Die Arbeitsräume des Gymnasiarchen Nikolaos Kerykes

  • "Das ist erstmal Aufgabe der Stadtwache oder der Legion. Wobei man darauf nicht die gesamte Ermittlungsarbeit konzentrieren sollte. Nur, wenn einmal ein paar Mitwisser oder Zeugen auffliegen, die nichts gesagt haben, und die dann ebenso bestraft werden, wie der Täter, spricht sich das rum. Dann werden die Nächsten sich vielleicht überlegen, sich direkt zu melden und damit wäre das Wichtigste geschafft: Die Aufklärungsrate von Verbrechen zu verbessern. Außerdem kann es ja sein, dass ein Informant etwas gesehen hat und dann berichtet, dass dieser und jene auch Zeugen waren. Und wenn die sich nicht melden, kann man sie verhaften und verhören. Auch das spricht sich rum und wieder überlegen es sich die Nächsten, ob sie das Risiko der Bestrafung eingehen wollen, wenn sie nichts sagen. Vor allem für Rhakotis ist das sicher sinnvoll. Denn da sagt niemand etwas. Schon allein, weil es keinen Vorteil bringt. Wenn es im Gegenteil aber einen Nachteil bringt, nichts zu sagen, dann werden sie es sich überlegen. Von Folter halte ich allerdings wenig. Ich habe schon Menschen erlebt, die alle gestehen, was man ihnen sagt, wenn man ihnen Schmerzen zufügt. Wenn man sie hingegen mürbe macht, erhält man viel bessere Ergebnisse. Man kann sie beispielsweise an einem Stuhl festbinden und ihnen stundenlang Wasser auf die Stirn tropfen lassen. Oder man isoliert für Tage völlig von anderen Menschen und gibt ihnen nicht einmal Licht. Das fügt ihnen keine Schmerzen zu und bringt sie dazu, sich ganz von selbst anzuvertrauen und alles zu sagen." Dass das natürlich auch Folter war, nämlich psychische Folter, war mir nicht bewusst - so wie es wohl fast keinem antiken Menschen jemals in den Sinn gekommen wäre, dass es so etwas wie psychische Folter gibt.

  • Ja, das klang logisch. Das klang sogar sehr logisch. Aber trotzdem beharrte so ein kleines Stimmchen in Axilla darauf, dass der Plan einen Fehler hatte. Sie kam nur nicht gleich drauf, welchen. Vielleicht, wenn sie das ganze von weiter Weg betrachtete? So hatte es ihr Vater immer gesagt, man solle sich eine Sache ganz genau vorstellen und dann in Gedanken ganz weit weg davon gehen, so dass man alles wie aus der Ferne sehen konnte. Wie auf einem Schlachtplan, sozusagen. Und genau das versuchte sie, schloss dabei sogar die Augen.
    Und als sie so einen Moment angestrengt darüber nachdachte, fiel ihr auch ein, was sie daran falsch fand: Die Familie! Immerhin war es ja so, dass eine Familie als solches für Schaden auch haftete. Da lag der Schluss einfach nahe, dass man da auch bei Straftaten eine Gemeinschaft unterstellen konnte.
    “Hmmm, was ist jetzt aber angenommen, wenn der Vater einer Familie ein Dieb ist, und die Familie weiß das? Bestrafst du dann alle so? Also auch notfalls mit Hand ab und so weiter?“
    In einem Strafrecht, das mildernde Umstände nicht wirklich kannte, war das eine interessante Fragestellung. Axilla widerstrebte irgendwie der Gedanke, ein halb verhungerndes Kind so zu bestrafen, weil der Vater ein Dieb war. Und überhaupt fand sie, dass Familienehre sehr hoch einzuschätzen war, und dass da im Notfall die Familie so jemanden entweder verstoßen oder aber zusammenhalten musste.

