Im Schatten der Bäume

  • Nikolaos hatte in der Frühe das Museion aufgesucht. Er setzte sich ins Gras, den Rücken an den Stamm einer mächtigen, wohl einige hundert Jahre alten Zeder gelehnt. Noch war die Luft wohltuend kühl. Der Staub der Straße kam nicht in die Gärten des Museions. Auch der Lärm blieb draußen. Auch seine Geschäfte und Pflichten verfolgten ihn nicht bis hierhin. Er schloss die Augen. Über ihm raschelten die Blätter und kreischten oder sangen, je nach ihrer Beschaffenheit, die Vögel. Die Vögel mit dem farbenprächtigsten Gefieder haben oft die Stimme von herrischen, alten Weibern. Die grauen, unscheinbaren Vögel haben die Stimmen von sanftmütigen Mädchen... . Es schmückt sich, wer nicht blüht, wer blüht, der schmückt sich nicht. Die Schminke verdirbt das zarte Gesicht, die Schminke macht das grobe Gesicht nicht zart. Im Schatten wachsen oft die schönsten Blumen, die nicht von der Sonne wolllüstig und hochmütig gemacht werden... . Nikolaos erschauderte. Bei den Göttern! Er wollte nicht enden, wie Nikodemos, der kein Licht mehr ertrug und keine Stimmen. Der in seinem Haus Stunde um Stunde am Brunnen lehnte und sich nicht rührte. Der kaum noch sprach. Der seine Katzen sein Essen vorkosten ließ... . Oh Isis! Oh gute Herrin des Meeres! Oh Herrin der Nacht! Oh Heilerin... .
    Ein Windstoß fuhr durch Nikolaos Haar und seine Kleidung. Ein Blatt fiel auf seine Stirn hinab. Es kitzelte ihn sanft. Er würde eine Reise machen, nach dieser Pyrtanie vielleicht oder später. Ferne Gestade lockten ihn mit unhörbaren Klängen, mit unsichtbaren Farben und Gerüchen, die er spüren konnte aber nicht schmecken oder riechen.
    Wehe dem, der die Götter erzürnt! Wehe dem, der den Olymp besteigen möchte. Er kommt dabei um, er kommt dabei um... . Die Blätter raschelten wie zur Bestätigung. Er kommt dabei um... .
    Seth hatte ihm gelegentlich seine Kunstwerke gezeigt. Tote, die schöner waren, als die Menschen es gewesen waren, die sie gewesen waren. Die Haut konnte man, nachdem sie Pergament geworden war, wie Buchseiten bemalen. Aus alten Männern hatte Seth erstarrte Jünglinge in den grellen Farben von Marmorstatuen gemacht.
    Der anmutigste Vogel hat ein graues Gefieder... .
    Nikolaos sah sich selbst auf dem groben Holztisch des Seths liegen, in Leinen gebettet und in Balsam und Duftöl getränkt. Auf seinem Gesicht lag eine Maske, die das Gesicht eines Jünglings zeigte, eines Jünglings mit edlen Zügen. Seth beugte sich zufrieden über sein Werk und richtete die Mohnblüten, die in einem Kranz um das Haupt der Mumie gelegt waren. Mohnblüten, blaurot leuchtend im Licht der Lampen in der finsteren Werkstatt des Seths, dort, wo die immer Nacht war, dort, wo die Schatten wuchsen und zu Gespenstern wurden... .

  • Ich war ebenfalls recht früh aufgestanden. Nachdem ich im Gästezimmer meine tägliche Meditation absolviert hatte und mein Geist dadurch klar und gereinigt war, nahm ich mein Jian und ging in die Gärten des Museions. Den Seidenmantel hatte ich zwar nicht an, wohl aber die weiße Kleidung mit den weißen Schuhen. Ich bemerkte niemanden außer mir, so dass ich das Jian aus seiner Scheide zog und langsame Svhwertkampfübungen machte. Es ging hier nicht um den Kampf, sondern um die Bewegungen, um Körper Geist in perfekten Einklang zu bringen. So übte ich Abwehr- und Angriffschläge in fließenden Bewegungen, wobei ich immer wieder die Richtung änderte und genauestens auf die Beinarbeit achtete. Dabei erhöhte ich immer stetig die Geschwindigkeit, bis ich auf volle Kampfschwindigkeit gekommen war. Die schnellen Bewegungen der Klinge in der Luft führten zu kurzem, scharfen Summen. Ich war so konzentriert, dass mit gar nicht auffiel, dass jemand unter einem Baum saß.

