand meines kranken Aussehens die Dosis der mir zugedachten Behandlung abzuschätzen; diese jedenfalls erwähnte sie noch kurz.


    Besonders aber schien es auch ihr Cadhla angetan zu haben, wie ich einer angedeuteten Bemerkung der serva und besonders einer Frage entnehmen konnte, die sie mir dann stellte. Ob ich Cadhla kannte? Ich musste lächeln, als ich die Frage vernahm, denn natürlich fiel mir sofort wieder unsere schließlich doch - unfreiwilligerweise - ziemlich enge Begegnung im hortus ein, bei der allerdings sie mich genauer kennengelernt hatte als umgekehrt ich sie. ^^ An die Stelle der Bilder jener kuriosen Begebenheit traten aber schon bald Erinnerungen an die Ankunft der Keltin in der villa Aurelia in Roma, kurz nach meinem eigenen - ersten - Einzug hier. Ich hob meinen Blick wieder zu Siv und gab den Bildern in meinem Kopf Worte:


    "Ich kannte Cadhla nicht mehr, als ein Römer eine Sklavin kennt... vielleicht ein bisschen mehr. Sie war voller Stolz, obwohl hier für sie zuerst alles neu und verwirrend war. Trotzdem war sie... bei all ihrem Stolz und trotz allem, was sie hatte erleben müssen, war sie ohne Groll geblieben."


    Redete man so über eine Sklavin? "Serva" - das war freilich der Stand der Cadhla nach unserem Gesetz gewesen. Eine Sklavin allerdings war diese Frau nicht einen Tag lang.


    "Ihr kanntet euch sicher besser?"


    In meiner Frage schwang die Hoffnung mit, die eisige Distanz zwischen mir und Siv nun endlich ein wenig zu durchbrechen; immerhin hatte ich in den Worten über Cadhla mehr über mich mitgesagt, als zwischen einem dominus und einer serva üblich war. Aber ich wollte mich ja auch unbedingt von dieser Siv behandeln lassen. ^^

  • Ob bewusst oder nicht, Cotta ließ ihr Zeit, ihn zu mustern, sagte nichts weiter zu seinem Gesundheitszustand oder dem, was sie dagegen zu tun gedachte. Siv hing ihren eigenen Gedanken nach, und erst als sie sich einen Ruck gab und nach Cadhla fragte, wandte er ihr erneut seine volle Aufmerksamkeit zu. Sivs Brauen zogen sich etwas zusammen, als sie die ersten Worte seiner Antwort hörte. Nicht mehr, als ein Römer eine Sklavin kennt… Natürlich nicht. Sklaven, mehr waren sie doch nicht für die Römer, für die meisten von ihnen. Was spielte es schon für eine Rolle, dass manche von ihnen es nicht immer gewesen waren? Dass sie ein anderes Leben geführt hatten, irgendwann mal? Dass sie keine Sklaven sein wollten, dass sie keine Sklavin sein wollte, und es im Herzen auch nicht sein würde? Siv fühlte sich hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, den Römer anzufauchen, und dem Wunsch, ihm weiter zuzuhören, zu hören, was er über Cadhla erzählen mochte. Sie konnte nicht genau sagen, ob sie schlicht zu lange wartete, oder ob sie sich bewusst dafür entschied, aber schlussendlich wurde Zuhören daraus, für den Moment zumindest. Ihre Augen sprühten, aber sie blieb still.


    Als der Römer mit einer Frage geendet hatte, blieb die Germanin immer noch still. Sie musterte ihn, versuchte aus ihm schlau zu werden – und schwieg. Sie war unschlüssig, was seine Worte wirklich bedeuteten – zum einen waren manche seiner Worte und sein Ton deutlich für sie, er sprach über eine Sklavin, nicht mehr. Auf der anderen Seite aber war da doch etwas, dass sie stutzen ließ. Klang Bewunderung in seinen Worten durch? Anerkennung? In jedem Fall beschrieb er Cadhla dann mit Worten, die auf eine Sklavin, so wie ein Römer eine Sklavin typischerweise sah, nicht so recht passen wollten. Und sie schwieg, weil sie sich unsicher war, was sie ihm tatsächlich erzählen sollte. Dass sie Cadhla besser gekannt hatte, weil sie beide Sklavinnen im selben Haus, desselben Mannes waren und daher zwangsläufig mehr miteinander zu tun gehabt hatten? Oder dass Cadhla die erste Freundin war, die sie in ihrem Leben gehabt hatte. Dass sie einer der wenigen Menschen in ihrem Leben war, die sie wirklich an sich herangelassen hatte? Siv sah schließlich zur Seite, wich dem Blick des Römers aus. Sie konnte nicht lügen, sie war noch nicht einmal wirklich gut darin, die Wahrheit auch nur zu schweigen, und so war, noch bevor sie auch nur ein Wort gesagt hatte, deutlich zu sehen, dass Cadhla ihr weit mehr bedeutet hatte als eine bloße Mitsklavin gewesen zu sein. "Wir gekannt, ja. Wir beide Sklavin, und wir… haben gearbeitet, zusammen." Sie zögerte kurz. Sie wusste nicht, ob sie davon, ehrlich zu sein, so viel hielt, weil sie eine schlechte Lügnerin war, oder ob es sich genau umgekehrt verhielt: dass sie miserabel log, weil ihr Ehrlichkeit so viel bedeutete. Sie wusste nur, dass sie, wann immer es ging, die Wahrheit sagte, selbst dann wenn sie ungebeten war – und unabhängig davon, wer ihr gegenüber stand. Bei all ihrer Abneigung gegen Römer, Siv machte da keinen Unterschied, hatte es selbst nicht zu jener Zeit, als in ihr noch heißer Hass und Verachtung für das römische Volk und vor allem dessen Soldaten gelodert hatten. Jetzt sah sie den Römer wieder an. "Cadhla ist Freundin, gesein… ge… geworden. Gute Freundin. Das, das ist wertig. Wert… Wertvoll, das ist es. Wenn man… Zu finden, so jemand. Auch wenn sie ist weg, jetzt."