  • "Wenn die Familie nichts sagt: Ja, dann müssen sie alle bestraft werden." Meine Stimme war emotionslos, wie auch mein Gesicht. Doch meine Augen strahlten eine gnadenlose Härte aus. Eine Härte, die ich einst an den Tag legte und jederzeit wieder an den Tag legen würde, wenn ich es für notwendig erachtete. "Das Gesetz dient der Gesellschaft als Ganzem, nicht einzelnen Menschen. Und es geht hierbei nur um die Gesellschaft als Ganzes. Ohne Unterschiede."

  • Da war Axilla ja froh, dass das römische Recht da ein bisschen anders war. Sonst würde sie hier heute wohl nicht sitzen und sich über sowas Gedanken machen, nachdem Marcus Iunius Brutus den großen Caius Iulius Caesar erdolcht hatte. Auch wenn gewiss nicht die ganze gens Iunia von diesen Plänen gewusst hatte, aber sie fand den Statusverlust, den das eingebracht hatte, auch schon schlimm genug. Da hätte man cnith auch noch alle umbringen müssen. Überhaupt fand sie das doch sehr drastisch.
    Sie zog eine grübelnde Schnute und machte einmal kurz überlegend “Hmmm“, sagte aber sonst nichts weiter dazu. Da waren sie wohl unterschiedlicher Meinung, und Axilla wollte nicht riskieren, ihn noch mal anzuschreien, wenn sich das Gespräch ungünstig entwickelte. Also beließ sie es einfach dabei.
    “Gut, ich geb das dann dem Gymnasiarchos, sobald er wiederkommt.“
    Und vielleicht mit viel Glück konnte sie mit Nikolaos ja darüber reden. Denn so ganz ließ sie das doch nicht los. Bei Nikolaos bestand aber weniger die Gefahr des Anbrüllens.

  • "Ich danke dir auf jeden Fall für deinen Einwand. Ich denke, dass der so auch bei der Ekklesia kommen wird. Vermutlich werden ein paar Ausnahmen definiert werden müssen, aber das ist eben der Weg der Kompromisse, den man gehen muss." Ich lächelte wieder. "Wo ich gerade mit dir spreche: Ihr habt doch Sklaven bei euch zu Hause? Kann ich dich um einen Rat im Umgang mit Sklaven fragen?"

  • Axilla hatte nicht wirklich Ahnung davon, wie die Alexandriner ihre Gesetze machten, von daher konnte sie zu seiner ersten Aussage auch nicht viel sagen. Vielleicht würde der Einwand kommen, aber sie hatte keine Ahnung, von wem der kommen sollte, und in welchem Zusammenhang.
    Da war die zweite frage schon leichter. Axilla hatte schon Zeit ihres Lebens Sklaven. Auch wenn ihre ganze gens mit den Sklaven doch sehr liberal umging und sie gut behandelte, so waren es doch Sklaven. Daher war sie schon gespannt, was jetzt als Frage kommen würde, dass Marcus meinte, sie könnte ihm da eine Antwort geben.
    “Ja, wir haben Sklaven. Und was genau brauchst du für einen Rat im Umgang mit ihnen? Machen deine nicht das, was sie sollen, oder geht es um was anderes?“
    Axilla konnte ja nicht einfach so drauf loserzählen.

  • "Also, ich habe ja noch nie Sklaven besessen. In Han hatte ich Diener, aber Sklaven hatte ich noch nie. Ich habe jetzt erstmal versucht, zu definieren, wie das Verhältnis von Herr zu Sklave ist und kam darauf, dass es dem Verhältnis von Herrscher zu Untertan am Ähnlichsten ist. Die Definition passt, aber handhabbar ist sie nicht. Ich meine, ich kann ja jetzt nicht einen ganzen Gesetzeskatalog für ein paar Sklaven in meinem Besitz machen." Ich dachte kurz nach. "Ähm... ich habe dir noch nicht erzählt, dass Memnos, ein geschäftspartner, mir eine seiner Sklavinnen geschenkt hat, oder? Jedenfalls hat er sie mir geschenkt und das ist ja schon irgendwie seltsam. Aber gut, das stört mich nicht weiter. Nur, wie behandle ich sie angemessen? Respekt ist sicher nicht schlecht, aber wie eine Untertanin kann ich sie eigentlich nicht behandeln. Weil dann wäre sie ja doch quasi frei. Aber wie eine Sache will ich sie nicht behandeln, schließlich ist sie ja ein Mensch. Nur, wie behandelt man sie dann?"
    Jetzt hatte ich einfach drauf los geredet.

