Vom anderen Ende der Welt

  • Es war ein weiter Weg gewesen. Vom Sitz ihrer Großeltern über Land nach Dubris, von dort auf das Schiff und hinaus auf das große Meer am Weltenende, immer das Land als kleinen Schimmer am Horizont behaltend, während sie gen Westen fuhren. Dann nach Süden, um Hispania herum, die rauen Felsen an der Küste gekonnt umschiffend.
    Dann war der Tag gekommen, an dem sie bei den Säulen des Hercules ankamen. Ihr Schiff verbrachte einen halben Tag damit, in sicherer Entfernung zu der Meerenge zu bleiben, um auf den Wechsel der Gezeiten zu warten. Flava stand mit ihrem Bruder auf Deck und beobachtete das, was früher als Ende der Welt galt. Hinter diesen Felsen lag ihr neues Leben, und sie hatte zum ersten Mal Zweifel, ob es richtig war, ihren Vater aufzusuchen. Sie suchte Trost bei ihrem Bruder und fand neue Kraft in seiner unerschütterlichen Stärke, die manche auch als Starrsinn abtaten.
    Schließlich fuhren sie durch die Säulen des Hercules, durch diesen tosenden Schlund schäumender Gischt. Flava hätte es nicht gewundert, an dessen Ende den Strudel der Carybdis zu erblicken und in die Tiefe hinabgesogen zu werden. Die ganze Zeit, in der die Ruderer des Schiffes sich ins Zeug legten, um sie von den beiden Steinwänden fernzuhalten, durch die sie fuhren, hielt sie die Hand ihres Bruders fest umklammert.
    So war es schon immer gewesen, wenn sie Angst hatte. Immer war ihr Zwillingsbruder da gewesen, anders konnte sie es sich gar nicht vorstellen. Wann immer sie ängstlich war, gab seine Unerschrockenheit ihr Kraft, wann immer sie zögerte, ging er mutig voraus, um den Weg für sie zu sichern. Immer wenn sie Angst hatte, konnte sie sich darauf verlassen, dass er sie halten würde. So war es seit dem ersten Tag gewesen, und Flava war sich sicher, dieses Band würde immer bestehen bleiben. Egal, in welche Ferne sie ihn noch führen würde.
    Das Mare Internum war ruhiger, hier kam das Schiff besser voran. Es hielt bei den großen Häfen Hispanias, Karthago Nova und Tarraco, weiter zur Südküste Gallias nach Narbo Martius, um sich schließlich an der Küste Italias nach Süden vorzuarbeiten, bis hinab nach Ostia.


    Als der Hafen in Sicht kam, rief es einer der Matrosen den Passagieren zu. Die meisten derer, die hier auszusteigen gedachten, begannen damit, ihre Habseligkeiten so gut es geht zusammenzusuchen. Ein reges Treiben entstand auf Deck, als die Passagiere und die Matrosen sich mehr und mehr in die Quere kamen, weil jeder nur möglichst schnell noch alles Nötige erledigen wollte.
    Flava bekam davon allerdings nichts mit. Sie hatte die letzte Nacht sehr schlecht geschlafen. Sie hatte von ihrem Vater geträumt, auch wenn sie sein Gesicht nicht gesehen hatte. Aber er war nicht in Rom, wo sie ihn erwartete, sondern an einem anderen, düsteren Ort. Es war dunkel, feucht, und unsichtbare Dämonen lauerten in den Schatten. Sie hörte sie an den Wänden kratzen und vorbeihuschen, wie tausend kleine Füße, die über Steinboden laufen. Sie sah ihn daliegen, nackt, verletzt, und wollte zu ihm gehen. Doch wenn sie ihn berühren wollte, glitt ihre Hand durch ihn hindurch, als wäre er nur ein Nebelhauch, den sie nicht fassen konnte. Und eine unheimliche Hitze lag über der ganzen Szenerie, so dass Flava selbst beim Aufwachen noch war, als wäre ihre Kehle ausgedörrt.
    Ihre Amme war eine abergläubische Person gewesen, und hatte ihr Halbwissen über die Geisterwelt mit den Zwillingen oft geteilt. Und vor allem Flava war dafür sehr empfänglich gewesen. So erinnerte sie sich auch beim Aufwachen an ihre Worte. „Es gibt zwei Arten von Träume. Die einen kommen durch ein Tor aus Elfenbein, und sind ohne Bedeutung. Sie sind nur Schatten unserer Wünsche und Erinnerungen, wild zusammengewürfelt.
    Aber die anderen Träume kommen durch ein Tor aus Horn, und diese sind von den Geistern gesandt. Wenn du einen solchen Traum hast, musst du ihn dir gut merken, denn die Geister wollen dir etwas sagen.