  • Luft wurde in der Nähe von Nikolaos Kopf bewegt, es summte und zischte. Er schlug die Augen auf und erschrak. Als er sich wieder gefasst hatte, richtete er sich auf. Sein Blick war zornig, sein Mund war wie zu einem Grinsen jener hundsartigen Wesen verzerrt, deren Gebiss ein Bein nicht mehr loslassen, bis es abgenagt ist.
    "WAS FÄLLT DIR-", stieß er hervor. Doch im nächsten Moment unterdrückte er den Fluch, den er hatte aussprechen (besser ausspeihen) wollen. Er erhob sich und ging auf den Mann zu, den er soeben als den neuen Gast, seinen Gast erkannt hatte. Zwar schnaubte er nicht vor Wut und ballte auch die Fäuste nicht, solche Zeichen hätte er seiner als nicht würdig empfunden, doch der Zorn war dem kleinen, jungen Mann deutlich anzusehen. Seine Augen schienen, wenn man es einmal so ausdrücken wollte, Gift zu speihen.
    Habe ich mich gar in der Morgendämmerung in eine Gladiatorenschule verirrt?", zischte Nikolaos ätzend. Das lateinische Fremdwort sprach er in einem Ton aus, der vor Verachtung triefte."Ich hatte mich im Garten des Heiligtums der Musen und des Apollons gewähnt... .", fügte er noch leise hinzu. Seine Stimme hatte etwas lauerndes, ebenso sein Blick. Nun blickte er Marcus Achilleos direkt in die Augen. Zwar war der Jüngere der beiden Exil-Athener deutlich kleiner, jedoch hatte er jetzt den Habitus des Hausherrens. Sein Blick wanderte von den Augen seines Gegenübers zu dessen Händen und dem eigenartig geformten Schwert, das diese hielten. Nikolaos blickte Marcus nun wieder in die Augen, durchdringend. Er schwieg. Er hatte seinen Zorn inzwischen gebändigt. Schließlich wollte er den Gast nicht gleich vergraulen. So kostbar war das Wissen, dass Marcus Achilleos in sich trug... .
    "Also gut.", meinte Nikolaos, streng, jedoch gemäßigt im Ton. "Schaffe das da-" Er deutete mit einem etwas angewiderten Ausdruck auf das Schwert. "-fort. Dann komme zurück und ich werde dir Unterricht erteilen." Nikolaos hatte sich nun wieder beruhigt. Ruhig wartete er darauf, dass der Gast seiner Anweisung folgen würde. Die erste Unterichtseinheit, die er dem anderen Athener geben würde, würde sich mit einigen Verhaltensregeln beschäftigen... . Etwas beschämt musste Nikolaos jedoch sich eingestehen, dass er selbst schon Dinge getan hatte, die an Frevel grenzten. Der Gast konnte es vielleicht nicht einmal besser wissen... .
    "Dieses eine Mal sei dir verziehen.", fügte er so beschwichtigend hinzu und zwang sich sogar zu einem milden Lächeln. Der Gast wurde ihm bei längerem Nachdenken zunehmend wertvoller, und wertvolle Haustiere erschlägt man nicht, auch wenn sie auf das Bett koten... .
    "Aber merke dir für die Zukunft: In diesen Gärten werden keine Waffen geschwungen. Dies ist ein Heiligtum, vergiss das nicht.", fügte er streng hinzu. "Und beeile dich, ich möchte sogleich mit dem Unterricht beginnen." Nikolaos ließ sich wieder im Schatten der Zeder nieder. Doch er blieb aufrecht sitzen und ließ seinen Blick auf Marcus ruhen.