  • Uff, das war keine leichte Frage. Vor allem, da Axilla keine Ahnung von Herrschern und Untertanen hatte. Sie war Bürgerin, kein Untertan. Aber Marcus wollte wohl auch nicht, dass sich seine Sklavin vor ihm auf den Boden warf und katzbuckelte, so wie sich das anhörte. Wobei sie den Teil mit den Gesetzen überhaupt nicht kapierte. So saß sie einen Moment lang nur wie erstarrt da, ehe sie blinzelte und scheinbar alles verarbeitet hatte.
    “Öhm, ja, also, weißt du… also, im Grunde kannst du sie behandeln, wie du willst. Also, ich meine, vom Rechtlichen her jetzt. Ähm…“
    Das war vielleicht kein so guter Anfang und klang auch nicht so überzeugend, wie Axilla merkte. Sie versuchte das Chaos in ihrem Kopf noch einmal in geordnete Bahnen zu lenken und sprach erst dann weiter. Einmal wenigstens in der richtigen Reihenfolge mit erst denken und dann reden, das war auch mal eine Erfahrung.
    “Also, meine Familie ist da sehr sanft mit den Sklaven. Viele sagen, man muss Sklaven schlagen, damit sie hören, und darf sich nie bei ihnen bedanken und so. Aber ich mach das eigentlich immer. Also mit bitte und danke und geschlagen hab ich auch noch nie einen Sklaven. Oh, außer Derix, aber da war ich neun und er elf, das ist dann was anderes.
    Also….mein Vater…. Also er sagte immer, Sklaven gehören zur Familie. Und so behandelt man sie auch, als Teil der Familie. Zwar müssen sie schwerer arbeiten und auch die Sachen machen, die man als Herr nicht so gern mal macht, und se können es sich nicht so raussuchen, aber trotzdem sind sie Teil der Familie. Sie stehen unter dem Schutz der Familie, erhalten ihren Platz, Nahrung und Kleidung. Wenn man sie nicht vernünftig verhalten kann, sollte man sie an einen guten Herren weitergeben, damit sie versorgt sind. Und wenn sie das wissen und einem auch vertrauen und das auch können, dann machen sie auch alles für einen, ohne dass man sie bestrafen muss. Und wenn sie wissen, dass ihr Herr oder ihre Herrin notfalls auch das alles mit ihnen durchsteht, was sie machen müssen, machen sie es auch gerne. Sie müssen einen nicht lieben, aber sie müssen einen auch nicht fürchten.“

    Der letzte Teil war ihr schwer gefallen, zu erzählen. Sie sah dabei das Gesicht ihres Vaters vor sich, wie er neben ihr gesessen hatte auf der Steinbank vor ihrer alten Villa in Tarraco. Ihr war fast, als könne sie den Grashalm riechen, den er bei solchen Gelegenheiten immer ausgerupft und in seinen Fingern gedreht hatte. Sie senkte beim Reden den Blick, denn ihre Gefühle gingen Marcus nichts an, sie wollte sie ihm nicht durch den Blick ihrer Augen zeigen. Sie räusperte sich kurz und rückte auf ihrem Schemel zurecht, um gerade wieder zu sitzen.
    “Also, wie du sie behandelst, bleibt letztendlich dir überlassen. Wenn es eine gute Sklavin ist, wird sie auf dich hören, egal, was du machst. Also ich denke nicht daran, wie ihr rechtlicher Status ist, wenn ich mit meinen Sklaven rede. Ich muss sie beschützen, und sie mir gehorchen, und mehr müssen weder sie noch ich eigentlich wissen. Ansonsten behandele ich sie, wie ich jeden anderen auch behandeln würde. Aber ich weiß, dass viele das anders sehen und denken, dass ich da zu nachlässig und zu weich bin. Aber… naja, ich kann dir nur sagen, wie ich das so mache…“

  • Mir fiel da ein Stein vom Herzen. "Also, wenn du Sklaven so behandelst, und das funktioniert, dann habe ich ja Hoffnung. Ich behandle sie nämlich fast genauso. Ich denke, dass ich das dann auch nicht ändern werde. Danke." Ich lächelte erleichtert.