  • "Cadhla", auch wenn es mir ganz widerstrebte, sie hier einzig und allein als eine Art Türöffner zu gebrauchen, schien bei Siv in der Tat genauso wie bei mir als Gesprächsthema einen Nerv getroffen und viele Erinnerungen wachgerufen zu haben. Diese konnten ich und die blonde Sklavin hier vor mir freilich nicht teilen, denn wir hatten zu unterschiedlichen Zeiten mit Cadhla in der villa Aurelia in Roma gewohnt, und während sie, Siv, wie sie zu Recht bemerkte, natürlich auch mit der Keltin gearbeitet hatte, war ich immer dominus gewesen - außer eben jenes eine Mal. Doch auch bei Siv schien da noch viel mehr zu sein; das sagten schon überdeutlich ihre Augen und am Ende auch eins ihrer Worte für Cadhla: "Freundin".


    Es hätte mir in dieser Situation natürlich nie und nimmer passieren dürfen, dass ich schluckte, und sofort griff ich wieder nach meinem Becher und tat so, als nähme ich daraus einen kräftigen Schluck, obwohl er schon beinahe leer war - alles, um meine Befangenheit zu überspielen. Eine "Freundin" hatte ich hier nämlich eigentlich nie gehabt, und ich beneidete die Sklavin vor mir fast schon um diese Nähe, die sie genossen, mir dagegen mein Stand und mein Geschlecht verwehrt hatte.


    Das Thema "Cadhla" eignete sich also vorzüglich dazu, den Nerv so einiger Bewohner der villa Aurelia in Roma zu treffen, jetzt, da die lebendige Cadhla nicht mehr hier weilte. Was mir allerdings wieder nicht gelungen war, war das Brechen des Eises zwischen mir und der Sklavin Siv. In diesem Moment jedoch störte mich dieses neuerliche Fehlgehen meiner Bemühungen nicht, gab es mir doch die Möglichkeit, von meiner eigenen Verlegenheit - und Einsamkeit - abzulenken und stattdessen Siv, ihre offensichtliche Aggressivität und vielleicht auch ihre eigene Einsamkeit in den Mittelpunkt zu stellen. Behutsam und zugleich mit vollem Risiko fragte ich daher:


    "Cadhla ist ja leider nicht mehr hier. Wer ist jetzt deine Freundin? Wer bemerkt deine Wut?"

  • Siv starrte Momente lang vor sich auf den Boden. Ihr war nicht wirklich wohl dabei, diesem fremdem Römer so viel Einblick in sich selbst gewährt zu haben durch das simple Geständnis, dass Cadhla ihre Freundin gewesen war – aber etwas anderes zu behaupten wäre für sie nicht in Frage gekommen. Weil ihr Blick gesenkt blieb, entging der Germanin die Reaktion des Römers auf ihre Offenbarung, aber es war fraglich, ob sie sie bemerkt hätte, hätte sie hingesehen, versuchte er doch, zu überspielen was er empfand. Erst als Cotta den Becher wieder absetzte, sah Siv, bedingt durch das Geräusch, hoch, und weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte, nicht einmal wusste, wohin mit ihren Händen, ergriff sie den Wasserkrug, um den leeren Becher aufzufüllen. Bevor sie aber dazu kam, sprach der Römer wieder – und Siv erstarrte mitten in der Bewegung. Ihr Kopf dagegen fuhr hoch und herum, und ihre Augen hefteten sich an seine. Eine Weile starrte sie ihn einfach an, bevor sie den Wasserkrug etwas tiefer sinken ließ. "Meine Wut?" Sie wusste, dass ihr ihre Gefühle leicht anzusehen waren, und in der Regel störte sie das nicht im Geringsten – aber es passierte ihr dann doch selten, dass fremde Menschen sie so einfach darauf ansprachen.


    Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Im ersten Moment wollte sie abstreiten, was er behauptet hatte. Wirklich wütend war sie ja auch nicht, nicht in diesem Augenblick, es war eher… eine Mischung aus verschiedenen Gefühlen, es war… Wut. Wut war auch da, das konnte sie nicht leugnen. Daran konnte sie sich festhalten, wenn es nichts mehr zu geben schien, was ihr sonst Halt gab. In der letzten Zeit hatte oft die Verzweiflung überhand genommen, zu oft für ihren Geschmack, aber sie hatte scheinbar auch nichts dagegen tun können. Erst jetzt begann sie sich langsam wieder an dem zu orientieren, was ihr ihr Leben lang geholfen hatte, wenn sie Schwierigkeiten gehabt hatte: Wut und Trotz und die ihr eigene Sturheit. Manches Mal hatten diese Gefühle ihr Leben noch viel schwieriger gestaltet, eigentlich fast jedes Mal, aber gleichzeitig hatten sie ihr auch geholfen, so dachte sie zumindest. "Es gibt… Freunde, hier. Gute Menschen." Sie antwortete bewusst ausweichend. Was sollte sie auch sagen auf seine Frage? "Merit-Amun. Brix. Fhionn." Sie zuckte die Achseln, während sie mit einer beherrschten Bewegung nun doch endlich Wasser nachgoss. Sie wusste einfach nicht, was sie davon halten sollte, und das machte sie nervös, was sich wieder darin zeigte, dass ihre Stimme einen leicht störrischen Ton annahm. "Wenn ich Wut habe… manchmal sie sehen. Manchmal nicht." Dann stellte sie den Krug ab und sah den Römer erneut an. "Wieso du denkst, ich habe Wut? Wieso du fragst?"