    Flava war sich nicht sicher, ob sie bei diesem Traum zu Beginn durch ein Tor aus Horn oder durch eines aus Elfenbein geschritten war, und diese Frage ließ sie nicht mehr einschlafen. Selbst, als sie sich zu ihrem Bruder gekuschelt hatte und seinem ruhigen Herzschlag lauschte, wollte der Schlaf nicht wieder kommen. Selbst nach den schlimmsten Alpträumen half das normalerweise – wenn sie es aufgrund von Anstand und Moral in den letzten Jahren auch nur sehr selten getan hatte. Aber diesmal lag sie wach und hörte dem Klopfen des Schiffes zu bis zum Morgengrauen.
    Irgendwann im Laufe des frühen Vormittages dann hatte sie sich neben Flavus gesetzt und ihm zugehört. Sie wusste nicht mehr, was er erzählt hatte, sie war zu müde gewesen. Und irgendwann war ihr Kopf dann gegen seine Schulter gesunken, als sie einschlief. Nicht einmal der Ruf des Matrosen oder die hektischen Schritte der Passagiere weckten das junge Mädchen auf.

  • Als seine Schwester erwachte war Marcus bereits auf den Beinen, stand einige Meter von ihr entfernt an der Reling und starrte gespannt in die Richtung, auf die das Schiff zuhielt. Den hektischen treiben der Matrosen und den gespannten oder erleichterten Gesichtern manch anderer Passagiere nach zu urteilen, musste das dort vorne am Horizont endlich das Ziel ihrer Reise, die Hafenstadt Ostia sein. Die Reise war lange und etappenweise auch sehr anstrengend gewesen und er war froh, dass ihr Ziel nun wirklich zum greifen nahe war. So weit weg von zu Hause. Es war ein merkwürdiges Gefühl.


    Vor allem der Grund dieser Reise, über den sich Marcus schon so oft den Kopf zerbrochen hatte. Wäre es nach ihm gegangen, hätte sie vermutlich nie stattgefunden und seine Schwester und er würden immer noch bei ihren Großeltern in Britannia sitzen. Doch nun waren sie hier, auf das Drängen seiner Zwillingsschwester Flava und schließlich auch seinem Gespräch mit den Großeltern, die mit dieser Entscheidung alles andere als einverstanden waren. Doch schließlich hatte er sich durchgesetzt und sie waren aufgebrochen – gegen der Wunsch der Großeltern. Damals sicher ein Aufbruch ins Ungewisse und bestimmt kein gewöhnliches unterfangen für zwei so junge Menschen. Aber nun war es geschafft und er hatte seine Schwester Gesund und Munter ans Ziel gebracht. Erleichtert atmete Marcus durch und wandte sich wieder in Richtung seiner Schwester, um nach ihr zu sehen. Sie war endlich aufgewacht. Mit einem Lächeln auf den Lippen ging er auf sie zu und setzte sich wieder zu ihr.


    „Na Schwesterherz. Bist du auch schon aufgewacht. Ich denke das dort vorne ist Ostia. Wir haben die Reise also bald hinter uns.“