  • “Öhm, ja, bitte…. Gern geschehen.“
    Axilla wusste nicht so recht, was sie da noch sagen sollte. Sie hatte eher damit gerechnet, auch wieder das übliche zu hören. Dass wenn man mit Sklaven zu lasch umging, diese aufmüpfig wurden und nicht gehorchten. Und noch dazu war Marcus ein Mann und hatte eine Sklavin, und da gab es ein ganz breites Gebiet, von dem Axilla nicht die geringste Ahnung hatte. Was sie so auch gar nicht wollte.
    Sie wartete also, ob noch eine Frage oder eine Bitte kommen würde, oder ob Marcus sich verabschieden würde. Sie hatte ja auch noch Arbeit zu erledigen und wollte rasch wieder heim.

  • “Vale“, verabschiedete sich Axilla von Markus und wartete, bis er gegangen war. Dann nahm sie seinen in ihren Augen etwas überzogenen Gesetzesvorschlag vorsichtig in die saubere Hand und trug ihn in Nikolaos’ Arbeitszimmer, damit er nicht doch noch einem Unfall ihrer Schusseligkeit zum Opfer fiel.
    Sie ging danach wieder zu ihrem Platz und schrieb die anderen Briefe von Nikolaos fertig und schickte sie auch gleich mit Boten los. Sie hoffte, dass der Gymnasiarchos bald kommen würde. Zum einen wollte sie mit ihm noch über diesen Gesetzesvorschlag reden, und zum anderen wollte sie dann auch heimwärts.

  • Wenig später kam Nikolaos etwas verschwitzt in das Gymnasion. Er trug - für seine Verhältnisse- sehr einfache Kleidung. Offenbar hatte die Zeit zum Anlegen seiner Amtstracht nicht gereicht. Er hatte sich, nach der Mahlzeit mit Axilla und dem Fremden, zur Ruhe gelegt und war dabei, ohne dass er es gewollt hatte, eingeschlafen. Erst als der Mittag längst vorrüber war, hatte Peistratos es gewagt, ihn zu wecken.


    Im Gymnasion traf er seine Schreiberin an, die sich scheinbar gerade auf den Weg machte.


    "Sei gegrüßt, Iunia Axilla.", sagte er, noch etwas zerstreut. "Entschuldige meine Verspätung..." Warum hatte er um Verzeihung gebeten? Es war ihm unbegreiflich. Dieses Mädchen brachte ihn in Verlegenheit... .
    "Ist in meiner Abwesenheit etwas geschehen?", fragte er. "Hast du die Briefe schon abgeschrieben?"