  • Dass Siv mir aus dem Krug in ihrer Hand meinen Becher mit Wasser auffüllte, entging mir angesichts dessen, was sich als Folge meiner Frage in ihrem Gesicht abspielte. Dort zeichnete sich nämlich nur allzu deutlich ab, dass meine Frage nicht ohne Wirkung geblieben war; ganz augenscheinlich stellte die Wut einen Schlüssel zu der Sklavin dar und das, weil sie wohl, wie vermutet, ein grundlegender Zug ihres Charakters war.


    Dass nicht nur der Gesichtsausdrucks Sivs meine Ahnungen bestätigte, sondern bald darauf auch in unmissverständlicher Weise ihre eigenen Worte und der Ton ihrer Stimme, vermochte mir allerdings keine Befriedigung zu verschaffen. Erst jetzt, als dies alles ausgesprochen wurde, merkte ich, dass ich meine Frage vielleicht gar nicht so sehr aus echtem Interesse an dieser serva gestellt hatte, wie ich mir vorgemacht hatte, sondern eher aus einer Art sportlichem Ehrgeiz heraus: Würde es mir gelingen, das Eis zu brechen? - Das war nun geschehen, doch wie sollte es weitergehen? Es war mir tatsächlich gelungen, in dem Mädchen etwas anzurühren, doch mehr hatte ich ja eigentlich gar nicht wissen wollen, eine tiefergehende Unterhaltung mit der Bediensteten nie angestrebt. Es wäre jetzt ein Leichtes gewesen, ihre Bemerkung über die "guten Menschen" hier in der villa Aurelia in Roma aufzugreifen und nach den beiden Namen zu fragen, die mir unbekannt waren, Merit-Amun und Fhionn. Doch da ich es nun einmal so weit getrieben hatte mit dieser Siv und sie so nervös, wie mir schien, vor mir stehen sah, mit vor Überraschung geweiteten Augen in die meinen starrend - da fühlte ich auf einmal so etwas wie Verantwortungsgefühl ihr gegenüber: Nein, sie sollte jetzt nicht einfach mein Spielzeug sein, an dem ich meine Menschenkenntnis ausprobieren wollte; wenn schon spielen, dann würde ich jetzt meinen eigenen Einsatz erhöhen:


    "Ich denke, dass du wütend bist, Siv, weil ich einen gereizten Ton in deiner Stimme höre, weil ich den Stolz und die Reserviertheit in deinen Bewegungen sehe und eine dunkle Glut in deinen Augen. Und weil mir das alles ein bisschen Angst macht. Möchtest du, dass ich vor dir Angst habe? Vielleicht ist es das, was du willst."


    Diese dunkle Glut, von der ich soeben gesprochen hatte - ich hatte sie wohl allzu oft in meinen eigenen Augen getragen, befeuert von Trauer, verdunkelt von Einsamkeit. Wie meine Augen wohl jetzt aussahen, mein Blick?

  • Was die Frage des Römers – und die Tatsache, dass er sie überhaupt gestellt hatte – in ihr auslöste, beschäftigte Siv nach wie vor. Ihre Gedanken kreisten um ihre Gefühlswelt, um ihre Situation, genauso aber auch darum, was er wohl bezwecken mochte mit seiner Frage. Sie musterte ihn, konnte in seinem Gesicht aber nicht wirklich lesen. Sie meinte so etwas wie Zufriedenheit aufblitzen zu sehen, in jedem Fall aber wirkte Cotta entspannt. Aber das mochte auch daran liegen, dass er nun Zeit gehabt hatte, sich etwas auszuruhen. Er schien einen Moment zu überlegen, wirkte nachdenklich, als sie ihre Gegenfrage stellte, und aus irgendeinem Grund ließ die kurze Wartefrist, die er ihr damit auferlegte, Siv noch angespannter werden. Sie hasste es, nicht zu wissen woran sie war. Und bei diesem Römer konnte sie beim besten Willen nicht einschätzen, was er bezweckte oder worauf er hinaus wollte. Ein wenig fühlte sie sich an Corvinus erinnert, der es ebenso meisterhaft verstand, sie im Unklaren zu lassen über das, was er im Sinn hatte. Vor allem am Anfang, als sie neu hier gewesen war, hatte sie oft gerätselt, wie er was meinte – und es schien generell vielen Römern zueigen zu sein, ihr Gegenüber erst dann über ihre Absichten und Gefühle in Kenntnis zu setzen, wenn sie es tatsächlich wollten. Die Germanin ertappte sich in diesem Moment bei dem Wunsch, dazu ebenfalls in der Lage zu sein, ebenfalls verbergen zu können, wie es in ihr aussah, und sei es nur, um sich nicht gar so hilflos zu fühlen in Augenblicken wie diesen, oder wenigstens dieses Gefühl der Unsicherheit etwas zurückgeben zu können – auch wenn sie davon vermutlich nichts merken würde.