  • Die weiche Schlafstütze der brüderlichen Schulter war irgendwie einer harten Holzkiste gewichen. Diese war nicht halb so bequem und mit verspanntem Nacken wachte Flava langsam auf und blinzelte gegen die Sonne. Schlaftrunken setzte sie sich auf und rieb sich die Augen, als ihr Bruder zu ihr kam und die Neuigkeiten überbrachte. Noch nicht wirklich wach bekam sie es im ersten Moment nicht richtig mit, nur sein erster Satz war ihr irgendwie im Bewusstsein hängen geblieben.
    Irgendwann muss ich auch mal schlafen. Heute Nacht hatte ich einen so schlimmen Traum…“ In ihrer Erinnerung verschwamm der Traum schon wieder und mischte sich mit dem eben geträumten, so dass sie sich nicht mehr sicher war, was heute Nacht war und was von eben. Sie war sich nicht mal sicher, ob sie in der Nacht wirklich zu ihrem Bruder gehuscht war, um bei ihm zu schlafen, oder ob sie das auch geträumt hatte. Aber sie würde ihn sicher nicht danach fragen, wo andere sie hören konnten. „Ich habe von Vater geträumt. Ich glaube… ich glaube er war tot und wurde von Pluto gefoltert, oder… nein, vielleicht auch nicht tot… ich weiß es nicht mehr…
    Sie rieb sich noch einmal die Augen und versuchte, den Schlaf noch völlig abzuschütteln. Erst da wurde ihr bewusst, dass er gesagt hatte, sie seien endlich angekommen. Mit einem tiefen Atemzug kam auch wieder richtiges Leben in sie, und sie stand auf, um zum Land hinüber zu schauen. Das dort vorne war also Ostia, der berühmte Hafen Roms. Dann würde es nur noch ein kurzer Landweg sein, bis sie ihren Vater sehen konnten. Sofern er da war. Sie hoffte nur, dass er nicht tot war, dann wäre der ganze Weg, all ihre Überredungen bei ihrem Bruder und ihren Großeltern, all die Sorgen, all das Geld, all die Träume umsonst gewesen. Ein Schauer lief durch ihren Körper, als sie darüber nachdachte, und sie rieb sich die Arme, als würde sie frösteln.

  • Als Flava von ihrem Traum anfing rümpfte Marcus bereits nach ihren ersten Worten seine Nase. War ja klar das es in dem Traum wieder um den Alten ging. Er konnte es schon nicht mehr hören. Hatte er nicht schon diese Reise nach Rom mit ihr angetreten, weil sie von nichts anderen mehr reden konnte als von ihm? Tag ein Tag aus hatte sie ständig den Senator im Kopf. Für Marcus hieß er immer nur der Alte oder Senator. Als Vater hatte er ihn nur in seiner Kindheit bezeichnet. Irgendwann war die Anrede jedoch unhöflicher und abfälliger geworden. Er sah diesen Decimus Livianus schon lange nicht mehr als Vater, denn schließlich hatte er damals seine Frau, Marcus und Flavas Mutter, verlassen um in lieber in den Krieg zu ziehen und Karriere zu machen. Er war weder da als es ihr schlecht ging und sie nach Britannia reiste, noch als sie schließlich starb. Zumindest erzählte es Großmutter immer so und Marcus glaubte ihr. Kein Wunder also, dass ihm die Großeltern die beiden Kinder in ihrem unsagbaren Schmerz verheimlichten. Nunja. Nun würde er ja bald erfahren das er Kinder hatte – gleich zwei sogar.


    Marcus sah zu seiner Schwester und legte seinen Arm schützend und wärmend um sie, als ihr anscheinend kalt wurde und sie sich zusammenkauerte. Für sie war diese Reise wichtig. Wesentlich wichtiger als für ihn. Sie wollte nichts sehnlicher als ihren Vater kennen lernen, den großen Senator, Feldherrn und in ihren Träumen auch bestimmt liebevollen Vater. Marcus wäre hingegen lieber in Britannia geblieben und gab keinen Pfifferling darauf den Alten zu sehen, geschweige denn ihn kennen zu lernen. Doch alleine wollte er Flava nicht reisen lassen und so konnte sie ihn nach langen und mühsamen Überreden dazu bewegen, sie auf diese Reise nach Rom zu begleiten. Und hier waren sie nun, kurz vor ihrem Ziel. Obwohl er ihr sich liebevoll um sie sorgte und sie in den Arm nahm meinte er abfällig


    „Fang nicht schon wieder vom Alten an Flava. Du wirst ihn doch nun ohnehin bald kennen lernen.“