  • Fast hatte sich Axilla schon entschlossen, zu gehen. Sie wollte nur noch die Briefe für die ungefährlichen Gegenden austragen – also die an Nikolaos’ Gasthaus, auch wenn das für eine Frau auch nicht ganz schicklich sein konnte. Aber gerade, als sie alles zusammengepackt hatte, kam dann doch noch Nikolaos herein, und Axilla fühlte sich ein klein wenig ertappt. Daher bekam sie gar nicht mit, dass sie ihren Arbeitgeber in eine Verlegenheit gebracht hatte, sondern antwortete ihrerseits etwas unsicher.
    “Ähm, ja, chaire. Also, ja, es ist was passiert. Also, nicht schlimmes.“
    Sie atmete einmal noch mal durch, um ihre konfusen Gedanken zu ordnen, als sie dann vernünftig erzählte. Erst denken und dann reden hatte wirklich vorteile, sie sollte es sich langsam angewöhnen.
    “Marcus Achilleos war hier. Ich hab ihm dann seinen Brief gleich mitgegeben, den hatte ich da schon fertig. Er hat einen Gesetzesentwurf vorbeigebracht, über den er mit dir reden möchte, weil er wohl möchte, dass er beschlossen wird. Ich hab ihn auf deinen Tisch gelegt, damit… naja, damit ich nicht versehentlich Tinte draufkleckere.“
    In einer sehr schuldig und schüchtern wirkenden Geste zeigte Axilla ganz kurz ihre Fingerspitzen, an denen schwarze Tintenflecke klebten. Die würde sie heute Abend fein säuberlich abschrubben. Eine römische Dame hatte keine Tintenflecke an den Händen zu haben.
    “Ich hab mich auch mit ihm ein wenig darüber unterhalten. Es geht um eine Verschärfung des Strafrechts…“
    Selbst ein Blinder würde wohl merken, dass Axilla darüber reden wollte, so wie sie sich auf der Unterlippe herumkaute, nervös von einem Fuß auf den anderen trat und dabei mit den Händen leicht rang. Aber sie wollte Nikolaos ja nicht so gleich überfallen, ehe er den Gesetzesentwurf auch nur gelesen hatte. Außerdem hatte sie gar keine Ahnung, ob ihn ihre Meinung dazu überhaupt auch nur in irgendeiner Weise interessierte. Trotzdem hoffte sie, er würde sie fragen oder es würde sich sonst wie die Gelegenheit ergeben.

  • Nikolaos schien nun endlich zur Gänze erwacht zu sein. Die Zerstreutheit wich aus Gesten und Worten. Er raffte die Chlamys, deren Spange verrutscht war.


    "Wann war Markus Achilleos hier?", fragte er und sah die Schreiberin durchdringend an. "Einen Gesetzesentwurf...", fügte er murmelnd hinzu. Die Fingerspitzen, die ihm die Schreiberin präsentierte, würdigte er mit keinem Blick.
    "Sagte Markus Achilleos, ob er meine Einladung annähme?", fragte er. Sein Blick in Iunia Axillas Augen hatte sich weder verändert noch war er gewandert.
    "Dann will ich das Gesuch des Markus Achilleos lesen."
    Er ging in Richtung seines Arbeitsraumes. Im Gehen wandte er sich nach Iunia Axilla um.


    "Folge mir nur. Du hast dich mit ihm darüber unterhalten? Dann wird er dir vielleicht Erklärungen gegeben haben, die im Entwurf nicht auftauchen?"


    Er zog kaum merklich die Augenbrauen hoch und die Stirn in feine Falten. Seine Lippe verzog sich um die Breite einiger Haare, daher auch nur für einen aufmerksam gelenkten Blick sichtbar.


    "Ist dein Gast in der Regia angekommen?", fragte er. Er schürzte kurz die Lippen. Ein feines Lächeln zeichnete sich auf ihnen ab.

