Es war ein weiter Weg gewesen. Vom Sitz ihrer Großeltern über Land nach Dubris, von dort auf das Schiff und hinaus auf das große Meer am Weltenende, immer das Land als kleinen Schimmer am Horizont behaltend, während sie gen Westen fuhren. Dann nach Süden, um Hispania herum, die rauen Felsen an der Küste gekonnt umschiffend.
Dann war der Tag gekommen, an dem sie bei den Säulen des Hercules ankamen. Ihr Schiff verbrachte einen halben Tag damit, in sicherer Entfernung zu der Meerenge zu bleiben, um auf den Wechsel der Gezeiten zu warten. Flava stand mit ihrem Bruder auf Deck und beobachtete das, was früher als Ende der Welt galt. Hinter diesen Felsen lag ihr neues Leben, und sie hatte zum ersten Mal Zweifel, ob es richtig war, ihren Vater aufzusuchen. Sie suchte Trost bei ihrem Bruder und fand neue Kraft in seiner unerschütterlichen Stärke, die manche auch als Starrsinn abtaten.
Schließlich fuhren sie durch die Säulen des Hercules, durch diesen tosenden Schlund schäumender Gischt. Flava hätte es nicht gewundert, an dessen Ende den Strudel der Carybdis zu erblicken und in die Tiefe hinabgesogen zu werden. Die ganze Zeit, in der die Ruderer des Schiffes sich ins Zeug legten, um sie von den beiden Steinwänden fernzuhalten, durch die sie fuhren, hielt sie die Hand ihres Bruders fest umklammert.
So war es schon immer gewesen, wenn sie Angst hatte. Immer war ihr Zwillingsbruder da gewesen, anders konnte sie es sich gar nicht vorstellen. Wann immer sie ängstlich war, gab seine Unerschrockenheit ihr Kraft, wann immer sie zögerte, ging er mutig voraus, um den Weg für sie zu sichern. Immer wenn sie Angst hatte, konnte sie sich darauf verlassen, dass er sie halten würde. So war es seit dem ersten Tag gewesen, und Flava war sich sicher, dieses Band würde immer bestehen bleiben. Egal, in welche Ferne sie ihn noch führen würde.
Das Mare Internum war ruhiger, hier kam das Schiff besser voran. Es hielt bei den großen Häfen Hispanias, Karthago Nova und Tarraco, weiter zur Südküste Gallias nach Narbo Martius, um sich schließlich an der Küste Italias nach Süden vorzuarbeiten, bis hinab nach Ostia.
Als der Hafen in Sicht kam, rief es einer der Matrosen den Passagieren zu. Die meisten derer, die hier auszusteigen gedachten, begannen damit, ihre Habseligkeiten so gut es geht zusammenzusuchen. Ein reges Treiben entstand auf Deck, als die Passagiere und die Matrosen sich mehr und mehr in die Quere kamen, weil jeder nur möglichst schnell noch alles Nötige erledigen wollte.
Flava bekam davon allerdings nichts mit. Sie hatte die letzte Nacht sehr schlecht geschlafen. Sie hatte von ihrem Vater geträumt, auch wenn sie sein Gesicht nicht gesehen hatte. Aber er war nicht in Rom, wo sie ihn erwartete, sondern an einem anderen, düsteren Ort. Es war dunkel, feucht, und unsichtbare Dämonen lauerten in den Schatten. Sie hörte sie an den Wänden kratzen und vorbeihuschen, wie tausend kleine Füße, die über Steinboden laufen. Sie sah ihn daliegen, nackt, verletzt, und wollte zu ihm gehen. Doch wenn sie ihn berühren wollte, glitt ihre Hand durch ihn hindurch, als wäre er nur ein Nebelhauch, den sie nicht fassen konnte. Und eine unheimliche Hitze lag über der ganzen Szenerie, so dass Flava selbst beim Aufwachen noch war, als wäre ihre Kehle ausgedörrt.
Ihre Amme war eine abergläubische Person gewesen, und hatte ihr Halbwissen über die Geisterwelt mit den Zwillingen oft geteilt. Und vor allem Flava war dafür sehr empfänglich gewesen. So erinnerte sie sich auch beim Aufwachen an ihre Worte. „Es gibt zwei Arten von Träume. Die einen kommen durch ein Tor aus Elfenbein, und sind ohne Bedeutung. Sie sind nur Schatten unserer Wünsche und Erinnerungen, wild zusammengewürfelt.
Aber die anderen Träume kommen durch ein Tor aus Horn, und diese sind von den Geistern gesandt. Wenn du einen solchen Traum hast, musst du ihn dir gut merken, denn die Geister wollen dir etwas sagen.“
Flava war sich nicht sicher, ob sie bei diesem Traum zu Beginn durch ein Tor aus Horn oder durch eines aus Elfenbein geschritten war, und diese Frage ließ sie nicht mehr einschlafen. Selbst, als sie sich zu ihrem Bruder gekuschelt hatte und seinem ruhigen Herzschlag lauschte, wollte der Schlaf nicht wieder kommen. Selbst nach den schlimmsten Alpträumen half das normalerweise – wenn sie es aufgrund von Anstand und Moral in den letzten Jahren auch nur sehr selten getan hatte. Aber diesmal lag sie wach und hörte dem Klopfen des Schiffes zu bis zum Morgengrauen.
Irgendwann im Laufe des frühen Vormittages dann hatte sie sich neben Flavus gesetzt und ihm zugehört. Sie wusste nicht mehr, was er erzählt hatte, sie war zu müde gewesen. Und irgendwann war ihr Kopf dann gegen seine Schulter gesunken, als sie einschlief. Nicht einmal der Ruf des Matrosen oder die hektischen Schritte der Passagiere weckten das junge Mädchen auf.