    Sie sah Cotta an, und als er dann sprach, konnte sie abermals ihre Überraschung nicht verbergen. Er antwortete tatsächlich auf ihre Frage, und nicht nur das, er ging darüber hinaus – und gestand ein, dass sie, ihr Verhalten, ihm Angst machte. Ein bisschen. Aber das Wort war deutlich, und er verwendete es: Angst. Siv konnte nicht leugnen, dass dieses Eingeständnis ihr Genugtuung verschaffte. Sie konnte auch nicht verhindern, dass etwas davon in ihren Augen aufblitzte. Zwischenzeitlich war ihr Hass, ihre Verachtung für Römer abgeflaut – es blieb nicht ohne Folgen, dass sie nun schon so lange unter diesem Volk lebte, dass sie Menschen darunter kennen gelernt hatte, die sie mochte, die ihren Respekt errungen hatten. Aber die letzten Wochen, in denen sie beherrscht war von Verzweiflung und zunehmend dem Gefühl, kein Leben mehr haben zu können, mit dem sie zufrieden war, hatten wieder einiges dazu beigetragen, dass ihre Offenheit schwand. Und hatten diese Gefühle zumindest in den ersten Wochen, für sie atypisch, dafür gesorgt, dass sie sich wieder verschlossen hatte, nicht nur vor Römern, sondern auch vor den meisten ihrer Mitsklaven, so kam jetzt mehr und mehr ihr eigentliches Wesen wieder zum Vorschein: sie reagierte, wie sie immer schon auf Ablehnung, Zurück- oder Zurechtweisung von anderen reagiert hatte, um Schuldgefühle und den Schmerz in ihrem Inneren zu verdrängen – mit Empörung und Wut. Und für diesen Teil von ihr war es Balsam zu hören, dass der Römer Angst vor ihr hatte.


    Allerdings war sie keine 15 mehr – wo sie es wochenlang fertig gebracht hatte, für jemanden, auf den sie gerade wütend war, nur bissige oder streitlustige Kommentare übrig zu haben –, und die Zeit ihres unbändigen Hasses auf Römer war auch vorbei. Inzwischen war sie weit genug, sowohl ihren Zorn, meistens jedenfalls, einzudämmen als auch nicht mehr zu urteilen über einen Menschen, bevor sie ihn kennen gelernt hatte, nur weil dieser einem bestimmten Volk angehörte. Sie würde wohl immer voreingenommen sein, was Römer betraf, aber inzwischen versuchte sie zumeist, ihnen wenigstens eine Chance zu geben. Dazu kam noch etwas: ihr imponierte seine Ehrlichkeit. Sie hätte sich lieber die Zunge abgebissen als zuzugeben, dass ihr etwas Angst machte. Sie sah Cotta an, sah ihm in die Augen, konnte immer noch nicht wirklich sagen, was in ihm vorgehen mochte, was ihn zu dieser Aussage getrieben hatte. Er schien gespannt zu sein auf ihre Reaktion, und sie meinte auch etwas anderes zu sehen, konnte es aber nicht so recht einordnen. Erinnerung? Oder war so etwas wie Verständnis? Siv wusste es nicht, und nach einer kleinen Weile brach sie schließlich das Schweigen, mit blitzenden Augen. "Warum du hast Angst? Ich bin Sklavin. Ich kann nichts tun. Du bist Herr." Da war es wieder, das Temperament, das so oft ungefragt die Kontrolle übernahm. Siv biss sich kurz auf die Lippen, wollte sie ihn jetzt doch eigentlich nicht vor den Kopf stoßen, und sie fuhr fort, bevor er antworten konnte. "Ich weiß nicht, dass ich will du hast Angst. Ich… es ist, es tut gut. Wenn Römer hat Angst, vor mir. Da sind Römer, die ich will Angst haben. Du… bist Römer, aber ich dich nicht kennen." Was ihr Dilemma auf den Punkt brachte. "Aber ich nicht bin Wut, weil damit andere haben Angst. Ist… das ist manchmal ein angenehmes Ergebnis, aber… … ist nur was ist dann, manchmal."

  • Zitat

    Original von Siv
    "Warum du hast Angst? Ich bin Sklavin. Ich kann nichts tun. Du bist Herr."


    Sklaven qua Sklaven waren sicher weder zu großen Worten noch zu großen Taten fähig, und insofern hatte Siv natürlich Recht, wenn sie sagte, sie könne nichts tun. Dass Sklaven qua Menschen natürlich eine ganze Menge tun konnten - vom meuchlerischen Messerstich gegen ihre "Besitzer" bei Dunkelheit bis hin zu dem von der heilkundigen Siv doch sicher präferierten Giftmord - stand auf einem anderen Blatt. Solche Pläne setzten voraus, dass sich ein servus für sich selbst eben nicht mehr als Sklave definierte - der Spartacus des Aufstands war für sich selbst ein freier Mann gewesen -, und so weit war es bei unserer Siv offensichtlich noch nicht, und ich würde ihr selbstverständlich nicht den geringsten Hinweis in diese Richtung geben.