  • Schnell folgte Axilla Nikolaos nach. Diese Gelegenheit würde sie sich sicher nicht entgehen lassen, außerdem versuchte sie, die Vielzahl an Fragen ihres Arbeitgebers alle zu beantworten. Da aber immer neue Fragen dazukamen, war das gar nicht so einfach.
    “Er war vor etwas über einer Stunde da. So wie er sich anhörte, wollte er die Einladung wohl annehmen, aber genaueres hat er nicht gesagt. Aber ich denke, das wird demnächst sein, denn er wollte dann mit dir auch über den Entwurf sprechen.“
    Sie war Nikolaos in sein officium – auch wenn er das Wort nicht mochte und davon scheinbar Kopfschmerzen bekam – gefolgt und schloss hinter sich die Tür. Die anderen Schreiberlinge draußen mussten ja nicht alles mithören, und so hatte sie das Gefühl, etwas offener sprechen zu können. Ohne lange auf eine Aufforderung zu warten, setzte sich Axilla einfach auf den freien Stuhl.
    “Ja, Duccius Rufus ist gut angekommen.“
    Axilla musste sich etwas zusammenreißen, dabei nicht zu lächeln. Sie freute sich immer noch über ihre neue Freundschaft, auch wenn diese etwas seltsam zustande kam und kaum drei Stunden alt war. Aber ein Lächeln jetzt hätte vielleicht falsche Signale gegeben, und das wollte sie auf gar keinen Fall. Daher kam sie auch ganz schnell auf den Gesetzesentwurf wieder zurück.
    “Ähm, ja, der Entwurf. Also, ich habe ihn jetzt nicht gelesen, daher weiß ich nicht, was genau drin steht. Er ist ja für dich, und…“ Fremder Leute Post lesen war zwar nicht verboten, aber eben auch nicht besonders nett. Axilla ließ es daher ihre Beweggründe unerwähnt und fuhr einfach fort.
    “Aber wir haben uns darüber unterhalten. Er will jeden, der von einer Straftat weiß und sie nicht meldet, genauso bestrafen, als hätte derjenige die Straftat selber begangen.“
    Axilla ließ den Satz einen Moment lang sacken, denn sie wusste nicht, ob Nikolaos das auch befürworten würde, und sie wollte ihrem Arbeitgeber nicht vor den Kopf stoßen. Schweigen allerdings konnte sie auch nicht.
    “Ich seh da aber ein paar Probleme…“, tastete sie sich daher vorsichtig an das Thema heran.

  • Rasch hatte Nikolaos den Brief gefunden, schließlich lag er gut sichtbar auf dem großen Schreibtisch. Auch viele andere Schriftstücke lagen dort herum, es wurde Zeit, dass der Gymnasiarchos einmal aufräumte, oder aufräumen ließ.


    Behutsam nahm er das Papyrusblatt in die Hände und las es sorgfältig. Nicht lange brauchte er dafür, schließlich war er im Lesen geübt. Er legte es wieder auf den Tisch und suchte nach einer Wachstafel und einem Griffel. Er schrieb den Text noch einmal ab, um ihn mit Bemerkungen zu versehen.


    "Gut, dass der junge Herr seine Verwandten gefunden hat. Er schien etwas ausgelaugt von der Reise zu sein. Ich denke, er war froh darüber, in dir eine solch zuvorkommende Helferin gefunden zu haben.", sagte er frei jeglichen Untertons und damit wiederum durchaus zweideutig, während er schrieb.


    Gesetzesvorschlag von Marcus Achilleos, Bürger der Polis Alexandria und Mitglied der Priesterschaft der Musen und des Apollons:


    "Ich nutze hiermit mein Recht als Bürger Alexandrias einen Vorschlag zur Verbesserung der Sicherheit aller Bürger zu machen. Dieser Vorschlag sieht eine Erweiterung des Strafrechts vor. Man kann jetzt natürlich entgegnen, dass das Strafrecht Roms für die Polis übernommen wurde, doch habe ich bereits juristisch geklärt"


    Geklärt - inwiefern?


    ", dass lokal gültige Ergänzungen möglich sind. Folgenden Paragraphen schlage ich vor:"


    Paragraphen wofür? In die Katastis zu übernehmende?


    "Jedwede Person, die Kenntnis einer Straftat hat und diese nicht den Behörden meldet, ist so zu bestrafen, als hätte sie selbst die gleiche Straftat begangen."


    Das wird nicht durchkommen i.d. Ekklesia!


    "Begründung: Wer Kenntnis einer Straftat besitzt, und sie nicht den Behörden meldet, der unterstützt diese Tat damit implizit. Es ist dabei nicht wichtig, ob man die Straftat nicht meldet, weil man Komplize ist, es einem einfach egal ist oder man Angst hat. Wichtig ist nur, dass man seiner Bürgerpflicht nicht nachkommt. Gesetze haben die Aufgabe, unerwünschtes Verhalten zu bestrafen. Es steht außer Frage, dass die Vertuschung einer Straftat ein unerwünschtes Verhalten ist. Das Nicht-Melden einer Straftat kommt aber einer Vertuschung gleich. Deshalb ist es zu bestrafen. Ebenfalls sollte die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben. Deshalb soll die Strafe der Strafe für die Tat entsprechen."
    Wie ist zu beweisen, dass jemand von einer Straftat gewusst hat? Wer kann in Köpfe sehen, und erkennen, ob Kenntnis von etwas vorhanden ist oder nicht?