  • Marcus konnte ihn nicht einmal Vater nennen. Flava ließ bei seinen Worten den Kopf hängen und kuschelte sich noch mehr in seine Arme. Sie wünschte sich, ihr Bruder würde sich wenigstens ein bisschen darauf freuen, den Vater kennen zu lernen. Nur ein klein wenig.
    Natürlich verstand sie auch seinen Ärger. Wenn stimmte, was ihre Großeltern erzählten, dann war ihr Vater ein grobschlächtiger Mann, der lieber andere Menschen umbrachte, als Zeit mit seiner Frau zu verbringen. Mutter war krank gewesen, als sie nach Britannia ging, und dennoch hatte er sie nicht einmal selbst zu den Schwiegereltern gebracht, sondern war statt dessen gleich mit der Legion losgezogen.
    Flava selber wusste ja nicht einmal, ob sie so einen Vater haben wollte. Aber irgendetwas an ihm musste Mutter doch geliebt haben. Mutter war bereits verheiratet gewesen, das hatte sie von einer Sklavin erfahren. Warum also sollte sie Flavas Vater später geheiratet haben, wenn sie ihn nicht wenigstens mochte? Und so gut und nobel und zart, wie ihre Mutter beschrieben wurde, hätte diese Frau kein vollkommenes Ungeheuer ausgesucht.


    Ich wünsche, dass du recht hast. Ich möchte einfach, dass alles gut wird. Aber… war ist, wenn er wirklich so ist, wie Großmutter sagte? Ich meine, vielleicht will er uns ja gar nicht. Was machen wir dann?
    Flava wollte so unbedingt Priesterin werden für Diana. Wie sollte sie das ohne Hilfe bewerkstelligen? Und ihr Bruder kannte ja auch niemanden in Rom.

  • Dann rammen wir ihm ein Messer in die Brust und verschwinden wieder dachte sich Marcus, der diesen Satz natürlich nie vor seiner Schwester ausgesprochen hätte. Stattdessen suchte er nach Worten die Flava wieder etwas beruhigten und ihr die Angst vor dem Zusammentreffen nahmen.


    „Das wird bestimmt nicht passieren Flava. Also hab keine Angst davor. Wer könnte dich nicht wollen.“


    Er lächelte bei seinen letzten Worten und strich seiner Zwillingsschwester eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die der Wind kurz zuvor dort hin geweht hatte. Danach legte er auch den zweiten Arm um sie und drückte sie fest an sich, um ihr Wärme und Geborgenheit zu vermitteln. Als er wieder von ihr abließ, sah er auf und beobachtete kurz das Treiben auf dem Schiffsdeck. Bei den vielen Zwischenstopps auf ihrer langen Reise hatte Marcus oft gesehen, wie die Matrosen das Schiff auf das Einlaufen in den Hafen vorbereiteten und so wie es aussah, war es bald soweit.


    „Ich denke wir sollten uns schön langsam vorbereiten. Das Schiff wird wohl demnächst einlaufen.“

  • Flava ließ sich von seiner Ruhe neue Kraft geben und blickte dem näher kommenden Hafen entgegen. Man konnte schon einzelne Häuser der Stadt ausmachen, es würde nicht mehr lange dauern, bis sie tatsächlich anlegten. Und dann musste alles fertig sein.


    Du hast recht. Ist denn schon alles gepackt?


    Gemeinsam mit ihrem Bruder sah sie noch einmal über die verschiedenen Truhen und Bündel, die ihre Habseligkeiten beherbergten. Hier und dort wurde noch etwas eingepackt, was am letzten Tag noch gebraucht worden war, aber im Großen und Ganzen waren sie fertig zur Abreise. Den Brief der Großeltern verstaute Flava sicher in der robustesten Truhe obenauf. Geöffnet hatte sie ihn natürlich nicht, aber sie wusste, dass er die Wahrheit enthielt und für ihren Vater als Beweis gelten sollte, dass die Zwillinge seine Kinder waren. Was die Großeltern genau hineingeschrieben hatten, wusste Flava allerdings nicht.


    Gibt es in Ostia wohl eine Therme oder ähnliches? Nach diesen Wochen hier auf dem Schiff sehne ich mich nach einem ordentlichen Bad.
    Flava wollte gar nicht wissen, wie sie nun für andere roch. Auf dem Schiff gab es leider keine Möglichkeit, sich ausgiebig unbeobachtet zu waschen. Und sie tat zwar ihr bestes, sich gründlich zu reinigen, aber ein Bad war doch etwas anderes. Und sie wollte ihren neuen Verwandten nicht gegenübertreten, wenn sie dabei stank wie eine Herde Rinder.

  • Frauenprobleme! Marcus roch verstohlen und unauffällig an seinen Axeln als seine Schwester den Wunsch nach einem Bad ansprach. Er konnte an sich nichts Auffälliges riechen. Natürlich roch er anders als nach dem täglichen Bad daheim in Britannia, aber das er stank, konnte er nicht bestätigen.