    Dass freilich auch Sklaven qua Sklaven zu Gefühlsäußerungen fähig waren, ließ sich an der nordischen Sklavin nach dem Eingeständnis meiner Furcht vor ihr gut beobachten. Wieder schien es mir das Gefühl der Wut zu sein, welches Siv nach ihrer offenbaren ersten Überraschung zu dominieren begann. In mir stieg allmählich der Verdacht auf, dass sie vielleicht alles, was ihr begegnete und etwas in ihr aufrührte, mit diesem einen Gefühl quittierte, das es ja so leicht machte, eigene Verletzungen und Trauer nicht zu spüren. - Da ich in unserem Gespräch nun einmal in die Rolle desjenigen geschlüpft war, der gleich einem Sokrates seltsame Fragen stellte, fuhr ich plötzlich fort:


    "Hast du denn soviel Trauriges erlebt, in deiner Heimat und vielleicht auch hier?"


    Immerhin hatte ihre Wut ja auch wieder für eine trotzige und zugleich mutige und ehrliche Antwort an mich ausgereicht, in der sie eingeräumt hatte, dass sie manche Römer durchaus gerne in Angst vor sich sehe, und vielleicht sogar auch mich.

  • Hätte Siv geahnt, was der Römer von ihr dachte, hätte sie geschwankt zwischen spöttischem Auflachen und wütendem Fauchen. In ihrer momentanen Stimmung hätte sie aber wohl schließlich letzterem den Vorzug gegeben. Sie definierte sich selbst mitnichten als Sklavin. Dass sie es so deutlich sagte, dass sie quasi darauf herumritt, sie sei Sklavin, hatte genau damit zu tun, dass sie sich selbst eben nicht so sah – dafür aber sehr genau wusste, dass es jeder andere hier tat, zumindest jeder Römer. Und dass es nichts gab, was sie dagegen tun konnte, nicht im Moment jedenfalls. Bei dem Satz Ich bin Sklavin schwang für sie immer, unausgesprochen, der Zusatz mit: für dich. Für die anderen. Gleichzeitig war es für sie die perfekte Antwort auf viele Fragen, wenn sie ihren Trotz verdeutlichen wollte. Genauso hatte sie früher reagiert. Nach einer der endlosen Diskussionen mit ihrem Vater, der ihr nicht erlauben wollte, sich in einer größeren Waffe als einem Dolch zu üben: Siv, holst du mal Albin?Was? Ich bin doch nur ein Mädchen! In den ersten Wochen, nachdem sie mit Ragin verheiratet worden war, in denen er eine bewundernswerte Geduld bewiesen hatte: Siv, du-Redest du mit mir? Ich bin doch nur deine Frau! Und jetzt hieß es: Du hast Angst? Ich bin nur eine Sklavin… Dass ihr dieser Trotz nicht im Mindesten weiterhalf, damals nicht und heute genauso wenig, hatte sie dabei bisher selten gestört. Was sie normalerweise störte war, wenn das Ziel ihres Trotzes oder Spotts nicht darauf reagierte, sich unbeeindruckt zeigte. Diesmal war sie allerdings froh darüber, dass ihr Gegenüber das Gespräch nicht einfach schlicht abbrach oder sonst wie signalisierte, dass er genug hatte von ihrem Benehmen. Sie wusste immer noch nicht, was sie von ihm, seiner Art oder seinen Fragen halten sollte, aber das Gespräch begann, interessant zu werden, und ihr auf eine gewisse Art und Weise wenn schon nicht zu gefallen, so doch zu reizen.


    Seine nächste Frage ließ sie wieder innehalten, für einige Momente. Sie hielt seinem Blick stand, und wieder flackerten Erinnerungen durch ihren Kopf. Wieder war da zunächst der Impuls, trotzig zu verneinen, abzustreiten, dass es etwas gäbe, was sie in irgendeiner Form belasten könnte. Aber diesmal zügelte sie ihre Zunge rechtzeitig, und nach kurzem Schweigen meinte sie: "Trauriges. Ungerechtiges. In Heimat, in Weg nach Rom, von römische Soldaten." Sivs Augen blitzten auf, in einer Mischung aus unterdrückter Wut und Angst, die sie jedes Mal ergriff, wenn sie an römische Soldaten dachte. An die Überfälle, die ihnen zu Hause das Leben schwer gemacht hatten, die so vielen, auch Ragin und einem ihrer Brüder, das Leben gekostet hatten, dann ihrem Vater – und ihr selbst die Freiheit. An die ersten Wochen in der Sklaverei. Was hatte Corvinus noch gesagt, irgendwann bei einem ihrer ersten Treffen? "Soldaten können sein wild." Ihr Mund verzog sich zu einem spöttischen Grinsen, mit dem sie die dunklen Erinnerungen verdrängen und vor allem nicht preisgeben wollte, aber Bitterkeit war fast zu einem noch größeren Teil da wie Spott, ohne dass es ihr bewusst wurde, und diese Mischung gab mehr preis über sie, als wenn sie einfach nur ernst geblieben wäre. "Hier… Römer sind anders. Nicht alle, aber hier, in Villa Aurelia, viele sind anders. Anders wie ich denke, davor. Warum du fragst?" Ob es ihr überhaupt zustand, diese Gegenfrage zu stellen, interessierte Siv herzlich wenig.