    Die Notizen zeigte er seiner Schreiberin nicht. Sie würden nur ihm als Grundlage für ein Gespräch mit Markus dienen.


    Iunia Axilla schien das Bedürfnis zu haben, mit ihm darüber zu sprechen, wie sich nun herausstellte. Sie hatte auch schon unaufgefordert Platz genommen.


    "Ich sehe da im Grunde nur ein Problem: In dieser Form wird der Gesetzesentwurf in der Ekklesia aus tausend Kehlen laut verdammt werden und mit dem Gesetz möglicherweise auch der Antragssteller.


    Ich werde mit Markus Achilleos darüber sprechen. Sollte er darauf bestehen, den Entwurf zu belassen, wie er ist, so werde ich es jedoch unverändert auf die Tagesordnung der nächsten Ekklesia setzen.


    Mag ein Antrag aussichtslos scheinen und auch viele Mängel oder einen grundsätzlichen großen Mangel aufweisen, so muss er dennoch vom alexandrinischen Volk gehört werden.


    Es ist nicht meine Aufgabe, freie Bürger von ihrem Willen abzuhalten. Ich kann lediglich Ratschläge erteilen. Ob sie angenommen werden oder nicht, das liegt nicht in meiner Hand.


    Nun aber sage mir, welche Schwierigkeiten du in diesem Antrag siehst."

  • “Ähm… ja, kann sein“ kommentierte Axilla Nikolaos’ Worte zu Rufus nur knapp. Irgendwie war sie sich nicht sicher, was sie da sagen sollte. Sie konnte ja kaum losplappern, dass sie beide Freundschaft geschlossen hatten auf den paar Schritten zur Regia. Wie würde das denn aussehen? Außerdem verstand Nikolaos sich mit Urgulania, und die sollte das nicht von ihm erfahren. Abgesehen davon, dass es da ja auch gar nichts zu erfahren gab. Axilla würde den Fluch, den sie um sich herum verbreitete, nicht noch einmal auf einen Mann abladen. Sie wollte endlich wieder einen Freund, der blieb. Bei jeglichem romantischen oder sonstigem Gefühl würde Rufus nur weggehen oder sterben, davon war Axilla überzeugt. Abgesehen davon kannten sie sich ja auch erst so kurz.


    Die kleine Ansprache zu dem Gesetz aber schüchterte Axilla noch ein wenig mehr ein. Sie konnte sagen, was sie wollte, das Ding würde erstmal vorgelegt werden. Sie fand das schrecklich, auch wenn Nikolaos meinte, dass das so nie und nimmer angenommen werden würde.
    “Ähm, ja, also, das Problem… naja, eigentlich sind es ja mehrere Probleme. Eins hab ich mit Marcus auch schon besprochen. Man kann ja nicht so genau beweisen, wer was weiß und wer nicht, und ich finde Foltern da nicht so zuverlässig. Aber er meinte, das ginge schon, auch ohne Foltern. Ich glaub aber trotzdem, dass das nicht so gut zu beweisen wäre.
    Und das andere seh ich bei den Familien. Also, bei denen von den Tätern. Ich meine, ein Familienoberhaupt ist ja dafür verantwortlich, was seine Familienmitglieder machen, nicht? Aber wenn man dann die ganze Familie bestraft, wenn einer etwas anstellt, wer soll dann Wiedergutmachung leisten? Ich meine, wer zahlt dann die Strafe, wenn alle schon so bestraft worden sind? Und man kann ja auch nicht alle wie den Täter bestrafen, weil sonst muss man ja auch eine ganze Familie kreuzigen oder Hand abschlagen oder…“