    „Hmm...... ich habe keine Ahnung, aber wenn nicht, dann werden wir spätestens in Rom die Möglichkeit haben in eine Therme zu gehen. Ich habe gehört das es dort die größten und schönsten Thermen des ganzen Reiches gibt.“


    Danach ließ er seinen Blick über ihr Gepäck schweifen. Auch er hatte das Gefühl, dass alles bereits ordnungsgemäß verstaut war. Zumindest seine Sachen. Er war schließlich wesentlich genügsamer als Flava und grübelte darüber nach, wann er das letzte Mal überhaupt seine Tunika gewechselt hatte. Hier und da lagen noch einige Kleidungsstücke oder Gegenstände herum, die recht schnell in einer der Kisten verstaut war. Problematischer würde es schon werden, diese Gepäcksstücke nach Rom zu bringen. Vermutlich mussten sie sich Gepäckträger suchen oder jemanden, der einen Karren hatte. Doch dazu musste Marcus zuerst nachzählen, ob sich das Geld dafür ausging. So kurz vor ihrem Ziel, war auch der Geldbeutel ziemlich geschrumpft.


    „Also ich denke das ich fertig bin. Das Schiff kann anlegen.“

  • Wenn nicht, haben die doch sicher ein Gasthaus?“ Flava behagte die Vorstellung, ungebadet nach Rom zu reisen, überhaupt nicht. Sie wollte bei ihren Verwandten den bestmöglichen Eindruck hinterlassen. Außerdem war sie sehr nervös, weil sie nicht wusste, was auf sie zukam. Dies war ein Problem, für das es keine Lösung gab. Für ihre persönliche Sauberkeit gab es eine Lösung, sogar eine recht einfache, also stürzte sich das Mädchen auf dieses Problem, um ein gutes Gefühl zu haben.


    Das Schiff wurde langsamer, je näher es dem Hafen kam. Erst jetzt war zu erkennen, dass sie in den Tiber hineinfahren mussten, um zu ihrer Anlegestelle zu kommen. Flava war das nicht wirklich geheuer, ihr Schiff wirkte so groß und schwer, und der Tiber im Gegenzug so klein auf die Entfernung. Aber je näher sie kamen, umso mehr schien sich der Fluss auszubreiten, und die Ruderer legten sich wieder etwas ins Zeug, um gegen die Strömung den richtigen Winkel für ihren Pier zu erwischen. Dann war die Strömung weg, und das ruhige Hafenbecken lag nur noch vor ihnen. Sie glitten dahin wie von Delphinen gezogen und kamen schließlich ganz sanft direkt beim Pier zum stehen. Seile wurden zwischen Land und schiff hin und her geworfen, und Männer machten sich sowohl an Land als auch am Schiff daran, alles zu vertäuen. Schließlich wurde eine breite Holzplanke zwischen Land und Schiff ausgelegt, über die man gehen konnte.
    Ich glaube, wir können nun von Bord gehen.

  • Damit hatte Flava wohl Recht. Doch wie das ganze Gepäck von Bord schaffen? Marcus sah etwas hilflos über die drei Kisten hinweg und ließ seinen Blick schließlich über das Deck schweifen. Dann zog er einen kleinen Lederbeutel aus dem Ärmel seiner Tunika hervor und winkte einige Seeleute herbei, die sich nicht lange bitten ließen. Sie sahen den Lederbeutel und wussten genau, dass es hier etwas abzustauben gab. Während Marcus einige Münzen in seine Hand zählte und sich darüber Gedanken machte, ob das Geld noch für den letzten Abschnitt ihrer Reise ausreichen würde, machten sich die Männer bereits ohne groß auf Anweisungen zu warten daran, die Kisten vom Schiff zu tragen und am Pier direkt vor der Planke wieder aufzustapeln. Marcus gab seiner Schwester ein Zeichen und schlenderte den Matrosen hinterher, um sie unten angekommen, für die kleine Gefälligkeit zu entlohnen. Etwas mürrisch, dass es nicht gerade viel Trinkgeld war, nahmen sie es raunend entgegen und gingen zurück auf das Schiff. Nun standen die beiden Geschwister da – am Hafen von Ostia. Fast wirkten sie etwas hilflos und verlassen zwischen dem ganzen Trubel der um diese Tageszeit am Kai herrschte. Matrosen entluden ihre Schiffe, Händler boten bereits hier ihre Waren feil und so manch zwielichtige Gestallt lungerte zwischen den Kisten und aufgestapelten Säcken herum. Marcus seufzte und sah zu seiner Schwester.