  • So vieles schien in der Sklavin Siv vor sich zu gehen auf meine Frage hin - und vielleicht nicht nur auf meine Frage hin, doch das blieb mir gänzlich undurchschaubar. Wenn ich in diesem Gespräch den Sokrates machte, dann gab sie die Rolle der Sphinx - oder gar der Pythia -, wobei ich mich des Eindrucks nicht ganz erwehren konnte, dass es ihr mit mir vielleicht ähnlich ging. Das wäre natürlich auch nicht verwunderlich gewesen, denn gerade die Maske eines Sokrates gestattete es ihrem Träger ja, unerkannt zu bleiben und stattdessen die Gesprächspartnerin mit sich selbst zu konfrontieren. Ich gestand es mir erst in den wenigen, sich aber dehnenden Augenblicken ein, in denen Siv auf meine Frage hin meinem Blick standhielt und doch noch schwieg, dass es wohl das war, was mich zu immer neuen Fragen an sie antrieb: der Wunsch, dieses trotzige, wütende, traurige Mädchen mit sich selbst zu konfrontieren. Und vielleicht war es auch das, was Siv schließlich dazu brachte, mir doch noch auf meine Frage zu antworten und dies auch noch der Wahrheit gemäß, wie mir schien.


    Es war immer das gleiche, was Sklaven auf diese und ähnliche Fragen erzählten, stockend meist und oft ohne sichtbare emotionale Beteiligung. Dies allerdings war hier in Sivs Fall anders, denn es gelang ihr nicht ganz, ihre Wut, ihren Abscheu und am Ende auch ihren Zynismus zu verstecken - einen Zynismus, der allerdings nur noch mehr auf eine tiefe Verzweiflung schließen ließ. Während ich ihren mir schon aus Cadhlas Mund nur allzu bekannten Andeutungen lauschte und sie dabei ansah - wobei ich diskret versuchte zu vermeiden, sie anzustarren -, kam mir der Gedanke, dass ich mich vorhin doch ein wenig in Siv getäuscht haben könnte. All die Gefühle, die ihre Worte begleiteten und untermalten, zeigten doch nur, wie wenig sie sich mit ihrem Schicksal hatte abfinden können und wie wenig sie sich selbst wohl auch als Sklavin sah. Und das konnte man ihr zweifellos nicht verdenken, war sie doch offenbar in Freiheit aufgewachsen und dann wie so viele andere von unseren Legionen durch Gewalt zur serva gemacht worden - eine Erfahrung, welche sie also doch durchaus gefährlich machte. Auf ihre Frage hin konnte ich daher ganz wahrheitsgemäß antworten:


    "Du weißt doch schon, warum ich frage. Ich fürchte mich vor dir, und ich möchte wissen, wieviel Grund ich dazu habe."


    Den sokratisch angehauchten Gedanken mit der Konfrontation mit sich selbst verschwieg ich dagegen lieber, weil Siv ihn wohl ohnehin nicht verstanden hätte - und auch, weil ich selber nicht so recht wusste, was ich damit genau vorhatte; ich war nun einmal nicht Sokrates. In puncto Furcht hatte mich aber schon ihre eigene Bemerkung über die "anderen Römer" hier in der villa Aurelia in Roma zufriedener gestimmt; ungewiss allerdings blieb, ob sie auch mich in diesen Kreis der "anderen, besseren Römer" einschloss. Die Soldaten dagegen schienen auch in ihrem Fall wieder einmal nicht zimperlich gewesen zu sein.


    "Was ist aus deinen Familienangehörigen geworden?",


    fragte ich behutsam und beugte mich ein wenig vor.

  • Wieder konnte Siv nicht sagen, was der Römer dachte in dem Moment, in dem sie von den Soldaten sprach. Er nahm seinen Blick nicht von ihr, ebenso wenig wie sie dem seinen auswich, aber entweder war er tatsächlich so gut darin, seine Gedanken zu verschleiern, oder aber sie war in diesem Moment schlicht zu beschäftigt mit den Erinnerungen, die ihr durch den Kopf gingen. Sie ließ selten zu, dass sie hochkamen, aber andererseits sprach sie auch selten über das, was ihr widerfahren war. Sie verdrängte es lieber, so gut es ging. Die Menschen abzuzählen, denen gegenüber sie auch nur andeutungsweise mehr geäußert hatte als ihre tiefe Abneigung gegen römische Soldaten zum Ausdruck zu bringen, dafür brauchte sie noch nicht einmal die Finger einer Hand. Sie biss ihre Zähne für Augenblicke aufeinander, während sie mit sich kämpfte, um die Erinnerungen unter Verschluss zu halten und damit auch die unterschiedlichen Gefühle, die sich durch dieses eine, durch die Wut, nicht lange bändigen ließen, wenn sie sie nicht wieder zurückdrängte, und aber es gelang ihr nur zum Teil.