  • "Verzeihung," sagte ich verlegen. Mir wurde sofort klar, dass ich hier einen großen Fehler begangen hatte. Es war nicht nur ein Verstoß gegen die guten Sitten, womit ich die Harmonie vor Ort durcheinander gebracht hatte, nein, viel schlimmer, es war auch ein Fehlverhalten gegenüber den Göttern, womit ich auch die Harmonie zwischen Himmel und Erde gefährdete. Ich steckte das Schwert in die Scheide, doch bevor ich ging, wollte ich mich zumindest noch kurz erklären. "In all den Jahren in der Ferne ist mir das Schwert so sehr ein Teil meiner selbst geworden, dass mir gar nicht mehr in den Sinn gekommen ist, dass es sich dabei eigentlich um eine Waffe handelt. Es wird nicht mehr vorkommen. Ich hoffe, dass ich nach ein paar Wochen die guten attischen Sitten wieder verinnerlicht habe. Bis dahin wäre ich dankbar, wenn ich auf jede Unsitte, egal wie unbedeutend oder geringfügig sie ist, hingewiesen werden. Mit Ausnahme der Kleidung. Das ist mir bewusst und wird bei Gelegenheit geändert."
    Ich verbeugte mich kurz und brachte das Jian ins Gästezimmer. Danach kehrte ich zurück. "Ich bitte erneut um Entschuldigung, diesmal für die Verzögerung." Nach einer kurzen Verbeugung blieb ich stehen. Nicht im Schatten, sondern in der in der an Kraft gewinnenden Sonne. Als Stadtgouverneur hätte ich einen Untergebenen, dem ein ähnliches Missgeschick wie mir unterlaufen wäre, einen ganzen Tag lang in der Sonne stehen lassen. Allerdings war es hier deutlich wärmer, weshalb ich beschloss, dass der ganze Vormittag in der Sonne für mich ausreichend wäre.

  • Während Marcus den Gegenstand seines Frevels fortbrachte, lachte Nikolaos leise über die Erinnerung an seine eigenen Untaten, so wie die, dass er einmal einen Gast des Museions, der ihn beleidigt hatte, fast verhaftet hätte. Sein Lehrer, der gute Theodoros, hatte, zurecht zugegeben, gewütet wie ein blitzschleuderner Zeus.
    Dann hatten sich einige Schüler zu ihm gesellt und Nikolaos musste, um eine gewisse Aura der Würde zu bewahren, das Gelächter eindämmen und in die geordneten Bahnen eines würdevollen Lächelns lenken. Nikolaos wartete mit dem Unterricht, bis sein persönlicher Gast zurückgekehrt wäre.
    "Setze dich doch.", meinte er nun. "Mache es dir bequem. Wir beginnen gleich mit dem Gespräch über eine berühmte Rede-" Er wühlte in den Blättern, die auf seinem Schoß und um ihn herum lagen. Als er gefunden hatte, was er brauchte, legte er das Papyrus umgedreht oben auf den Stapel. "Hier werde ich vor allem verfeinerte Redekunst, die Sprache der Rhomäer, und andere freier Männer würdiger Künste lehren, sowie etwas Ideenlehre und Naturphilosophie. Wenn du deine Kenntnisse über unsere Sitten und Gebräuche gewissermaßen erneuern möchtest, solltest du meine Unterrichtsstunden im Gymnasion aufsuchen" Nikolaos lächelte freundlich. Sein Ärger war längst verraucht. Dann wandte er sich wieder an die gesamte Runde der Schüler, die im Gras vor ihm saßen.

  • Nun nahm er das Papyrus auf und las.
    "Die meisten Redner, die früher hier gesprochen haben, loben denjenigen, der durch das Gesetz diese Rede der Beerdigung beigefügt hat; denn ein solcher Nachruf zieme sich an dem Grab der im Krieg Gefallenen. Mir dagegen schiene es ausreichend zu scheinen, wenn Männer, die sich durch die Tat bewährt haben, die ehrenvolle Anerkennung gleichfalls durch die Tat gewährt würde, wie es in der Tat hier durch dieses öffentliche Begräbnis geschehen ist, und wenn man nicht die Verdienste vieler in die Hand eines einzelnen legen wollte, so dass sie danach glauben finden, je nachdem er gut oder minder gut gesprochen hat."
    Nikolaos hatte die Rede geschickt betont. Durch seine Erfahrung in öffentlichen Dingen hatte er auch eine gewisse Erfahrung in der Redekunst.
    "Kommt jemandem dies bekannt vor?", fragte er in die Runde. "Dies ist natürlich nur der erste Teil, es folgen noch viele weitere. Doch zunächst wollen wir uns hiermit beschäftigen. Also: Zunächst einmal: Wer ist der Redner?"