    „Und nun?“


    Er sprach mehr mit sich selbst als mit ihr. Mit den Kisten kamen sie nicht weit und so mussten sie zuerst eine Möglichkeit finden, ihre Reisekisten nach Rom zu transportieren. Es würde sich bestimmt ein Händler oder Fuhrmann finden, der mit einem leeren Karren Richtung Rom fuhr und die beiden mitnehmen konnte. Doch zuerst einmal musste der gute Mann gefunden und vorallem bezahlt werden.

  • Ja, was nun? Das war eine gute Frage. Flava war erstmal damit beschäftigt, auf dem wankend scheinenden Untergrund des Piers ruhig stehen zu bleiben. Die ganze Reise über hatte sie nicht annähernd etwas wie Seekrankheit verspürt, außer an dem einen Abend, als es gestürmt hatte. Aber das zählte nicht richtig, denn sie sah an dem Tag kaum einen, der nicht etwas blass um die Nase gewesen war.
    Aber jetzt hier auf dem festen Steinpier schien es plötzlich loszugehen. Sie hatte ein Gefühl in den Beinen, als wäre das Schiff fester Untergrund gewesen und dies hier beweglich wie Wasser. Sie hatte zwar so was schon einmal gehört, die Seeleute nannten so was „Landgang“, aber sie konnte als Dame und hoffentlich baldige Priesterin hier nicht breitbeinig über den Pier latschen. Sie blieb also erstmal stehen und sah den Boden böse an, als ob das helfen würde. Ihr Bruder schien nicht halb so viele Probleme zu haben, obwohl er genauso lange auf dem Schiff gewesen war wie sie.
    Aber trotz ihrer Schwierigkeiten wollte sie ihm nicht eine Antwort schuldig bleiben. Sie setzte sich erst einmal auf eine Truhe und atmete beim Überlegen geräuschvoll und langsam aus.


    Wieviel Geld haben wir denn noch? Reicht es noch für zwei Opfer für Mercurius und Neptun für die gute Überfa…“ Der Blick ihres Bruders ließ sie den Satz abbrechen.
    Entschuldige, dumme Frage. Ich kann auch in Rom opfern.
    Ein bischen verschämt sah sie zu Boden und überlegte weiter. Die wichtigen Dinge zuerst, und die waren ein Bad, ein Essen und eine Fahrtgelegenheit. Ob sie das heute noch schafften?
    Wie weit ist es gleich noch mal nach Rom? Zwanzig Meilen?“ Sie überlegte, wie lange man dahin wohl brauchte. Mit einem schnellen Pferd wahrscheinlich grade mal eine Stunde, mit einem langsamen Karren bestimmt vier, zu Fuß und mit den Kisten noch länger. Sie atmete wieder geräuschvoll und langsam aus, als sie überlegte.
    Wir brauchen auf jeden Fall was zu Essen und ein Bad, und wenn wir nicht gleich jemanden finden, der uns mitnimmt, noch eine Übernachtungsmöglichkeit. Sonst kommen wir erst mitten in der Nacht an.

  • Flava hatte vollkommen Recht. Entweder sie trieben binnen kürzester Zeit eine Mitreisegelegenheit nach Rom auf, oder sie musste die Nacht über hier in Ostia verbringen. Die zweite Vorstellung behagte Marcus überhaupt nicht, da er eben noch gesehen hatte, wie wenig Sesterzen den beiden für die restliche Reise zur Verfügung stand. Eine Unterkunft ging sich da nur noch schwer aus und wenn doch, dann eine, in der er seine Schwester bestimmt nicht übernachten lassen wollte. Suchend sah er sich kurz um und wandte sich dann wieder an Flava.