    Auf ihre Frage hin erwiderte der Römer erneut, dass er sich fürchte, vor ihr. Aber dieses Mal verschaffte ihr das keine Genugtuung. Im Gegenteil, irgendwo in sich schien sie fast so etwas wie Trauer zu verspüren. Der brodelnde Zorn und der Trotz, die sie vorher empfunden hatte, waren größtenteils verraucht, als die Erinnerungen hochgekommen waren, und irgendwo darunter steckte ihr wahrer Kern. Und Siv war im Grunde kein Mensch, der wollte, dass andere Angst vor ihr hatten – oder sich daran freuen konnte. Sie wusste nichts zu erwidern auf seine Worte, suchte in sich wieder nach der Wut, die ihr vertraute Sicherheit geben würde, fand sie sich aber von ihr im Stich gelassen, wie so oft in den letzten Wochen. Stattdessen war da nur wieder dieses seltsame Stechen, das sie überallhin zu begleiten schien und nie ganz verschwand, und eine tiefe Verwirrung darüber, was aus ihr und ihrem Leben geworden war, das ihr jetzt, im Nachhinein, so einfach und überschaubar vorkam, bis sie Corvinus getroffen hatte. Seine nächste Frage traf mitten hinein in dieses Wirrwarr, das momentan ihr Inneres zu sein schien.


    "Meine Familie?" Ihre Brauen zuckten kurz zusammen, verzogen sich in einer schmerzhaften Linie, und sie presste die Lippen aufeinander. Dann zuckte sie in einer gezwungen wirkenden Bewegung die Achseln. "Ich weiß nicht. Brüder von mir leben, in Heimat. Oder vielleicht auch sind tot. Winter ist hart, in Germanien." Und sie wusste nicht, was der letzte den Menschen, die sie kannte von früher, gebracht hatte. "Mutter ist tot. Mann auch." Der Teil bereitete ihr am wenigsten Schwierigkeiten. Sie hatte ihre Mutter nie kennen gelernt, und erst hier in Rom, erst die Gespräche mit Cadhla hatten dazu geführt, dass sie so etwas wie Sehnsucht nach dieser Frau zu spüren begann. Und was Ragin betraf – er hatte ihr die Zeit gelassen, die sie brauchte sich daran zu gewöhnen, tatsächlich eine Ehefrau zu sein. Und er hatte ihr Freiheiten gelassen, mehr als üblich war. Sie hatte ihn schon früher als Kamerad zu schätzen gewusst, auch wenn er da mehr mit ihren älteren Brüder zu tun gehabt hatte, und mit ihm verheiratet, lernte sie ihn bald noch mehr zu schätzen, als guten Freund und als Mann. Aber geliebt hatte sie ihn nie. Daher hatte sie sein Tod zwar getroffen, und ein Teil von ihr vermisste ihn immer noch, aber eben wie einen Freund. Warum sie dann aber trotzdem weitersprach, war ihr selbst nicht so ganz bewusst. War es immer noch sein Geständnis, Angst zu haben, das etwas in ihr bewegte? War es die Tatsache, wie sanft sein Tonfall gewesen war? Was auch immer es war, sie ahnte es selbst nicht. Ihre Gedanken waren abgeschweift, und ihr Blick, der nun leicht an an seinem Gesicht vorbeiging, schien in weite Ferne zu schweifen. "Ein Bruder. Und mein Vater. Sind gegangen tot bei Überfall. Vater ist gegangen tot, bei ich bin gefangen von Römer."

  • Mittlerweile war mir wieder ein wenig heißer geworden, was gewiss nicht auf eine Veränderung der Außentemperatur in der urbs aeterna zurückzuführen war. An derartige Phänomene mittlerweile gewöhnt, griff ich einfach wieder zu meinem Becher mit Wasser und nahm einen großen Schluck daraus.


    Dabei vergaß ich Siv keineswegs, auch wenn diese mich zwischenzeitlich nicht mehr ganz so gerade heraus ansah, wie sie das fast die ganze Zeit über getan hatte, egal, was für eine Frage ich ihr gestellt hatte. Ich hoffte dabei natürlich nicht, dass daran etwa das erneute Eingeständnis meiner Angst vor ihr schuld sein könnte, dass dadurch gar etwas in ihr Schlummerndes, Böses geweckt worden war, welches ich doch hatte besänftigen wollen, dass ich die gute Siv also am Ende noch auf umstürzlerische Gedanken brachte. Ihre Worte an mich zerstreuten dann aber meine diesbezüglichen Bedenken doch einigermaßen, allerdings machten sie mich auch gleichermaßen nachdenklich und traurig. Ich ließ mir daher ein wenig Zeit, bevor ich sagte:


    "Praktisch deine ganze Familie hast du verloren - oder sie ist dir von Römern genommen worden. Und ausgerechnet in einem ihrer Häuser musst du nun leben."


    Diese Worte hatte ich unwillkürlich mit gesenktem Blick zu ihr gesagt; als sich mein Mund wieder schloss, hob ich unverzüglich wieder meine Augen auf zu ihr, doch meine Nachdenklichkeit war noch nicht an ihr Ende gelangt. Natürlich wusste ich nichts darüber, wie gut oder wie schlecht sich Siv mit ihrer Familie verstanden hatte, aber immerhin war sie mit ihren Angehörigen zusammen aufgewachsen, hatte ihre Kindheit verbracht und harte Zeiten gemeistert wie den strengen germanischen Winter, den sie selbst erwähnt hatte. All dies hatte man ihr genommen, und bei den römischen Aggressoren musste sie nun eine Art neue Heimat finden und Menschen, die ihre Wut sahen und das, was dahinter war. - Mir war natürlich klar, dass ich als einer ihrer domini dabei keine Hilfe würde sein können, und deshalb wollte ich meine Gedanken über sie jetzt auch nicht vor ihr äußern; ich lenkte daher das Gespräch jetzt zu einem Punkt, der mich bei Sivs Antwort sehr überrascht hatte - und auch ein bisschen getroffen:


    "Du bist doch noch sehr jung - und hattest schon einen eigenen Mann? Ich bin älter als du - und ich habe noch keine Frau."