    Axilla machte eine etwas hilflos wirkende Geste. Ihr widerstrebte der Gedanke, die ganze Familie eines einzelnen Menschen zu bestrafen, wenn nur einer daraus einen Fehler begangen hatte. Axilla war schließlich nicht blind, auch wenn sie manchmal grenzenlos naiv zu sein schien. Aber sie konnte doch nicht der Mutter eines diebischen Kindes, was einfach Hunger gehabt hatte, weil es arm war, dieselbe Strafe zuteil werden lassen, als hätte sie gestohlen? Das würde das ganze ja nur verschlimmern und noch mehr Menschen hervorbringen, die nicht mehr richtig arbeiten konnten.
    “Aber bei Gesetzen kann man doch nicht so viele Ausnahmen formulieren, oder? Dann muss man Greise und Kinder ja auch genauso bestrafen, und alle, und…. Ich glaube, das würde Rhakotis entweder entvölkern oder einen großen Aufstand verursachen. Wahrscheinlich beides.“
    Axilla sah etwas verlegen auf. Normalerweise hielt sie ja nicht so viel von dieser weichherzigen Auslegung verschiedener Gesetze. Dafür waren Gesetze ja schließlich da, damit man sie befolgte. Sie kam sich da schon beinahe vor wie diese verrückten Christianer, die immer predigten, man solle doch nur noch lieb und nett zueinander sein und sich am besten noch nichtmal gegen Gewalt wehren. Dabei sah sie ja durchaus die Notwendigkeit von Kriegen und Militär und all dem. Aber das hier war irgendwie die Grenze.

  • "Deine Einwände sind durchaus richtig.", sagte Nikolaos. "Auch ich sehe eine Schwierigkeit darin, Schuld nach einem solchen Gesetz zweifelsfrei zu beweisen.
    Es ginge lediglich - und da auch nicht zweifelsfrei - in einem Fall, in dem ein Mensch dabei gesehen wird, ein Verbrechen zu beobachten, und er nicht zur Hilfe eilt oder Hilfe holt. Doch dies ist dann ein völlig anderes Gesetz."


    Er sah Axilla an.


    "Wärst du so gut, Marcus Achilleos nachzueilen und ihm zu sagen, er solle mich unbedingt in den nächsten Tagen aufsuchen? Ich möchte diesen Gesetzentwurf keineswegs hinauszögern, doch bevor ich ihn in das Koinon trage, und dann in die nächste Ekklesia, muss ich mit Marcus darüber sprechen."


    "Du findest ihn wahrscheinlich in seiner Akademie in Rhakotis.", fügte er hinzu. Und, nach einigen Augeblicken: "Ach ja, lasse dich von einem Staatssklaven begleiten. Selbst am hellichten Tag ist dieses Viertel für anständige Leute, und vor allem für junge Mädchen, höchst gefährlich."

  • Offenbar sah Nikolaos wirklich eher das Problem in der Beweisbarkeit denn in der moralischen Frage, ob man aus Leid geborene Untätigkeit bestrafen solle. Aber Axilla war schon froh, dass er das ganze wenigstens ein wenig so sah wie sie und sie damit nicht ganz allein stand. Auch wenn sie immer noch ein sehr mulmiges Gefühl hatte.
    “Zu seiner Akademie in Rhakotis? Ähm, wenn der Sklave den Weg kennt, natürlich. Ich war da noch nie. Eben weil es keine Gegend für junge Frauen ist.“
    Gegen den Begriff Mädchen wehrte sie sich ein wenig. Sie war ja kein Kind mehr, sie war eine erwachsene Frau und eigenen Rechtes, darüber hinaus Inhaberin eines Betriebes und nicht zuletzt sein Scriba. Da verlangte schon allein der Stolz, dass sie sich als Frau bezeichnete.
    Axilla stand also auf, um sich dann auch gleich auf den Weg zu machen. Wenn das erledigt wäre, wäre sie dann auch wohl fertig für heute und konnte dann nach Hause. Hoffentlich.

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