    „Warte hier kurz und schau auf unser Gepäck. Ich werde mich einmal umhören.“


    Er nickte ihr zu und verschwand dann im Trubel der Menschenmassen. Marcus bahnte sich seinen Weg in Richtung der Händler, die am Rand des Piers ihre Stände aufgebaut hatten und dort ihre Waren anboten. Hier musste es doch irgendjemand geben, der vielleicht heute noch nach Rom fuhr oder gerade neue Waren angeliefert und daher einen leeren Wagen für die Rückreise zur Verfügung hatte. Viel zahlen konnten die beiden freilich nicht, aber Marcus hoffte, dass er trotzdem jemanden finden würde, der ihnen dabei half heute noch nach Rom zu kommen. Er sprach mit einigen Händlern, die ihm nicht weiterhelfen konnte oder wollten, bis er schließlich an einer Ecke einen Karren sah, vor dem ein Pferd gespannt war und dessen Besitzer sich anscheinend gerade bereits machen wollte, um weiterzufahren. Er quetschte sich durch die Menschenmenge und lief zu dem Fuhrwerk, dessen Fahrer gerade sein Pferd antreiben wollte. Erst als Marcus ihm zurief, zügelte er wieder sein Pferd und sah den jungen Mann verwundert an. Marcus erklärte ihm die verzwickte Situation des Geschwisterpärchens und appelierte an seine Hilfsbereitschaft, ihn und seine Schwester mit nach Rom zu nehmen. Der Fuhrmann willigte ein und folgte Marcus zurück zu seiner Schwester.


    „Flava!“ rief er schon von weitem. „Hier bin ich wieder! Dieser nette Mann hier hat einen Pferdekarren und nimmt und mit nach Rom.“

  • Ganz alleine am Hafen zu bleiben ohne wenigstens einen Sklaven als Wächter behagte Flava zwar ganz und gar nicht, aber was sollte sie schon machen? Die Kisten mitnehmen konnten sie schlecht, also musste einer von ihnen aufpassen. Und wenn ihr Bruder das so entschied, dann würde sie eben bleiben.
    Besorgt sah sie ihm hinterher, als er plötzlich in der Menge verschwunden war. Sie versuchte noch, seinen Haarschopf zwischen den anderen auszumachen, aber irgendwann hatte sie ihn verloren. Auf ihrer Kiste sitzend betrachtete sie die Leute um sie herum. Hauptsächlich waren Matrosen unterwegs, aber auch Kaufleute, Sklaven, ein Priester und ein paar, die sie nicht einordnen konnte, kamen an ihr vorbei. Je nach Stand desjenigen lächelte sie den hochgestellten schüchtern zu und blickte möglichst unauffällig zur Seite bei niederrangigen. Sie wollte keine zu große Aufmerksamkeit erregen. Nicht, dass noch jemand bemerkte, dass sie hier ganz alleine saß und damit ein leichtes Opfer wäre. Was konnte sie schon groß machen, außer laut um Hilfe zu rufen?
    Die Zeit schien endlos langsam zu verstreichen, und ihr Bruder kam und kam nicht wieder. Sie wurde auf ihrer Kiste immer kleiner und kleiner, als sie seine Stimme hörte. Ruckartig drehte sie sich zu ihm um und winkte freudig, als sie ihn sah. Im Schlepptau hatte er einen Mann mittleren Alters, der zwar keinen besonders wohlhabenden Eindruck machte, aber ein gutmütiges Gesicht hatte. Und Bettler durften auch kaum wählerisch sein, was ihre Gesellschaft anging. Und war Diana nicht höchstselbst mit den Einfachsten der Einfachen auf den Aventin gezogen?
    Flava zauberte also das makelloseste Lächeln der Welt auf ihr Gesicht, als sie dem Bruder entgegeneilte und in einer kleinen, sittsamen Geste kurz die Hand des Mannes berührte, während sie ihn begrüßte. „Salve, und das im wahrsten Sinne. Wenn wir in Rom sind, verspreche ich dir, dass ich dich für deine Großzügigkeit in mein Gebet einschließe, wenn ich Mercurius opfere. Mit diesen schweren Kisten wären wir sonst bestimmt heute nicht mehr nach Rom gekommen. Es ist schön zu sehen, dass es noch so gute, aufrechte Römer gibt.
    Sie merkte, dass der Mann wohl leicht rot wurde bei ihren Worten, und hörte auf, ehe es zuviel des Lobes wurde. Sie hatte manchmal diese Art, zu überschwänglich gefallen zu wollen, und bemühte sich immer, sich rechtzeitig zu bremsen.


    Während ihr Bruder und der Fuhrmann die Kisten auf den Wagen luden, schulterte Flava nur das leichte Bündel, das auch bei ihren Gepäckstücken lag. Niemand konnte schließlich von ihr verlangen, dass sie so eine vollgestopfte Truhe hob. Beim Klettern auf den Wagen ließ sie sich von ihrem Bruder helfen.