    Und würde vielleicht aufgrund meiner Erkrankung auch nie eine haben...

  • Sivs Blick schien in die Ferne zu gehen, verloren in Erinnerungen. Um ihren Mund bildete sich schmerzhafter Zug. Sie dachte nicht oft an ihren Vater. Noch seltener dachte sie an das, was passiert war an dem Tag, als sie in die Hände der Römer gefallen war. Aber der Römer vor ihr hatte an den Bildern gerührt, die sie tief in sich vergrub, und so leicht ließen sie sich nicht unterdrücken, wenn sie einmal vor ihren Augen standen. Sie sah, wie die Speere durch die Luft glitten, beinahe lautlos. Sie sah, wie einer davon ihren Vater traf. In ihrer Erinnerung war sie nicht das Mädchen, das, von zwei Soldaten gepackt, sich nach Leibeskräften gewehrt hatte, so sehr, dass ein dritter zu Hilfe hatte kommen müssen. Sie sah es nicht einmal. Sie sah nur, was ihrem Vater geschah, und war in diesem Tagtraum so erstarrt, so unfähig sich zu rühren, wie sie es damals erst gewesen war, als sie gesehen hatte, wie das Licht in seinen Augen erlosch.


    Die Germanin wurde aus ihren Erinnerungen gerissen, als der Aurelier wieder anfing zu sprechen. Zuerst starrte sie noch vor sich hin, während seine Worte bereits in ihr Bewusstsein rieselten wie kleine Kieselsteine, die, in Bewegung gesetzt durch leise Pfoten, einen kleinen Abhang hinunter kullerten. Dann wandte sie abrupt den Kopf und sah Cotta wieder an, und nun sah dieser weg, begegnete ihrem Blick erst wieder, als er still war. In ihren Augen brannte Feuer. "Ja." In ihrer Stimme mischten sich Schmerz und ein herausfordernder Ton. "Familie in Germanien, oder tot. Und ich bin hier." Im Gegensatz zu dem, was er wohl denken mochte, seinem Tonfall nach zu schließen, löste diese Tatsache nicht – nicht mehr – die Reaktionen aus, die sie zu Anfang bei Siv ausgelöst hatte. Auch hier galt: sie lebte inzwischen zu lange hier, sie kannte die Menschen zu gut. Sie war ein fröhlicher, lebenslustiger Mensch, und so hatte sie auch hier, im Haus eines Römers, nach Wegen gesucht, wie sie zufrieden sein konnte, zumeist jedenfalls. Das aber vertrug sich nicht wirklich mit Wut und Hass. Und weil es sie verwirrte, nach wie vor, dass sie zufrieden sein konnte unter Umständen, unter denen sie es, stur wie sie war, eigentlich nicht sein wollte, wenn sie darüber nachdachte, verdrängte sie auch das. Die Worte des Aureliers führten ihr das zum ersten Mal seit längerem wieder vor Augen, schürten zum ersten Mal seit längerem wieder den Widerwillen, unter Römern zu leben, nach allem, was dieses Volk dem ihren angetan hatte. Und gleichzeitig weckte es erneut Verwirrung.


    Sie war fast dankbar für den Themenwechsel, den Cotta nun anschlug. Sie wusste nicht, was sie denken sollte, was sie von sich selbst halten sollte. Sie war zutiefst verwirrt über sich selbst, weil ihre Gefühle sie in verschiedene Richtungen zerren wollten und ihr Verstand ebenfalls keine große Hilfe war. Sie konzentrierte sich auf den Aurelier, versuchte wegzuschieben, wofür sie so lange schon keine Lösung fand und auch jetzt keine finden würde. "Ja, ich hab… hatte Mann. Ich bin nicht jung, in Germanien, nicht für haben Mann. Ich bin gesein mehr alt als wie, wie viele, … Ich war älter als die meisten anderen Mädchen, als sie geheiratet haben. Oder verheiratet wurden", beendete Siv ihren Satz schließlich auf Germanisch. Sie zuckte leicht mit den Achseln. Sie war fünfzehn gewesen, als sie mit Ragin verheiratet worden war, ein Alter, in dem viele ihrer Altersgenossinnen bereits das erste Kind hatten oder doch schwanger waren. Deswegen hatte ihr Vater ja schließlich einfach eine Entscheidung getroffen, weil sie sich immer standhaft geweigert hatte, so lange er auf ihre Einwilligung gewartet hatte – und sie irgendwann zu den letzten ihres Alters gehört hatte, die noch zu Hause gewohnt hatte. Und jetzt war sie neunzehn. Dass Römer, zumindest die, die den höheren Schichten angehörten, später heirateten, war ihr aufgefallen, aber großartig darüber nachgedacht hatte sie bisher nicht. Wieder zuckte sie leicht mit den Achseln. "Männer in Germanien auch sind mehr alt. Mein Mann auch gesein, mehr alt, mehr… alter? als ich. Und… Römer sind anders. Machen Dinge anders, wie Germanen. Das ist auch so was, ich denke." Im nächsten Moment fragte sie sich, ob sie das gesagt hatte, weil sie den Römer etwa beruhigen wollte, weil er noch keine Frau hatte.

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