  • Ich hatte es vorgezogen, stehen zu bleiben. Disziplin war immerhin in den letzten Jahren die Grudnlage meines Lebens gewesen. Ich hörte mir die Worte genau an. Es war lange her, dass ich in Athen unterrichtet wurde und die Texte, die mein Lehrer mich lernen ließ waren nicht mehr absolut präsent in meinem Kopf, wohl aber der Stil mancher Autoren. Ich schloss die Augen, um besser nachdenken zu können. Dann glaubte ich, den passenden Namen gefunden zu haben. "Ich denke, dass der Redner Perikles ist. Mit Sicherheit kann ich es aber nicht sagen." Fragend sah ich Nikolaos an.

  • Was blieb der Mann stehen? Seltsame Sitten waren es, die Marcus aus dem fernen Morgenland mitgebracht hatte. Jedoch unterließ Nikolaos es, ihn ein zweites Mal dazu aufzufordern, sich in die Runde zu setzen. Als einige der Schüler zu tuscheln und leise zu lachen anfingen, fuhr Nikolaos mit einem Zischlaut dazwischen.
    "Ruhe jetzt, ihr drei", sagte er. Dann wandte er sich wieder Marcus zu.
    "Ganz Recht, Markos. Da du Athener bist, wirst du sicher auch erzählen können, welche Taten dieser Perikles vollbracht hat. Aufgezeichnet hat die Rede übrigens Thukydides, wohlgemerkt der Schrifsteller Thukydides, nicht der Staatsmann. Doch jetzt wieder zu Perikles."
    Nikolaos sah Marcus abwartend an. Dieser schien sich als Musterschüler zu entpuppen. Ein Windhauch fuhr durch das Geäst und die Blätter der Zedernkrone über ihnen. Vögel kreischten, sangen, quietschten, gurrten, schmatzten, röchelten. Was war die Vielfalt der menschlichen Stimmen gegen die Vielfalt der Tierstimmen? Allerdings waren die Vögel wiederum nicht dazu begabt, Reden zu halten oder Gedichte vorzutragen. Oder aber es gab eine Vogelsprache? Man sagte den Tieren zwar nach, sie seien nicht bedacht mit der Gabe zu denken, sie dachten nur den Moment weit, in dem sie gerade lebten, das hatte schon Cicero gesagt, der es allerdings geschickt gestohlen hatte. Wie eine Elster über einen Schmuckkasten, der offen am Fenster steht, war der Römer über die Werke von berühmten und weniger berühmten Autoren hergefallen. Dabei konnten die Römer zu Ciceros Zeiten noch nicht einmal etwas schreiben, was über Bestellungen und Listen hinausging, diese Barbaren. Nikolaos musste grinsen. Dann kehrte er gedanklich wieder zu Perikles zurück und zu Marcus' Antwort, auf die er wartete.

  • Oha, da wurde es schon schwieriger... die vollständige Liste aller Taten des Perikles hatte ich nicht mehr im Kopf. Also versuchte ich, wenigstens die bedeutensten Taten aufzusagen.
    "Ich werde einmal mit den wichtigsten militärischen Aspekten anfangen. Perikles sorgte dafür, dass die Flotte Athens die stärkste Flotte des Meeres blieb und sicherte damit die Vormacht des attischen Bundes und die athens innerhalb des Bundes. Er versetzte der persischen Flotte nach der Seeschlacht bei Salamis auf ihrer Flucht den Todesstoß, bestrafte das aufsässige Samos und zwang es, für die Kosten der Strafaktion aufzukommen. Damit sicherte er auch den Zusammenhalt des Bündnisses. Außerdem befestigte er Piräus mit einer Mauer. Politisch baute er die Vormacht Athens stetig aus. Des weiteren verdankt ihm Athen den Bau des Parthenons, der Propyläen und weiterer Gebäude, die weithin als Zeichen der Macht und Größe meiner Heimatstadt bekannt wurden. Er hat diese Gebäude zwar nicht selbst entworfen, wohl aber die Polis von deren Bau überzeugt. An mehr erinnere ich mich im Moment nicht. Ich denke, dass ich mindestens die Hälfte vergessen habe."