    Bei dieser Gelegenheit raunte sie ihm flüsternd zu. „Was ist jetzt mit meinem Bad?
    An ihrer Stimmlage konnte er deutlich hören, dass sie nicht besonders erfreut war, ungebadet nach Rom zu kommen. Aber auch, dass es nicht wirklich ein Vorwurf war, sondern mehr eine Sorge ihrerseits. Sie wollte ihrem Vater nicht nach Schiff und Pferdekarren stinkend das erste Mal begegnen. Der erste Eindruck war wichtig, wie sie wusste, für Damen gleich zweifach. Und sie wollte doch, dass alles perfekt wäre.

  • Marcus ließ lediglich ein lautes Seufzen vernehmen als seine Schwester den Fremden so überschwänglich begrüßte und sofort losschnatterte. Von wegen Großzügigkeit ging ihm durch den Kopf. Es war keine Wohltätigkeitstat die dieser Mann hier leistete, sondern er bekam in Rom den vorhin ausverhandelten Lohn für diese Mühen. Und der ließ den Geldbeutel der beiden fast zur Gänze schrumpfen. Marcus sagte jedoch nichts zu seiner Schwester bzw. sah es nicht notwendig an, hier nun irgendetwas richtig zu stellen. Stattdessen zeigte er dem Mann die Kisten um die es ging und die beiden begannen damit den Wagen aufzuladen.


    Ein leicht verärgertes „Ja ja!“ bekam Flava als Antwort auf die Frage nach ihrem Bad zurück. Nicht nur das die Kisten schwer genug waren und es Marcus ordentlich viel Kraft kostete, sie gemeinsam mit dem Fuhrmann auf den Wagen zu hieven, hatte seine Schwester immer noch nichts anderes im Kopf als ihr Bad. Es war doch wesentlich wichtiger endlich nach Rom zu kommen – egal ob gewaschen oder ungewaschen. Der junge Decimer schüttelte den Kopf und stieg dann nach seiner Schwester selbst auf den Wagen. Während das Gepäck hinten auf der Ladefläche verstaut war, saßen die drei Personen vorne auf dem Bock. Der Mann, der das Geschwisterpaar netterweise mit nach Rom nahm, war ebenfalls aufgestiegen und ließ kurz die Zügel schnalzen, was seine Pferde sofort zum losgehen antrieb. Langsam und ratternd fuhr der Wagen los in Richtung Rom.

  • Flava bedachte ihr Bruderherz mit einem bösen Blick und ließ sich wortlos auf dem Kutschbock nieder. Ihr Bruder saß in der Mitte, sie links, der Fuhrmann rechts. Es war eine etwas wackelige Angelegenheit, als der Wagen losrollte über die gepflasterte Straße vom Hafen weg. Mit lauten Rufen scheuchte der Fuhrmann, wenn nötig, die Leute beiseite, die sich hier auf der breiten Hauptstraße auch tummelten. Aber die beiden, alten Pferde, die seinen Wagen zogen, hätten vermutlich auch sonst niemandem gefährlich werden können, so gemächlich und gelassen, wie sie dahintrotteten.
    Flava sah sich die Straßen an, und als sie an einer großen, einladend aussehen Therme vorbeifuhren, gab Flava ihrem Bruder einen herzhaften Knuff mit dem Ellenbogen in die Rippen. Sie hätte wirklich, wirklich gerne sich noch schick gemacht, bevor sie ihrem Vater gegenübertrat. Schließlich wollte sie nicht, dass sie beide wie Bettler vor der Villa der Familie standen. Sie waren immerhin die Kinder eines Senators und einer Priesterin, da sollte man schon etwas hermachen. Aber Flavus schien das nicht weiter zu stören. Überhaupt schien er kaum interessiert an der ganzen Reise. Flava hatte das Gefühl, dass er de Vater gar nicht kennen lernen wollte, sondern es wirklich einzig und allein ihr zuliebe tat. Natürlich, sie hatte ihn auch überreden müssen und ihm angedroht, notfalls auch ganz alleine zu fahren. Aber das es ihn wirklich so überhaupt gar nicht interessierte?


    Als sie schließlich aus Ostia hinausfuhren, beschloss Flava, dem Schweigen ein Ende zu machen.

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