  • Wohlwollend hörte Nikolaos seinem -älteren- Schüler zu. Schließlich nickte er. "Das ist zunächst ausreichend viel über Perikles. Wir können im Anschluss noch weiter über ihn sprechen und auch über die Vorwürfe der Tyrannis, die ihm viele Neider gemacht haben und die ihm immer noch gemacht werden, nun da, so traurig es mich stimmt, die ruhmreichsten Zeiten Athens vorrüber sind. Aber wir wollen nicht zu weit von der Rede abschweifen. Weiß jemand, zu welchem Anlass Perikles sie gehalten hat?" Er blickte sich in der Runde um, doch schielte etwas zu Marcus hinüber. Dieser würde es sicher wissen, glaubte Nikolaos. "Dies sollten wir gewissermaßen im Hinterzimmer des Geistes behalten, wenn wir gleich fortfahren."

  • Ich beschloss, mich zurückzuhalten. Würde ich stets die Antworten nennen, dann würde ich damit die anderen Schüler letztlich demütigen, indem ich ihnen die Chance nahm ihr Wissen zu zeigen. Da es jedoch darum ging, dass alle ihr Gesicht wahren, sagte ich nichts. Schließlich war ich hier nur Gast.

  • Ein Schüler:


    Ein Schüler in der Runde sah Nikolaos fragend an. Als dieser ihm mit einem Nicken das Wort erteilte, begann er. Anfangs zwar etwas zögerlich, jedoch steigerte er sich in eine Art Tirade. Offenbar war der Junge Athener oder aber er wusste, dass Nikolaos ein solcher war.
    "Die Rede hielt Perikles am Ende des ersten Jahres des schrecklichen Krieges, den die hinterhältigen Spartaner gegen die ehrenhaften Poleis des Athener Seebundes und gegen das große und mächtige Athen selbst führten. Die rohen, groben Spartaner und ihre speichelleckenden Kettenhunde, ihre Verbündeten, sind in diesem Krieg über alles hergefallen, was einen Wert hatte und was den Anstand besaß, sich gegen die Tyrannei der wilden Spartaner aufzulehnen. Gleich den Skythen und den Sakern waren zu dieser Zeit die plündernden Horden der Spartaner... ."

  • "Und welchen Zweck verfolgte Perikles mit der Rede?", unterbrach Nikolaos den Schüler. Der Gelehrte war belustigt von dem Eifer, mit dem der Junge die Spartaner verurteilte. Er selbst sah die Sache etwas humorvoller, lag sie doch Jahrhunderte in der Vergangenheit.

  • "So so", meinte Nikolaos listig. "Das werden wir noch herausfinden." Er sah den Schüler an. "Ich fürchte, mein Lieber, du machst es dir ein wenig zu einfach. Zwar ist es die Aufgabe von Schrifstellern und Redner, Sachen einfach und klar darzustellen, doch darunter sollte die Wahrhaftigkeit nicht leiden. Und obgleich ein kluger Mann einfach und klar sprechen sollte, heißt dies noch lange nicht, dass er einfach denken soll. Ein Redner oder ein Schreiber soll es anderen einfach und verständlich machen, nicht aber sich selbst." Er lächelte gutmütig. "Zurück zur Rede. Ich werde den ersten Abschnitt noch einmal vorlesen, und ihr werdet mir sagen, worum es darin geht, was Perikles sagen will und wie er es sagt." Er ließ den Blick über die Gesichter der Schüler wandern, auch über das des aus für Nikolaos unerklärlichen Gründen noch immer stehenden Marcus Achilleos. Dann begann er. Als er geendet hatte, sah er sich um nach Eifrigen, die etwas sagen wollten.

  • Ich dachte über die Worte nach. Nach meiner Erfahrung in Han kam es vor allem auf das Gesamtbild an. Deshalb wäre eigentlich die komplette Rede sinnvoll gewesen. Ich hatte sie auch mal lernen müssen, aber leider wieder vergessen. Andererseits war mir die Person des Perikles bekannt. Ich erhob nachdenklich meine Stimme.
    "Wenn ich mich kurz fasse, dann geht es darum, dass man durch eine Tat stets die angemessene Ehrung der Tätigen erhalten kann, weil die Tat sichtbar ist. Die Rede jedoch ist es nicht, denn das Geschick oder die Intention des Redners kann die Taten der Geehrten falsch oder unbedeutend erscheinen lassen oder auch glorreich und heldenhaft. Es ist letztlich so, dass Worte selbst aus einer panischen Flucht einen wohlgeordneten taktischen Rückzug machen können oder aus einem Flankenangriff einen feigen Hinterhalt. Deshalb soll man keine Reden für die Gefallenen halten, sondern sie lieber nur durch die Tat des ehrenvollen Begräbnisses ehren. Und vor allem soll man nicht den Redner ehren, wenn es um die Gefallenen geht."

  • Nicht ohne eine gewisse Wertschätzung nickte Nikolaos. Natürlich aber war er keineswegs zufrieden mit der Antwort seines Gastes. Er pflegte einen Eifer, der ihn gewissermßaen zwang, nicht nur die Oberfläche anzukratzen, sondern tief in den Geist einzudringen, so schmerzhaft es die Schüler empfingen mochten. Nikolaos hatte in einigen Dingen einen Fanatismus angelegt, den er nicht mehr ablegen konnte, auch dann nicht, wenn ihn in einsamen Stunden der Hochmut verließ.
    "Und warum dünkt und stellt sich dar der Redner als bescheiden?", fragte er, nicht ohne einen eigenartigen listigen Zug in der Stimme.

  • "Ich weiß es nicht." Meine Antwort kam ohne jede Verlegenheit. Schließlich konnte man nicht alles wissen und ich hatte gelernt, dass es denjenigen ehrt, der um seine Unkenntnis weiß und offen Stärke zeigt, indem er das zugibt. "Aber ich bin ja auch hier, um zu lernen."

  • Nikolaos sah Marcus Achiileos einige Zeit an.
    "Das werden wir, im Laufe der Rede, herausfinden. Um etwas vorwegzunehmen: Der werte Perikles ehrt nicht nur die Gefallenen, sondern geht irgendwann zu einem ganz anderem Thema über, was vielleicht eher seine eigenen Taten betrifft."
    Nikolaos lächelte listig. Dann nahm er das Papyrus zur Hand.
    "Denn es fällt schwer, da in einer Rede das Angemessene zu treffen, wo man mit genauer Not auch nur für die einfache Tatsache rechten Glauben findet. Denn wenn der Zuhörer, der Augenzeuge gewesen und von Wohlwollen erfüllt ist, vielleicht glauben möchte, dass die Worte des Redners hinter seinen Wünschen und hinter seinem Wissen zurückbleiben, so erblickt derjenige, der nicht zugegen gewesen ist, aus Missgunst darin eine Übertreibung, sobald er etwas hört, das über seine eigene Kraft hinausgeht. Denn so weit ist das anderen gespendete Lob erträglich, als jeder sich für fähig hält, gleichfalls etwas von dem zu leisten, was er gehört hat; was aber darüber hinaus geht, betrachtet man sofort mit Missgunst und daher auch mit Misstrauen. "
    Er blickte in die Runde.
    "Möchte jemand etwas dazu sagen?"

  • Dieser Teil war schon wesentlich schwieriger. Mir kamen zwar etliche mögliche Deutungen in den Sinn, die aber allesamt den Nachteil hatten, dass sie zu viele Annahmen voraussetzten. Deshalb schwieg ich lieber.

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